LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 73, ab 29. November 2019 im HandelFür FreikäuferSchluss! Aus! Spielabbruch! Nach 73 Spielminuten und einer halben Stunde Spielunterbrechung hatte Schiedsrichter Rasmus Jessen keine Geduld und keinen Glauben mehr an bessere Zeiten. Er brach das Oberliga-Spiel FC Rot-Weiß Erfurt II gegen den 1. FC Lok Leipzig am 14. Juni 2015 ab. Nachdem massenhaft Zuschauer aus dem Gästeblock den baufälligen Zaun auf der Baustelle Steigerwaldstadion überklettert hatten, kam es zu einer wüsten Schlägerei zwischen Ordnungsdienst und den sogenannten Fans. Schon vor und während des Spiels kam es zu Straftaten, die sich nach dem Spiel fortsetzten.

„Ermittelt wurde wegen Raubes, gefährlicher Körperverletzung, versuchter gefährlicher Körperverletzung, Körperverletzung, versuchter Körperverletzung, Beleidigung, schwerem Landfriedensbruch, Landfriedensbruch, schwerem Hausfriedensbruch, Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung und Verstoß gegen des Sprengstoffgesetz“, so der Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Erfurt, Hannes Grünseisen über vier Jahre später. Die genaue Anzahl der Ermittlungsverfahren wollte er nicht verraten.

Laut Informationen der LEIPZIGER ZEITUNG (LZ) gingen erst in den letzten Tagen wieder Briefe aus Erfurt bei Tatverdächtigen ein, die über die Einstellung des Verfahrens informierten. Noch immer sind nicht alle Verfahren abgeschlossen, auch wenn Grünseisen meint, dass sich „die Masse der Verfahren mit rechtskräftigen Verurteilungen zu Freiheitsstrafen mit Bewährung oder Geldstrafen in der Vollstreckung oder mit jeder Form von Einstellung im Archiv befinden“, sind viereinhalb Jahre danach allerdings noch längst nicht alle Verfahren abgeschlossen.

Und laut Staatsanwaltschaft Erfurt sind „etliche Dutzend“ Täter weiterhin nicht überführt.

Dreimal in den letzten viereinhalb Jahren kam es bei Spielen des 1. FC Lok Leipzig zu teils schweren Straftaten. Beim benannten Spiel in Erfurt, beim Heimspiel gegen die BSG Chemie Leipzig im November 2017 mit Beteiligung der Gästefans und beim Sachsenpokalspiel beim Bischofswerdaer FV im März 2017. Gleichzeitig wächst durch das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Bremen vom Februar 2018 – das erstmalig entschied, dass Vereine für Polizeieinsätze zahlen müssen – der Druck auf die Fußballklubs, die sich zudem in der Öffentlichkeit stets für das Fehlverhalten von Personen rechtfertigen müssen, die sie auch nicht in ihrem Stadion haben wollen.

In den Leipziger Derbys ist stets viel Feuer drin: Foto: Jan Kaefer
In den Leipziger Derbys ist stets viel Feuer drin: Foto: Jan Kaefer

Die Vereine sind oftmals allerdings machtlos, sehen sich gesellschaftlichen Fehlentwicklungen ausgeliefert oder von der Justiz im Stich gelassen. So äußerte sich beispielsweise der damalige Lok-Präsident Steffen Kubald im Jahr 2007, als ein Straftäter mit der Auflage, einen Aufsatz schreiben zu müssen, davonkam. Herauszufinden, inwieweit die Justiz derzeit die Vereine durch Verurteilungen unterstützt beziehungsweise unterstützen kann, war das Ziel unserer Recherchen.

Für diese Berichterstattung hat die LEIPZIGER ZEITUNG (LZ) bei den zuständigen Polizeidienststellen und Staatsanwaltschaften zum aktuellen Stand der Ermittlungsverfahren nachgefragt sowie die Vereine FC Rot-Weiß Erfurt, 1. FC Lokomotive Leipzig, BSG Chemie Leipzig und den Bischofswerdaer FV über Informationen zum Umgang mit den verurteilten Straftätern gebeten.

Schweigen und Unkenntnis

Soviel zuerst: Weder Vereinsvertreter von Rot-Weiß Erfurt noch von Bischofswerda beantworteten uns die Frage: „Ist es im Kontext dieser Partie bisher zur Erteilung von Haus- bzw. Stadionverboten gekommen? Wenn ja, wie viele? Wenn nein, warum nicht?“ Der Pressesprecher des Bischofswerdaer FV meldete lediglich die Weiterleitung der Anfrage an den Präsidenten und – wie extra betont wurde – Rechtsanwalt Jürgen Neumann. Aber dieser blieb eine Replik schuldig.

Interessanterweise hatte Neumann nach der Partie im Frühjahr 2017 vom Verband gefordert, Lok aufgrund der Straftäter sogar aus dem Pokal auszuschließen. Von Rot-Weiß-Erfurt meldete sich nach mehrmaliger Nachfrage schließlich der Sicherheitsbeauftragte David Erhard, der keinerlei Kenntnisse darüber hat, ob es Stadion- und/oder Hausverbote im Kontext des Spiels im Jahr 2015 gab. „Das war noch in der Zeit des alten Präsidiums. Uns wurden dazu keine Unterlagen hinterlassen. Wir wissen auch nichts von den Sachverhalten, weil es Zivilklagen waren.“

Allein rund um dieses Spiel wurden in Erfurt weit über 100 Ermittlungsverfahren „gegenüber 100 namentlich bekannte Tatverdächtige und mehrere Dutzend gerichtliche Verfahren – Anklagen, Strafbefehle – geführt“, so Grünseisen. Anhand von Videomaterial und der Vernehmung szenekundiger Polizeibeamter und Personalienfeststellung vor Ort war man Tätern auf die Schliche gekommen.

Keine Konsequenzen und die Fortsetzung der Gewalt

Fast knapp zwei Jahre nach dem Schock von Erfurt kam es beim Sachsenpokal-Halbfinale beim Bischofswerdaer FV erneut zu ungewöhnlich schweren Straftaten. Der nur mit Bauzäunen gesicherte Gästeblock erwies sich für das Gewaltpotenzial, welches das Auswärtsspiel besuchte, als ansprechendes Betätigungsfeld. Zu viel Alkohol gab zahlreichen Personen den Rest.

Außerdem waren örtliche Polizei und Sicherheitsdienst mangelhaft vorbereitet, eine Abstimmung zwischen den Vereinen fand unzureichend statt. Bei den Sicherheitsberatungen im Vorfeld wurde kein Protokoll erstellt, um Kompetenzen abzugrenzen, und vor Spielbeginn war es 120 Personen gelungen, unkontrolliert ins Stadion zu gelangen. Personen aus dem Bischofswerdaer Zuschauerbereich feindeten Personen im Gästeblock an. Lok Leipzig stand erneut im Zentrum der Berichterstattung – und wehrte sich.

Pyrotechnik und eine brennende Chemie-Fahne auf Lok-Seite. Foto: Jan Kaefer
Pyrotechnik und eine brennende Chemie-Fahne auf Lok-Seite. Foto: Jan Kaefer

„Unter diesen Personen befanden sich u. a. Leute aus Lok-fremdem Umfeld, Personen mit bundesweitem Stadionverbot und Personen, die in Probstheida seit geraumer Zeit Hausverbot haben.“ Auf Nachfrage erklärte Lok-Vizepräsident Alexander Voigt: „Wir kommen uns von der Justiz im Stich gelassen vor. Wir müssen ständig hinterhertelefonieren und stehen derweil jede Woche vor demselben Problem, dass wir Fußballspiele absichern müssen.“

Die Polizei in Bischofswerda hat mittlerweile, im November 2019, alle 72 Ermittlungsverfahren abgeschlossen und an die Staatsanwaltschaft übermittelt. 31 Beschuldigte konnten bekannt gemacht werden. Insgesamt 22 Anzeigen bearbeitete die Staatsanwaltschaft Görlitz schließlich.

„Von den 22 Verfahren gegen identifizierte Tatverdächtige [wurden] fünf eingestellt, in einem Fall erfolgte die Abgabe des Verfahrens an eine andere Staatsanwaltschaft nach dem Jugendgerichtsgesetz (JGG); in den verbleibenden 16 Fällen wurde entweder Anklage erhoben oder Antrag auf Erlass eines Strafbefehls gestellt. Dabei ging es um unterschiedliche Tatvorwürfe, insbesondere waren dies Landfriedensbrüche, Verstöße gegen das Versammlungsgesetz, Sachbeschädigungen und Beleidigungen. Von den 16 hier durch Strafbefehlsantrag oder Anklageerhebung abgeschlossenen Verfahren endeten bislang zehn mit rechtskräftigen Verurteilungen, in zwei Fällen erfolgte bei Gericht eine Einstellung. Die verbleibenden vier Verfahren sind noch beim zuständigen Amtsgericht Bautzen anhängig“, informiert Staatsanwalt Christopher Gerhardi.

Mehr als zweieinhalb Jahre nach Abpfiff ist dieses Spiel noch immer nicht abgeschlossen und eventuelle Straftäter können deutschlandweit in Stadien ihr Unwesen treiben. Der 1. FC Lok hat seitdem weit über 80 Pflichtspiele bestritten, zu denen diese Personen hätten auftauchen können.

Das Leipziger Derby von 2017

Deutlich umfangreicher war die Ermittlungsarbeit bei der Staatsanwaltschaft Leipzig, die nach dem Derby zwischen Lok und Chemie am 22. November 2017 im Bruno-Plache-Stadion gegen Zuschauer aus beiden Zuschauerbereichen ermittelte. „Während des Spiels kam es zu Unterbrechungen, da durch beide Fanlager auf den Tribünen Pyrotechnik und Rauchtöpfe gezündet wurden. Zudem wurden auf beiden Seiten Raketen gezündet. Im Anschluss daran versuchten mehrere Fans der Heimmannschaft auf die Gegenseite, mithin in die Fanblöcke der Gästefans zu gelangen.

Im Chemie-Fanblock werden Lok-Fahnen zerstört. Foto: Jan Kaefer
Im Chemie-Fanblock werden Lok-Fahnen zerstört. Foto: Jan Kaefer

Während des gesamten Spielverlaufs kam es immer wieder dazu, dass sich die Fans beider Fanlager vermummten, indem diese Sturmhauben, Schals oder andere Kleidungsstücke ins Gesicht zogen, sodass eine Identifizierung nicht mehr möglich war“, so Staatsanwalt Andreas Ricken von der Staatsanwaltschaft Leipzig. Laut aktuellem Stand der Ermittlungen werden beziehungsweise wurden gegen 366 Beschuldigte Strafverfahren geführt.

Allein 301 Person wurden des besonders schweren Fall des Landfriedensbruchs beschuldigt. Nach dem Spiel hatte die Polizei alle Zuschauer in der Fankurve des 1. FC Lok zum Bleiben gezwungen. Von jeder Person wurden die Personalien aufgenommen. Gegen 299 wurde das Verfahren eingestellt, gegen zwei Anklage erhoben, einer wurde verurteilt.

Außerdem laufen Strafverfahren wegen folgender Verstöße: Versuchte Strafvereitelung (2 Beschuldigte), Verstoß gegen das SächsVersG, also Verstoß gegen das Vermummungsverbot (56 Beschuldigte), Beleidigung (3 Beschuldigte), Gefährdung des Straßenverkehrs (1 Beschuldigter), Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz (1 Beschuldigter), Gefährliche Körperverletzung (1 Beschuldigter), Körperverletzung (1 Beschuldigter).

Wegen des Versuchs der Strafvereitelung wurde gegen beide Verdächtige Anklage erhoben, 49 Beschuldigte wurden wegen des Verstoßes gegen das Vermummungsverbot angeklagt, 25 verurteilt, 18 stehen noch aus, fünf Verfahren wurden eingestellt und ein Angeklagter freigesprochen. Gegen zwei Personen wurde wegen Beleidigung ein Strafbefehl der Staatsanwaltschaft erlassen, die restlichen Verfahren wurden allesamt eingestellt. Unterm Strich führte die Staatsanwalt 366 Strafverfahren aus denen 55 Anklagen entstanden und bisher 28 Personen verurteilt wurden, 21 Klagen sind noch offen.

Nun ist die Frage, ob die 338 Personen, die nicht oder bisher nicht verurteilt wurden, allesamt tatsächlich unschuldig waren oder ob ihnen ihre Tat nicht nachgewiesen werden konnte. Was ist mit den etlichen Tätern, die in Erfurt nicht identifiziert werden konnten? Wie lange werden die offenen Verfahren noch dauern?

Und welche Handhabe haben die Vereine dann? Ein Haus- oder Stadionverbot ist für einen Verein schwer durchzusetzen.

Das Titelblatt der LZ 73, Ausgabe November 2019. Foto: Screen LZ
Das Titelblatt der LZ 73, Ausgabe November 2019. Foto: Screen LZ

Die Folge für die Vereine

„Wir bekommen von den Behörden nur Name und Adresse der verurteilten Personen. Aus datenschutzrechtlichen Gründen haben wir keine Fotos, die wir etwa unseren Ordnern zeigen könnten. Abgesehen davon, dass sich nicht alle Ordner alle Gesichter merken können“, so der Lok-Sprecher. Im Falle des Erfurt-Spiels erfuhr der 1. FC Lok zufällig von Verurteilungen. Die ersten Hausverbote, die der Verein damals erlassen hat, sind mittlerweile ausgelaufen.

Bei der BSG Chemie hat man bisher auf Haus- und Stadionverbote verzichten müssen: „Detaillierte Informationen zu Ermittlungsstand und verurteilten Personen liegen uns nicht vor. Wir vertrauen in die Arbeit der Behörden und Netzwerkpartner, dass die Straftäter bei nächsten Aufeinandertreffen Betretungsverbote oder ähnliche Auflagen erhalten“, so Mediensprecher René Jacobi.

Bleiben unterm Strich noch ein paar offene Fragen – vor allem: Warum gibt es keine Verzahnung hinsichtlich der Verfahren zwischen Vereinen auf der einen Seite sowie Polizei und Staatsanwaltschaft auf der anderen Seite? Denn sobald ein Verfahren eröffnet ist, dürfte die Polizei Stadionverbot beantragen und die Vereine dies aussprechen.

Derby-Nachwehen bei Lok und Chemie: „Zigeuner, Juden, Ultras Chemie“ laut Staatsanwaltschaft Leipzig nicht strafbar

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“Dreimal in den letzten viereinhalb Jahren kam es bei Spielen des 1. FC Lok Leipzig zu teils schweren Straftaten.” Man könnte das, da das letzte derartige Vorkommnis aus dem Frühjahr 2017 herrührt, allerdings auch so ausdrücken: “Seit zweieinhalb Jahren kam es bei Spielen des 1, FC LOK zu keinen schweren Vorkommnissen, die die Einleitung von Ermittlungsverfahren zur Folge haben mussten.”

“Ein Haus- oder Stadionverbot ist für einen Verein schwer durchzusetzen.” – Wenn einmal ein Stadion- oder Hausverbot ausgesprochen wurde, kann man es sehr wohl durchsetzen – allerdings nur bei Heimspielen. Bei Auswärtsspielen sind dann die jeweils anderen Vereine zuständig und wie “gut” das mitunter klappt, hat man ja in BW gesehen…

Allerdings kann man nur dann Verbote aussprechen, wenn man Namen hat. Da hüllen sich die staatlichen Organe allerdings viel zu oft und lange in Schweigen…

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