Auf seiner Tour durch Sachsen machte der Bundesminister für Arbeit und Soziales Hubertus Heil (SPD) am 7. August 2021 auch in Leipzig Station. Er war einer Einladung der Gewerkschaften in den Garten des Volkshauses gefolgt und traf ohne großes Gefolge ein. Ganz nach Genossenart gab sich der Minister nahbar und wollte erst einmal hören, was den Menschen auf den Nägeln brennt. Am Ende konnte er konstatieren, dass man „über die wirklich wichtigen Themen“ gesprochen habe.

Den Auftakt gaben nach einer Einführung des Ministers die regionalen Gewerkschafschefs von Leipzig-Nordsachsen. Die letzten 18 Monate seien ein Stresstest für Arbeitnehmer/-innen, aber auch die Gewerkschaften gewesen, berichtete Sebastian Viecenz (ver.di). Neben den Problemen in der Pflege benannte er als weitere große Problemfelder bezahlbare Mieten, die Stärkung des ÖPNV, eine Ausbildungsgarantie für Schulabgänger/-innen oder Maßnahmen gegen Hass und Hetze im Netz.Die DGB-Frau Manuela Grimm unterstrich die Notwendigkeit eines armutsfesten Mindestlohns. „Jetzt sind wir bei zwölf Euro. Wenn auch ein Mindestlohn zum Leben rechen soll, müssten es in absehbarer Zeit 13,50 Euro sein“, sagte sie.Minijobs sollten in sozialversicherungspflichtige Jobs umgewandelt werden, denn die Coronakrise habe einmal mehr gezeigt, wie sich gerade diese ohnehin prekären Einkommen in Luft auflösen könnten. Auch sachgrundlosen Befristungen müsse endlich ein Riegel vorgeschoben werden. „Wie soll Mitbestimmung in den Betrieben funktionieren, wenn wie in Sachsen rund ein Drittel der Beschäftigten in befristeten Jobs arbeitet?“, fragte sie.

Jörg Most von der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) prangerte die katastrophalen Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie an: „Kein Mensch kann sich vorstellen, wie diese Beschäftigten arbeiten und leben“, sagte Most und nannte als Beispiel einen Tönnies-Betrieb in Weißenfels, in dem die meist osteuropäischen Arbeitskräfte wie Sklaven behandelt würden.

Hubertus Heil blieb zuerst einmal bei seiner Themenagenda und appellierte an die Impfbereitschaft der Sachsen: „Es ist auch eine Frage der Solidarität mit euren Kolleg/-innen! Bitte überzeugt Menschen, die noch zögern. Nur mit einer hohen Impfquote werden wir gut durch die weiteren Wellen kommen“, betonte der Minister.

Die Pandemie habe wie durch ein Brennglas die Schwachstellen gezeigt – nicht nur im Gesundheitswesen: „Zum Beispiel die Schweinereien in der Fleischindustrie, die wir erst jetzt stoppen konnten.“

Danach sang er ein Loblied auf die Kurzarbeit, die gut durch die Krise geholfen hätte: „Wir hatten sechs Millionen Menschen in Kurzarbeit, das ist ein Fünftel aller Beschäftigten in Deutschland“, konstatierte er. 26 Milliarden Euro seien dafür bei der Bundesagentur für Arbeit eingeplant gewesen, 38 Milliarden seien bis jetzt ausgegeben worden.

„Aber es war und ist wichtig, um jeden Arbeitsplatz zu kämpfen“, sagte Heil und kündigte an, dass die Regeln zur Kurzarbeit noch einmal bis Ende 2021 verlängert werden sollen. „Gerade hier in Leipzig gibt es viele Unternehmen, die das noch brauchen – unter anderem die Leipziger Messe und Firmen im Veranstaltungswesen; auch bei den Autobauern gibt es noch Lieferkettenstörungen, die für Ausfälle sorgen.“

ver.di-Mann Sebastian Viecenz hatte in seinem Eingangsstatement auf die Beschäftigten in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen hingewiesen, die mehr als warmen Beifall verdienten: „Wir konnten in etlichen systemrelevanten Betrieben, z.B. Krankenhäusern, Coronaprämien erstreiten – und zwar für alle Beschäftigten – sowohl in der Pflege als auch in der Küche oder der Pforte.“

Hubertus Heil mit Antworten auf die Fragen der Gewerkschaften. Video: LZ

Wenn sich der Pflegenotstand aber nicht weiter zuspitzen solle, müsse es eine dauerhafte und zukunftsfeste Verbesserung der Einkommen und Arbeitsbedingungen in diesem Bereich geben. „Deshalb fordern wir ein Bundestariftreuegesetz für Aufträge der öffentlichen Hand“, so der Gewerkschafter.

Der Arbeitsminister stimmte zu und erinnerte: „Der Tarifvertrag für die Altenpflege sollte ja bundesweit allgemeinverbindlich werden. Das scheiterte an der Zustimmung vor allem von privaten und kirchlichen Betreibern.“

Seit 2015 ist der 76jährige Rainer Brüderle (FDP) Präsident des bpa-Arbeitgeberverbandes. Es sei ein Treppenwitz, dass ausgerechnet Brüderle Cheflobbyist der Pflegebranche sei und alles tue, um verbindliche Tarifregelungen zu verhindern. „Da muss man schon besonders sein, wenn man so agiert“, so Heils zweideutiger Kommentar.

Wenn sich dauerhaft etwas verändern solle, dann müssten fatale Fehler ausgeräumt und eine neue Gesundheitspolitik für das Land gemacht werden, betonte Heil und gestand: „Wenn ich noch einmal in die Situation kommen sollte, Minister zu werden, dann würde ich gern das Gesundheitsministerium übernehmen.“

Das Thema Rente ist in der Öffentlichkeit so präsent wie schon lange nicht mehr. Über die besseren Instrumente zur Stabilisierung der Rentenkasse wird im Wahlkampf täglich gestritten. Heil plädierte für die Stärkung der gesetzlichen Rente: „Ich habe nichts gegen betriebliche und private Zusatzvorsorge. Aber unsere gesetzliche Rentenversicherung ist besser als ihr Ruf und vor allem besser, als so manche Politiker aus dem schwarzen und gelben Lager Glauben machen wollen“, unterstrich der Arbeitsminister. Der Weg müsse weiter in Richtung solidarische Bürgerversicherung gehen, in die möglichst alle Erwerbstätigen einzahlten.

Amazon, geringfügig Beschäftigte und eine Katastrophe in den Pflegeberufen. Video: LZ

Hilfe und Unterstützung versprach Heil den Amazon-Beschäftigten in Leipzig, die seit Jahren immer wieder für einen Tarifvertrag in ihrem Unternehmen streiken. Christian Roth vom Betriebsrat hatte zuvor berichtet, wie die Leipziger Amazon-Geschäftsführung die Gründung eines Konzernbetriebsrats zu behindern versucht, die Forderung nach einem Mindestlohn von 12 Euro pro Arbeitsstunde abschmettert und wie Beschäftigte totalüberwacht werden.

„Ruft mich an. Ich komme euch gern besuchen – versprochen. Auch eure Geschäftsführung, aber mit der rede ich dann sehr viel unfreundlicher“, versprach Hubertus Heil mit der Einschränkung, dass dies vor der Bundestagswahl wohl für ihn nicht mehr zu schaffen sei.

Nicht nur einmal ließ der Minister durchblicken, dass noch-Koalitionspartner CDU in der Nachmerkel-Ära eine andere Partei sein werde, als die, die wir jetzt noch erleben. Er machte keinen Hehl daraus, dass er kein Freund einer erneuten Großen Koalition ist. Dennoch ließ sich Heil nicht zu klaren Aussagen hinreißen und appellierte lieber an die Gäste, doch überhaupt wählen zu gehen und sich fürs demokratische Spektrum zu entscheiden.

Für Leipzig nicht in dem Maße, aber in Sachsen sei es dennoch nötig, mit denen, die nach rechts abgerutscht sind, weiter im Gespräch zu bleiben: „Ich meine nicht, mit überzeugten Nazis zu reden. Da ist es sinnvoller, eine Parkuhr vollzuquatschen“, stellte Heil klar. „Es geht darum, in der Familie, mit Freunden, Kolleg/-innen – auch Andersdenkenden – darüber zu diskutieren, in welcher Gesellschaft wir leben wollen.“

Die Einstiegsrede von Hubertus Heil am 7. August 2021 am Volkshaus

Rückblick auf die Coronakrise aus Sicht des Arbeitsministers. Video: LZ

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Es gibt 2 Kommentare

Zitat: “Parteien des linken politischen Spektrums fordern seit längerem, die private Krankenversicherung abzuschaffen und eine gesetzliche Versicherungspflicht für alle durchzusetzen. Eine große öffentliche Kampfansage gibt es vom Verband der privaten Krankenversicherung (PKV) trotzdem nicht.”

Frage: Kommt mit der Ampel auch die Bürgerversicherung?

Tja, die SPD.

Kurz vor jeder Bundestagswahl präsentiert sie sich als sozialste Partei. Richtig zum Knuddeln und zum Liebhaben.

Nach der Bundestagswahl wird die Agenda 2010 weiterhin eisern und reuelos verteidigt.

Wer nochmals ist eigentlich der Kanzlerkandidat? An Baerbock erinnern mich nunmehr täglich Graffiti^^, Laschet ist sowieso im Dauerskandal (aktuell mit diesem Opus-Dei-Jüngling, der wie 50 aussieht). Und von der SPD…?

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