Das hat es so im Leipziger Stadtrat noch nicht gegeben. Und Oberbürgermeister Burkhard Jung hatte vollkommen recht, als er in der Ratsversammlung am 15. Januar erklärte: „Ihre Frage ist ängsteschürend und unangebracht.“ Gefragt hatte Thomas Kachel von der BSW-Fraktion. Schon die zugrundeliegende Anfrage war ein einziges Angstschüren vor einem Atomkrieg, mit dem Russlands Machthaber Wladimir Putin seit dem Anzetteln des Krieges gegen die Ukraine immer unterschwellig wieder droht. Denn er weiß genau, dass er damit bei den europäischen Unterstützern der Ukraine Ängste schürt.

Und sie dazu bringt, über neue Hilfs- und Waffenlieferungen an die Ukraine lange nachzudenken, zu zögern – wie das Bundeskanzler Olaf Scholz immer wieder getan hat –, oder auch die Lieferung kriegsentscheidender Waffen zu verhindern oder Waffenlieferungen ganz einzustellen, die Ukraine also zu opfern.

Was die BSW-Fraktion dann in ihrer Anfrage formulierte, war nichts anderes als diese Angst noch einmal mit scheinbar faktisch untersetzten Behauptungen zu untermalen. Denn darin malte die BSW-Fraktion direkt einen Atomschlag auf Leipzig an die Wand.

Und verlangte von Leipzigs Verwaltung nun nach dem Vorbild anderer Städte eine Modellierung, wie Leipzig so einen Atomschlag überleben könnte: „Im Jahr 2020 hat sich Greenpeace bereits auf Grundlage des NUKEMAP-Modellprojekts von August Wellerstein (USA, 2012–2020) mit dem Szenario der Folgen eines Atomwaffenangriffs auf die Städte Berlin, Frankfurt/Main und Büchel auseinandergesetzt.

Für Leipzig gibt es eine erste wissenschaftliche Bewertung des Szenarios eines Atomwaffenangriffs noch nicht. Realistisch erscheint die Möglichkeit, dass im Anfangsstadium eines militärischen Konflikts der Flughafen Leipzig/Halle angegriffen wird, um seine Rolle als potenzielles logistisches Zentrum für NATO-Militärtransporte auszuschalten. Als Wirkungsgrad der Waffe kann z.B. die maximale Payload einer k720

‚Iskander‘ (50 kt TNT Äquivalent), sowie die durchschnittliche Payload der neuen Mittelstreckenrakete ‚Orestnik‘ (200 kt TNT Äquivalent) angenommen werden.“

Wikipedia fasste den Einsatz der Oreschnik gegen die Ukraine so zusammen: „Der Einsatz sollte somit vor allem eine politische Signalwirkung haben, der Einsatz machte militärisch keinen Sinn. Er war aus Propagandagründen angeordnet worden. Zur Inszenierung gehörte das offene Mikrofon von Marija Sacharowa. Die Genauigkeit war begrenzt. Dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zufolge erfolgte der russische Raketenangriff als Reaktion auf den ukrainischen Einsatz US-amerikanischer ATACMS-Raketen sowie britischer Storm-Shadow-Marschflugkörper gegen militärische Ziele in Westrussland.“

Aber als Angstmache gegenüber den Bürgern des Westens, mit der dann auch Wahlen entschieden werden, funktioniert Putins Strategie allemal. Und die Nachfragen von Thomas Kachel schürten dann erst recht Ängste. Da wollte er wissen, wie viele (Atom-)Bunker Leipzig zu bauen gedenke, sprach von Überlebensraten und enormen Kosten. Als bereite sich Deutschland tatsächlich auf einen Atomkrieg gegen Russland vor.

Nur einer eskaliert

Dabei ist es einzig uns allein der Kremlchef, der seine Drohungen immer wieder steigert. Die BSW-Fraktion aber machte daraus: „Die militärischen Spannungen im Umfeld des Ukraine-Kriegs eskalieren in den letzten Wochen nochmals, wie die Angriffe mit US-ATACMS-Raketen auf russisches Staatsgebiet, und die russischen Angriffe mit der neuen nuklearfähigen Orestnik-Mittelstreckenrakete seit Mitte November anzeigen.“

Mit den ATACMS greift die Ukraine übrigens Flughäfen, Öllager und Rüstungsfabriken im russischen Hinterland an, um die russische Infrastruktur zu schwächen. Während Russland seit dem Februar 2022 unentwegt Infrastrukturen in der ganzen Ukraine angreift – vor allem Energieversorgungsanlagen, aber auch Kliniken und Supermärkte.

Stellvertretend für die Stadtverwaltung hat die Branddirektion auf die BSW-Anfrage geantwortet und deutlich gemacht, dass es gegen einen Atomschlag gegen Leipzig im Grunde keinen Schutz geben kann: „Die Stadt Leipzig geht davon aus, dass bei der Explosion einer strategischen Atombombe im Stadtgebiet bzw. der unmittelbaren Umgebung von Leipzig aufgrund der verschiedenen Wirkmechanismen im gesamten Stadtgebiet

  • Todesfälle
  • Gravierende gesundheitliche Schädigungen, welche unmittelbar sowie mittel- und langfristig auftreten
  • Zerstörung von Gebäuden und sonstiger technischer, sozialer und ökonomischer Infrastruktur in einem solchen Ausmaß auftreten würden, dass sie durch planmäßige behördliche Maßnahmen im Kontext der Katastrophenvorsorge und des Zivilschutzes nicht beherrschbar sind.“

Mayors for Peace

Auch Bunker würden da nicht helfen. Denn danach wäre die komplette Region verwüstet und verstrahlt. Ein Land, das glaubt, Atomkriege durch Bunker überstehen zu können, hat es wirklich noch nicht begriffen. Und SPD-Stadtrat Christopher Zenker hat vollkommen recht: Es wäre besser gewesen, die BSW-Fraktion hätte ihren Antrag „Mayors for Peace“ auf die Tagesordnung gelassen, zu dem es auch einen sinnvollen Änderungsantrag der Freien Fraktion gibt.

Der lautet kurz und knapp: „Der Stadtrat fordert den russischen Machthaber Putin auf, den rechtswidrigen Angriffskrieg auf die Ukraine zu beenden und sich zu verpflichten, die russischen Truppen unverzüglich hinter die völkerrechtlich anerkannten Grenzen zurückzuziehen. Durch eine solche Verpflichtung werden ein Waffenstillstand in der Ukraine und infolgedessen Friedensverhandlungen ermöglicht.“

Wenn nämlich der „durchgeknallte, faschistische Despot“ im Kreml, so Zenker, seinen Krieg beende, gäbe es auch keine Atomkriegsdrohung. Er ist nun mal der Einzige, der unterschwellig immer wieder mit dem Einsatz von Atomwaffen droht, weil er – auch an den Wahlergebnissen in Deutschland – sieht, wie diese Drohung die Wähler einschüchtert und in die Arme von Parteien treibt, die nur zu gewillt sind, russische Propaganda in Deutschland zu Politik zu machen.

Und auch Enrico Stange, Stadtrat der Linken, hatte am Ende recht, als er feststellte, dass hier die Fragestunde dazu missbraucht wurde, eine Debatte anzuzetteln, die nach der Geschäftsordnung des Stadtrates so nicht gedacht ist. Dazu gäbe es – zu beantragende – aktuelle Stunden. Aber so eine Stunde hatte die BSW-Fraktion wohlweislich nicht beantragt, wohl ahnend, dass eine Ratsmehrheit so einer Angstmache keinen Raum geben wollen würde.

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Es gibt 2 Kommentare

“zuungunsten Russlands ” ??? Wer ist nochmal wo einmarschiert? Schon 2014? Russland hat nur eines zu verlieren: einen machtgierigen, hinterhältigen Despoten und Menschenfeind.
Ich glaube, dass dieser Verlust für das russische Volk durchaus verschmerzbar ist.

Eins ist sicher, lieber Autor, nicht zuletzt die hiesigen Militärs haben derlei Fragen, die von OBM Jung als “unangebracht” zurückgewiesen wurden, jedenfalls im Blick. Seien wir dankbar dafür. Und die Mehrheitsmeinung im Freistaat ist durchaus für Deeskalation und Wiederverständigung. Einen Ausgang des Krieges (vollkommen oder weit überwiegend) zuungunsten Russlands als unabdingbar anzusehen, geht an den todtraurigen Realitäten vorbei (nein, das ist kein Rechtfertigungsversuch des Krieges und dessen Weise). Zudem ist die schon vor zweieinhalb Jahren in der Bundespolitik kursierende Redensart “Angst ist ein schlechter Ratgeber” keine Zauberformel. Wenn es dumm kommt, kommt der “Atomkrieg aus Versehen”, von dem Udo Lindenberg schon 1976 in “Gene Galaxo” sang. Daher reicht es nicht, BSW-Stadtrat Thomas Kachel innerhalb der Stadtratsmehrheit weithin als “Putinknecht” anzusehen, ob seine und seiner Fraktion Fragen nun angebracht waren oder nicht.

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