Arno Jesse ist bereits seit zehn Jahren Bürgermeister in Brandis, östlich von Leipzig. Er erzählt, was ihn aus Bayern in die 10.000-Menschen-Kommune verschlagen hat, wie er das politische Klima empfindet, welche Projekte im Ort anstehen und wie seine Zukunft aussieht.

Guten Tag Herr Jesse. Ich habe gelesen, Sie kommen aus Bremerhaven. Wie genau hat es Sie nach Sachsen verschlagen?

Über einige Umwege. Ich bin in Bremerhaven geboren, aufgewachsen in Oldenburg. Zum Studium bin ich nach Bamberg, also nach Bayern. 1990 war ich ungefähr fertig mit meinem Studium. Und da kam ja gerade die Wende, die man in Bamberg auch recht unmittelbar mitbekommen hat. Ich wollte eigentlich in Münster promovieren und dann kam eben doch alles anders.

Da war auf einmal diese Aufbruchstimmung. Ich habe mich dann, noch während des Studiums, selbstständig gemacht. Desktop-Publishing hat man das damals genannt, Gestaltung für die Fakultät und für kleinere Unternehmen in Bamberg. Dann wollte ich etwas anderes machen und es hat mich nach Leipzig verschlagen, wo ich mich dann noch mal neu selbstständig gemacht habe und sozusagen hier hängengeblieben bin.

Habe eine Familie gegründet; mit dem ersten Kind sind wir 2002 nach Brandis gezogen. Wir hatten zwar eine tolle Wohnung in der Stephanstraße, nahe der Leipziger Innenstadt, aber das war mit Kindern nicht so kompatibel.

Wir haben gerade schon von Ihrem Studium gesprochen. Germanistik und Geschichte habe ich gelesen. Dann der Umzug nach Leipzig, eine eigene Marketingagentur. Wie genau kamen Sie letztlich zur Politik?

Also politisch interessiert war ich schon immer. Auch im Studium; zwar nicht parteipolitisch, aber einfach engagiert. Wir haben beispielsweise einen Verlag gegründet, haben Randgruppen-Literatur herausgegeben. Mir war klar, wenn ich in eine Stadt wie Brandis ziehe, dass ich mich da auch engagieren möchte.

Und da hat sich bis auf die Parteipolitik nicht viel anderes angeboten. Heimatvereine waren nicht ganz meine Welt. Das meine ich gar nicht despektierlich. Und große Bürgerinitiativen gab es hier in der Form nicht. Zu der Zeit als ich nach Brandis zog, war ich ja schon Mitglied in der SPD.

Und wenn man sich in einem kleinen Ort ein bisschen parteipolitisch engagiert, kommt man ziemlich schnell in Positionen, in denen man schon Verantwortung hat. Da haben natürlich auch meine Kinder eine Rolle gespielt, ich wurde in den Elternrat gewählt. Es kommt dann eins zum anderen.

Und jetzt sind Sie schon zehn Jahre Bürgermeister?

Ja, das stimmt.

Haben Sie in dieser Zeit Ihre Entscheidungen oder Ihre Wahl schon einmal bereut?

Definitiv nicht. Selbst wenn ich es getan hätte, würde ich es jetzt nicht sagen. Aber das ist auch nicht der Fall. Zu meiner Entscheidung hat auch sicherlich der Zufall viel beigetragen. Es passte beruflich ein Stück weit von meinem Lebensalter. Vor zehn Jahren war ich 50. Außerdem ist mein Vorgänger nicht mehr wieder angetreten.

Das ist immer eine gute Voraussetzung, aber vor allem steigen die Chancen für jemanden, der aus dem Westen kommt. Und dann noch als Sozialdemokrat (lacht). Aber mit den Erfahrungen, die ich durch das Engagement einerseits im Ortsverein der SPD, im Stadtrat, aber auch in der Schule und dem Bürgerverein gesammelt habe, hat sich das dann angeboten. Es hat sich angeboten, diese Chance zu ergreifen. Und bisher habe ich sie nie bereut.

Das ist schön zu hören. Trotzdem bringt das Bürgermeisteramt ja viel mit sich. Das kann ja auch im Privatleben beispielsweise Auswirkungen haben.

Ja, das ist definitiv so. Es ist schon ein gewaltiger Einschnitt gewesen. Auf der anderen Seite als Selbstständiger in einer Werbeagentur, die aus meiner Sicht schon in den letzten Jahren auch recht erfolgreich war, war es auch zeitaufwendig.

Aber ich habe natürlich im Vorfeld mit meiner Familie gesprochen. Auch meine Frau ist voll berufstätig als Oberärztin. Wir sind immer schon sehr busy gewesen. Wir haben uns, glaube ich, trotzdem gut organisiert. Trotzdem weiß man vorher nicht genau, auf was man sich einlässt.

Gerade als Bürgermeister in einer Kleinstadt, wo gefühlt jeder jeden kennt und man immer auch zwischendurch angesprochen wird, außerhalb der eigentlichen Arbeitszeiten. Die meisten Termine sind tatsächlich auch abends.

Aber diese Nähe birgt natürlich auch viele schöne Seiten.

Auch das hat natürlich seine Vor- und Nachteile. Sie sagten gerade, dass es als SPDler nicht so einfach war in Brandis. Was mich zu der Frage bringt, wie Sie das politische und gesellschaftliche Klima im Ort einschätzen würden.

Es ist schon ambivalent. 2013 habe ich Brandis eher als eine Schlafstadt empfunden, sehr ruhig, was ja auch per se gar nicht negativ sein muss. Mein Anspruch war aber schon, auch so ein bisschen Schwung reinzubringen. Durchaus auch in Bezug auf Verwaltung, Verständnis von Verwaltung und Bürgerschaft. Stichwort Digitalisierung unter anderem.

Damit waren Sie ja auch sehr erfolgreich.

Genau, dazu kommen aber auch so Kleinigkeiten, wie zum Beispiel die Öffnungszeiten der Verwaltung zu verändern. Dass wir unter der Woche bis 19:30 Uhr aufhaben. Wir sind halt eine Pendler-Stadt; da kann ich nicht von Bürgern erwarten, dass sie Urlaub nehmen müssen, wenn sie ihren Pass verlängern wollen.

Aber wenn wir mal von der Verwaltung und Politik zum bürgerschaftlichen Klima schauen, ist es natürlich schwierig. Einige Jahre vor meiner Bürgermeisterzeit, also kurz vor 2013, kam es ja auch in den Medien. Die Auseinandersetzung mit Roter Stern Leipzig bei einem Fußballspiel; eine große Eskalation und Schlägerei mit Rechten, die im Vorfeld wahrscheinlich sogar organisiert war.

Das hat natürlich auf Brandis abgefärbt und auf das Image als rechte Stadt. Der Einflussbereich von Wurzen ist auch in der Nähe und das ist ja auch eine Klientel. Das war mein zweiter Anspruch: das Image der Stadt. Zeigen, dass das Minderheiten sind, selbst wenn es zu so einer Eskalation gekommen ist.

Wie genau haben Sie versucht, das zu zeigen?

Beispielsweise waren einige Teilhabe-Projekte sehr erfolgreich. Ich würde Brandis noch nicht als lebendige Bürgerstadt bezeichnen. Und es ist auch nicht so, dass es die Rechten nicht mehr gibt. Das wäre vermessen und einfach falsch.

Das Titelblatt der 111. und letzten Printausgabe der LZ, März 2023. Foto: LZ
Das Titelblatt der 111. und letzten Printausgabe der LZ, März 2023. Foto: LZ

Aber ich glaube, dass die Stimmen, die jetzt stärker vernehmbar sind, doch die der Menschen sind, die sich einbringen. Vereine, wie Kulturvereine, Sportvereine etc. Es ist schon eine bürgerschaftlich engagierte Stadt. Aber man muss immer dranbleiben, muss immer wieder neue Formate finden und man muss immer wieder sensibilisieren.

Es gab nach der Flüchtlings„krise“ – Krise in Anführungszeichen – auch hier großes bürgerschaftliches Engagement von Menschen, die sich gekümmert haben, die sich eingebracht haben. Es gab aber ohne Zweifel auch die anderen Stimmen, und es gab einen Vorfall, wo es eine Messerstecherei hier an der Gemeinschaftsunterkunft gab.

Das ist natürlich dann auch instrumentalisiert worden von beiden Seiten. Aber es kam nicht zum großen Aufruhr durch die Menschen in Brandis. Obwohl Juliane Nagel (Stadträtin und Landtagsabgeordnete Die Linke, Anm. d. Red.), aus Leipzig kam und auch die Rechten kamen. Die Stadtgesellschaft hat sich dort weder der einen Seite noch der anderen Seite angeschlossen. Das habe ich als sehr positiv wahrgenommen. Natürlich muss man Dinge kritisch sehen, sich aber nicht instrumentalisieren lassen und differenziert betrachten.

So würde ich Brandis im Moment beschreiben. Aber es ist immer fragil. Man muss immer dranbleiben.

Ich würde gerne nochmal zur politischen Ebene zurückkommen. Wie ist denn die Zusammenarbeit mit dem Stadtrat?

Die ist ausgesprochen gut, das muss ich sagen. Durchaus auch im Vergleich zu Nachbarkommunen. Ich denke zum Beispiel an Naunhof. Uns ist es hier gelungen, dass wir im Großen und Ganzen sehr konstruktiv miteinander umgehen. Ich nehme die AfD jetzt raus; nicht weil es die AfD ist, sondern weil sie einfach nur destruktiv agieren.

Aber wir haben eine breite bürgerliche Mehrheit. Das ist einerseits der Bürgerverein, der mich auch unterstützt hat. Es ist die SPD, die hier durchaus stark ist. Auch die Linke, die mich unterstützt hat. Dann sind da noch die Grünen, die auch keine Opposition gegen mich machen, sondern wir können konstruktiv miteinander umgehen. Und selbst die Freien Wähler, die sich für mich immer eine Nummer zu rechts, manchmal zu populistisch positionieren.

Das ist ein wichtiger Grund, warum wir in Brandis mit vielen Projekten erfolgreich sind.

Bei Ihrer letzten Wahl haben Sie gesagt, dass Sie den Schulcampus entwickeln würden, das Kulturhaus, die Stärkung der Wohnungsbaugesellschaft vorantreiben möchten, die interkommunale Zusammenarbeit, Digitalisierung, Sportplätze. Wie sind Sie damit vorangekommen in den letzten zwei, drei Jahren?

Wirklich gut. Vor allem, wenn ich noch mal zwei, drei Jahre weiter in die Zukunft sehe. Viele Dinge sind ja gerade jetzt in der Planung und werden tatsächlich in den nächsten zwei, drei Jahren physisch umgesetzt. Da kann ich überall, mit einer Ausnahme, einen ziemlich dicken Haken hinter machen.

Die Ausnahme sind wirklich die Sportplätze. Da hängen wir hinterher. Das gilt auch für Straßenausbau oder Sanierung von Straßen, weil es keine Fördermittel gibt. Und die Situation ist leider so, das betrifft insbesondere die kleinen Kommunen, dass ohne Fördermittel gar nichts geht.

Der Freistaat hat den Straßenbau seit drei Jahren vollkommen gecancelt, vielleicht wird das dieses Jahr etwas anders aussehen. Auch bei der Sportförderung herrscht seit einigen Jahren Stillstand.

Aber für den Rest der Projekte konnten Sie das mithilfe von Fördermitteln stemmen?

Ja genau. Fangen wir mal mit dem Schulausbau und dem Campus an. Das ist ein ganz dickes Brett, was wir zu bohren haben. Wir haben einen großen Vorteil, der aber auch ein Nachteil ist, weil wir es eben auch finanziell stemmen müssen, die komplette Schullandschaft in eigener Trägerschaft abbilden zu können.

Wir werden in diesem Jahr die Bauanträge genehmigt bekommen für einen Erweiterungsbau der Grundschule am Campus und für den Erweiterungsbau der Oberschule.

Dann das Kulturhaus, das vielleicht größte Investitionsprojekt, ist gesichert über die Strukturmittel. Ein Teil wird ja abgerissen, das Kulturhaus als solches wird komplett saniert. Es wird ein Coworking-Space für neues Arbeiten und ein neues Kulturleben in der Hand der Stadt.

Sie haben gerade davon gesprochen, dass Sie mit Ihren Zielen sehr optimistisch sind, wenn Sie noch mal zwei bis drei Jahre in die Zukunft schauen. Wie sieht denn Ihre persönliche und berufliche Zukunft aus, nochmal ein paar Jahre weitergedacht?

Lustig. So weit denke ich noch gar nicht. Erstmal habe ich ja noch gut vier Jahre. Aber ich glaube, nach zwei Amtszeiten ist es richtig, darüber nachzudenken, ob man noch eine Amtszeit machen möchte oder nicht. Aber dafür ist es noch ein bisschen zu früh.

Ich stelle diese Frage vor allem, weil Ingo Börner, der für die AfD im Stadtrat sitzt, bei der letzten Wahl schon deutlich hinter Ihnen war, aber auch nicht zu vernachlässigende Prozente hatte. Und wie Sie schon meinten, ist so eine politische und gesellschaftliche Landschaft eben sehr fragil. Inwiefern spielt auch Ihr Anspruch, diese Landschaft stabil zu halten, in die Überlegungen mit rein?

Also, das ist eine ganz wichtige Frage und das sind die Gedanken, die ich mir dann zu gegebener Zeit sehr massiv machen werde. Das wäre für Brandis sehr fatal, wenn ein Vertreter der AfD Bürgermeister wird. Das wäre ja nicht nur ein Imageschaden, sondern ein ganz deutlicher Rückschritt, der sicherlich nicht in meinem Sinne ist. Aber das wird man vorbereiten können, glaube ich. Auch völlig unabhängig von meiner Person wird es dann Lösungen geben.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Jesse.

„Brandiser Bürgermeister Arno Jesse im LZ-Interview: Die gesellschaftliche Situation ist immer fragil“ erschien erstmals am 31. März 2023 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 111 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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