Existiert im Freistaat eine linksextreme Kampfsportszene? Das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) warnt und erntet dafür im Netz vor allem Spott und Häme. Politiker fordern parteiübergreifend handfeste Belege. Die bleibt der Nachrichtendienst bislang schuldig. Ist die Kritik an dem Inlandsnachrichtendienst berechtigt?

Den Stein ins Rollen brachte ein Beitrag bei „MDR Aktuell“. Verfassungsschutzpräsident Dirk-Martin Christian erklärte gegenüber dem Sender, dass bei den Protesten gegen Querdenker-Demos Kampfsportler zu beobachten gewesen seien. „Dieses Protestgeschehen zieht immer mehr Spektren an, die auch gewaltbereit sind. Ich denke hier vor allem an die Kampfsportszene im links- und rechtsextremistischen Bereich.“

Tatsächlich war bei der verschwörungsideologischen Großdemonstration am 7. November 2020 zu beobachten, wie rechte Hooligans und durchtrainierte Schläger den Massen gemeinsam den Weg auf den Ring frei machten. So offensichtlich, dass die „Qerdenken“-Szenerie im Nachgang erst so tat, als ob es Linke gewesen sein sollten, um es – als das Märchen nichtmehr zu halten war – anschließend herunterzuspielen.

Auch bei der kurz darauf folgenden Demonstration am 21. November 2020 quer durch die Leipziger Innenstadt gab es erst eine Prügelattacke in der Leipziger Passage, welche von der Großen Fleischergasse Richtung Hainstraße führte und anschließend Auseinandersetzungen in der Hainstraße selbst, welche von gewaltbereiten Hooligans ausgingen.

Im Abgang aus der Großen Fleischergasse sang dann eine Gruppe Männer lauthals „Antifa Hurensöhne“ – nicht gerade das Vokabular friedlicher Demonstranten und natürlich erst recht keines von linken Autonomen.

Kampfsport – seit langem eine rechtsextreme Domäne

Die Affinität sächsischer Neonazis für den Kampfsport ist seit langem bekannt. Die LZ hatte in den vergangenen Jahren vielfach über regionale MMA-Turniere berichtet, die von Neonazis aus Wurzen organisiert wurden.

Die politischen Wurzeln der Akteure liegen in der Leipziger Hooliganszene. Ihre Schlüsselfigur, der ehemalige Kämpfer und heutige Trainer Benjamin Brinsa, kündigte im September 2020 an, ein Gym in Taucha (Nordsachsen) eröffnen zu wollen. Zwei Monate zuvor sollte dessen einstiger Schützling Timo F. in der UFC debütieren.

Der Leipziger wurde von der Profiliga von der Fightcard genommen, nachdem Aktivisten in sozialen Netzwerken seine enge Anbindung an Brinsa und die rechte Szene thematisierten.

Plakat Imperium Fighting Championship. Foto: Alexander Böhm
Mit Veranstaltungen wie der „Imperium Fighting Championship“ sprachen Rechtsextremisten aus der Region Leipzig ein breites Publikum an. Zu den Besuchern zählten regelmäßig auch Fans des 1. FC Lokomotive Leipzig. Bei einer der Veranstaltungen wurden Mitglieder der „Hells Angels“ gesichtet. Foto: Alexander Böhm

Weitere Schnittstellen bestehen in der Messestadt seit jeher zwischen Rechtsextremismus, Kampfsport und Türstehermilieu. Während die Leipziger Neonazis ihre größten sportlichen Erfolge in erster Linie außerhalb der eigenen Szene, sprich bei nichtextremistischen Veranstaltungen feierten, hat der Kampfsport mittlerweile längst Eingang in die rechte Subkultur gefunden.

Seit 2013 findet – mit einer Unterbrechung – jährlich der „Kampf der Nibelungen“ statt. In Chemnitz trainieren Neonazis in der „Tiwaz-Gemeinschaft“, die aus gleichnamigen Kampfsportturnieren hervorgegangen ist. 2019 zählte der Verfassungsschutz bei der Veranstaltung in Zwickau 400 Teilnehmer. In seinem Bericht für 2019, der im November 2020 erschienen ist, warnt das Landesamt.

Kampfsportveranstaltungen würden die Militanz der Szene steigern. Von linksextremen Kampfsportstrukturen ist weit und breit keine Rede.

„Generell ist festzustellen, dass Kampfsport auch für die autonome Szene in Deutschland seit mehreren Jahren an Bedeutung gewinnt“, teilte LfV-Sprecherin Karin Keck auf LZ-Anfrage mit. Die Verfassungsschützerin nennt exemplarisch die Kampagne „Runter von der Matte. Kein Handshake mit Nazis“, die über die rechte Vereinnahmung des Sports durch Neonazis informiert. Für die LZ sind offen extremistische Äußerungen dieser Kampagne nicht ersichtlich.

Weiter spricht Keck von „sich etablierenden Kampfsportevents im gesamten Bundesgebiet“, ohne diese zu benennen. In Leipzig – für den Verfassungsschutz der Schwerpunkt der linksextremen Szene – sind derartige Szene-Events, die mit denen der rechten Szene nur halbwegs vergleichbar wären, bislang unbekannt geblieben.

Innerhalb der Szene werde die „Notwendigkeit eines ‚antifaschistischen Selbstschutzes‘“ betont, so Keck. Dieser schließe „militante Aktionsformen gegen den politischen Gegner (‚Nazis‘) sowie die Polizei als Vertreter der Staatsgewalt“ mit ein. „Um schlagkräftig zu sein, ist es für die linksextremistische Szene wie für die rechtsextremistische Szene wichtig, sich körperlich fit zu halten und den Kampfsport regelmäßig zu trainieren“, erläutert die Sprecherin.

Die Ausführungen des Geheimdienstes werfen Fragen auf.

Der LZ ist bekannt, dass einige Personen, die der Verfassungsschutz vermutlich bis fälschlich der linksextremen Szene zuordnen würde, in Leipzig Kampfsport trainieren. Aufgabe der Behörde jedoch ist, über Aktivitäten von Extremisten zu informieren. Stellt das Landesamt in seinen Analysen das Gewaltpotenzial einer extremistischen Bestrebung fest, so soll es Politik und Öffentlichkeit davon in Kenntnis setzen.

Vermeintliche und tatsächliche Mängel in diesem Bereich waren in der NSU-Debatte immer wieder von verschiedener Seite gerügt worden. Dass das Landeamt über die Existenz einer linksextremen Kampfsportszene informiert, wäre keine Aufregung wert, sofern eine solche existieren würde. Dies ist strittig.




In sozialen Netzwerken fühlen sich User, die sich ihren Profilen nach zu urteilen als links verstehen, auf den Schlips getreten. Mancher fürchtet womöglich, allein aufgrund sportlicher Betätigung ins Visier des Nachrichtendienstes zu geraten.

Als problematisch erweist sich zudem, dass der Verfassungsschutz keine Detailinformationen preisgibt. Dies kann der Geheimhaltungsbedürftigkeit geschuldet sein. Die Veröffentlichung personenbezogener Informationen ist aus rechtlichen Gründen ohnehin nur in Ausnahmefällen gestattet. Schweigen kann der Behörde zugleich als Instrument dienen, nicht vorhandenes Wissen zu kaschieren.

Die Allgemeinplätze von Behördensprecherin Keck lassen zumindest darauf schließen, dass das Landesamt mit seinen Recherchen noch am Anfang zu stehen scheint.

Dirk-Martin Christian, Präsident des sächsischen Landesamtes für Verfassungsschutz. Foto: SMI / Isabelle Starruß
Sachsens Verfassungsschutzpräsident Dirk-Martin Christian warnt vor einer zunehmenden Gewaltbereitschaft bei Links- und Rechtsextremisten. Foto: SMI / Isabelle Starruß

Unstrittig ist die Existenz von Gyms, die sich betont als links oder antifaschistisch verstehen. Kampfsporttrainer Burkhard B. (Name d. Red. bekannt) berichtet gegenüber „MDR Sachsen“ von „mehr und mehr linken Strukturen“, die in Leipzig Kampfsport anböten.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz teilte schon im August 2020 gegenüber der Tageszeitung „Die Welt“ mit, die autonome Szene in Leipzig habe „ihr Zielspektrum erweitert und ihren Einflussbereich auf gewaltbereite Fußball-Ultras und die Kampfsportszene ausgedehnt“.

„Insbesondere in Teilen der linksextremistischen Szene in Leipzig ist eine zunehmende Gewaltbereitschaft zu beobachten, die sich inzwischen auch gegen Personen richtet“, sagt LfV-Sprecherin Keck gegenüber der LZ.

Albrecht Pallas (MdL, SPD) Foto: Götz Schleser
SPD-Politiker Albrecht Pallas fordert vom Verfassungsschutz Belege für die Behauptungen. Foto: Götz Schleser

Gleichwohl zweifeln sächsische Politiker die Existenz einer „Szene“ mit organisierten Strukturen und internen Wettkämpfen an, wie sie im Rechtsextremismus zu beobachten ist. Der SPD-Innenexperte Albrecht Pallas forderte im Interview mit „MDR Sachsen“ konkrete Nachweise statt bloßer Behauptungen.

„Wenn es Belege für Kampfsportevents oder Kampfsportszene im Bereich Linksextremismus gibt, dann ist das Landesamt uns die bisher schuldig geblieben.“

Die gleiche Perspektive nimmt Jürgen Kasek ein. Der Leipziger Grünen-Stadtrat erinnert an die Warnungen des Landesamts vor einer angeblich linksextremistischen Musikszene im Freistaat. Die Behörde hatte in ihrem Jahresbericht 2018 elf Bands als linksextrem bezeichnet. Drei Gruppen klagten erfolgreich gegen die Nennung. Der Verfassungsschutz hatte versäumt, diese zu begründen. Im Bericht für 2019 ist das Thema gänzlich verschwunden.

„Der Verfassungsschutz wollte durch die Nennung linksextremer Bands die Gefahren durch Rechtsrockkonzerte kleinreden“, ist Kasek überzeugt. „Das Hufeisen muss funktionieren.“ Damit meint der Rechtsanwalt die Angewohnheit des CDU-gelenkten Innenministeriums, Gefahren durch Neonazis mit vermeintlichen Bedrohungen durch Linksextreme aufzuwiegen.

Jürgen Kasek (Grüne) im Stadtrat. Foto: L-IZ.de
Jürgen Kasek (Grüne) zweifelt an der Existenz einer linksextremistischen Kampfsportszene. Foto: LZ

Im Freistaat zählte der Verfassungsschutz 2019 übrigens 2.000 gewaltorientierte Neonazis, denen 415 Autonome gegenübergestanden haben sollen. Das Beispiel linker Bands beweist, wie oberflächlich das Landesamt bisweilen recherchiert.

Wer sich in Sachsen mit Themen wie Rechtsextremismus, Rassismus oder neuerdings Klimaschutz befasst, läuft stets Gefahr, in den Fokus des Landesamts zu geraten. Erst dieser Tage wurde durch Zufall bekannt, dass die Behörde ab 2016 personenbezogene Daten des Pressesprechers des zivilgesellschaftlichen Dokumentations- und Rechercheprojekts „Chronik.LE“ gespeichert hatte, das zu keiner Zeit ein Beobachtungsobjekt gewesen ist.

Die Linken-Abgeordnete Juliane Nagel traut den Behauptungen des Verfassungsschutzes nicht. Foto: LZ

„Vollkommen reflexhaft wird eine Gefahr einer ‚linksextremistischen Kampfsportszene‘ halluziniert, die aber mit keinerlei Belegung untermauert werden kann“, ärgert sich die Linken-Abgeordnete Juliane Nagel.

„Klar trainieren auch politisch links orientierte oder aktive Menschen diverse Sportarten, darunter sicherlich auch Kampfsport. Der Fokus politischer Arbeit innerhalb des Sportmilieus liegt wie bei der Kampagne ‚Runter von der Matte‘ aber darauf Neonazis keinen Raum im Ring, in Gyms oder Trainingsstätten zu lassen und die sportliche Betätigung diskriminierungsfrei zu gestalten.“

Und auch sie sieht offenkundig wenig tiefgehende Analysen für die Nennung dieser Initiative durch den Verfassungsschutz, denn „um das zu verstehen hätte der Verfassungsschutz einfach mal das Selbstverständnis von ‚Runter von der Matte‘ lesen müssen.“

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