Satu Mare. Bis vor 36 Stunden kannte ich diese Stadt im Nordwesten Rumäniens noch nicht. Doch nun sitze ich auf dem Rücksitz eines BMW, folge dem Mannschaftsbus des 1. FC Lok Leipzig, der 49 ukrainische Kinder und Betreuer eines Kinderheims in eben jenem Satu Mare abholen soll.

Mariupol ist mir stattdessen seit ein paar Tagen gut bekannt. Die belagerte Stadt am Asowschen Meer ist die Heimat der Kinder, die – wie ich hörte – in einer Nacht-und-Nebel-Aktion geflüchtet sind. Zwischen Mariupol und Satu Mare liegen 1.500 km. Noch einmal 1.500 Kilometer werden die Kinder, wenn alles klappt, mit dem Bus nach Lage bei Bielefeld fahren und dann 3.000 km von zu Hause entfernt in Sicherheit sein.

David Albrecht ist eigentlich Malermeister. Nun steht er in der dunklen Nacht in Leipzig-Probstheida, schwätzt mit den Verantwortlichen des Vereins, den Busfahrern und Anna. Sie hat den Kontakt zu Lok hergestellt. Ihr Chef hat Lok bei einem Bauprojekt unterstützt, daher wusste Anna, dass Lok sich gern an einer Hilfsaktion für die Ukraine beteiligen wollte.

Wie Anna eigentlich David kennenlernte, habe ich nicht herausgefunden und mir ist es eigentlich auch nachts um 2 Uhr ziemlich egal. Es ist klar: Der Bus rollt in einer Stunde los und dann geht es um ein ruhigeres Leben für die Kinder.

Schon am Abend zuvor hat Anna mit Ehrenamtlichen des 1. FC Lok den Bus beladen. Der Laderaum ist voll mit Hilfsgütern. Vor allem haltbare Lebensmittel und Hygieneartikel stapeln sich dort. Nudeln, Konserven, Riegel und Getränke.

Was Sponsoren und Fans des Vereins binnen 24 Stunden herangeschafft und an Sachspenden eingeworben haben, wird in Satu Mare abgeliefert. Wo und wie genau weiß noch keiner. Einen Rückruf von den Maltesern, die vor Ort sind, gab es noch nicht. „Es wird sich schon was finden“, lautet die einhellige Meinung.

Weil der Laderaum nicht ausreichte, stehen auch zwischen den Sitzreihen Getränke und Lebensmittel, selbst in der Gepäckablage ist kaum noch Platz. Im hinteren Teil gibt es Vehikels liegen Verpflegungsbeutel für die Kinder, für jedes Kind eine Kuscheldecke, ein paar wenige Süßigkeiten, ein Kuscheltier und ein Nackenkissen. Alles scheint gut durchdacht und vorbereitet.

Aber was uns vor Ort erwartet, ist keinem so richtig klar und beschäftigt die Fantasie des Einzelnen. Wie sind Kinder und Erwachsene drauf, wie viele Menschen sind in Satu Mare, ist die Stadt voll mit Flüchtlingen, gibt es endlosen Stau an der Grenze, Probleme mit den Dokumenten, sind Kinder krank oder muss gar jemand in Rumänien zurückbleiben?

David hat drei Freunde mitgebracht, einer spricht Rumänisch und alle sprechen sie Russisch. Vor Ort ist eine Bekannte seiner Schwester. Die Freunde sollen die drei Autos, mit denen das Kinderheim aus Mariupol auf einer mehrtägigen Reise geflüchtet ist, nach Deutschland fahren. „Wir haben aber nicht kommunizieren können, was für Autos das sind und auch nicht in welchem Zustand sie sind“, so David.

Klar ist: Es waren ursprünglich sieben Autos. Seine Freunde wärmen sich derweil im VIP-Raum des Vereins, auch in Rumänien werden Minusgrade erwartet und dazu auch Schnee. Anna gibt eine letzte Einweisung für Busfahrer und Begleiter, alle sitzen oder stehen im Halbkreis.

Wichtig: Die Grenzer vorher telefonisch informieren, dass wir bald da sind, damit sie uns zügig durchwinken. Mehrere Schilder „Hilfskonvoi“ auf Deutsch, Englisch, Rumänisch und Ukrainisch kleben bereits an den Busscheiben. Der genaue Zeitplan ist unklar.

Ursprünglich haben wir ohne eine Übernachtung geplant, nun ist von einer Nacht in einer Pension die Rede, damit sich die drei Busfahrer ausruhen können. Die grobe Linie ist klar, die Feinheiten müssen improvisiert werden. Vor Ort war noch niemand. Aber wir haben ja auch 1.150 Kilometer Zeit, noch mal alles zu durchdenken.

Ich sitze im Begleitfahrzeug. Unsere Aufgabe ist im Detail ebenso noch etwas unscharf: Kommunizieren, falls rumänisch nicht ausreicht, anpacken beim Ausladen, helfen, wo geholfen werden muss, begleiten, berichten, zu neudeutsch sind wir am Ende troubleshooter und im Namen des Vereins unterwegs.

Den ersten kleinen Einsatz gibt es in Tschechien. Erste Pause, erste Tankfüllung, erstes Problem. Die Pumpe an der Zapfsäule funktioniert nicht mehr. Erst nach 20 Minuten hat die Tankwärtin eine Idee, die Reise kann weitergehen, mitten durch Prag, über Brünn nach Bratislava. Von dort nach Ungarn.

An jeder Grenze heißt es halten und zwei Vignetten kaufen: eine für den Bus, eine für den PKW. Ungarn ist ein weites Land, wir durchqueren es von West nach Ost und erfahren in Budapest, dass der Diesel rationiert wurde. Pro ausländisches Auto über 3,5 t gibt es nur 50 Liter und der Literpreis ist auch um 200 Forint (50 Cent) höher als für Benzin und Super. Warum, erfahren wir nicht und wir sind auch froh, dass der Bus noch soviel im Tank hat, dass es bis nach Rumänien reichen wird.

Die Fahrt fühlt sich gar nicht so lang an, wie man denkt. 21:30 Uhr sind wir an der ungarisch-rumänischen Grenze. In unsere Richtung geht es ruhig zu, ein paar Autos sind da, wir warten keine zehn Minuten. David ist kurz zu unserem Auto gekommen und wird von einem Deutschen hinter uns angesprochen. „Was macht ihr denn hier?“ David erklärt, was wir vorhaben und erhält plötzlich 50 Euro. „Hier, nimm es für die Kinder mit.“

Die rumänischen Zöllner sind unzufrieden, dass wir keine originale Zulassung haben, lassen uns aber dennoch flott passieren. Kurz darauf erreichen wir Satu Mare (auch Sathmar genannt), die nordwestlichste Stadt Rumäniens mit 100.000 Einwohnern. Es ist niemand mehr auf der Straße, außer eine handvoll Helfer bei den Maltesern.

Den Chef der Malteser haben wir 100 km vor der Grenze endlich erreicht. Er ist den ganzen Tag in der Ukraine gewesen, kam aber nicht mehr so schnell über die Grenze. Es ist still, nur die Schritte der Helfer sind zu hören. Die Stadt fasziniert mich, weil die Bauweise in Deutschland relativ selten ist. Im Schachbrettmuster sind Straßen angelegt, bebaut mit zweistöckigen Häusern, wahrscheinlich im 19. Jahrhundert.

Freunde und Fans schreiben, dass wir gut und sicher ankommen und auf uns aufpassen sollen. Das klingt, als wenn wir ins Kriegsgebiet fahren. Hätten wir nicht den mit Hilfsgütern vollgepackten Hof der Malteser gesehen, hätten wir in den mit rumänischen Fahnen beflaggten Straßen nichts weiter von einer humanitären Lage mitbekommen.

Und auch Rumänien sieht hier nicht aus wie das verarmte Land, was es laut Klischees sein soll. Ja, die Straßen entsprechen ohne Randstreifen und mit einigen Schlaglöchern nicht den Erwartungen des deutschen Autofahrers und nein, wir werden in den kommenden Tagen keine Bettler oder sonstwie verlotterte Menschen sehen. Alle Menschen gehen aufrecht und können reden. Auch wenn das vielleicht nicht jeder glauben wird.

22:30 Uhr erreichen wir das Kinderheim. Fünf Stunden später als das Navi 3:30 Uhr angezeigt hat. Pausen, Vignettenkäufe, Tanken, es dauert seine Zeit.

Das provisorische Zuhause ist nur temporär provisorisch. Es ist ein neues Heim, vielleicht vor ein, zwei Jahren etwas außerhalb von Satu Mare gebaut. Hier hat man etwas außerhalb der Stadt ein neues Baufeld erschlossen, direkt nebenan führt die Landstraße weiter Richtung Ukraine. Es ist stockfinster.

Im Haus sind die Erwachsenen noch wach, es herrscht Geschäftigkeit. Ein Zehnjähriger huscht an uns vorbei, gibt uns die Hand und sagt freundlich auf Ukrainisch Guten Abend. Auf einer langen Tafel steht ein kleines Buffet für uns.

In den Gesichtern aller kann man sehen, dass es kein Sonntagsausflug war. Wir sind insgesamt zehn Personen aus Deutschland. Die Hälfte davon hat seit Freitagmorgen nicht geschlafen, das Bett ruft. Aber natürlich sind wir auch glücklich und ich auch etwas beschämt über den Aufwand, den man macht. Es ist doch alles gut, wir sind doch gern und freiwillig gekommen.

„Es ist nicht unser Essen, wir haben das vom Heim bekommen und nur für euch warm gemacht“, erklärt uns Sascha. Sie ist eigentlich Deutsche und setzt sich zu uns, während unser rumänischer Begleiter mit, wie wir später erfahren, Saschas Mann schon eine Namensliste vorbereitet.

23 Uhr fahren sie zu zweit noch mal an die rumänische Grenze, um Papierkram für die Weiterreise zu erledigen. In dieser Wohnküche, in der auch eine ausgeklappte Couch steht, erzählt uns Sascha, was passiert ist.

Teil II lesen Sie morgen an dieser Stelle.

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