LEIPZIGER ZEITUNG/ Auszug Ausgabe 86, seit 18. Dezember 2020 im HandelDie Appelle aus der Politik waren eindringlich: „Bleiben Sie zu Hause!“ und „Vermeiden Sie unnötige Reisen!“. Als Mitte Oktober die zweite Corona-Welle merklich steigende Fallzahlen übers Land spülte, war die Sorge über eine unkontrollierbare Ausbreitung der Pandemie groß. Zumindest bei einem Teil der Bevölkerung. Dazu gehörten unter anderem die Hockey-Frauen des ATV-Leipzig.

Das quasi am Fuße des Völkerschlachtdenkmals beheimatete Team kämpfte schon zum damaligen Zeitpunkt hart um den Klassenerhalt in der 2. Bundesliga Süd im Feldhockey. Die bis dahin errungenen 8 Punkte reichten nur zum letzten Tabellenplatz. Doch es sollte sogar noch schlimmer kommen.

Am Donnerstag, 15. Oktober, hatte Deutschland 7.890 Neuinfektionen mit Covid-19 zu vermelden. So viele waren es an einem Tag bisher noch nie gewesen. In Leipzig war die Lage derweil noch entspannt. An eben diesem Rekordtag lag die Zahl der Neuinfektionen in der Messestadt noch immer im einstelligen Bereich.

Im gesamten Stadtgebiet hatte es seit dem Frühjahr überhaupt erst 1.067 Corona-Fälle gegeben. Auf die Zweitliga-Staffel des ATV Leipzig übersetzt heißt das: Die Leipzigerinnen waren das einzige Team, welches NICHT in einem Risikogebiet beheimatet war. Das erzeugte bei den Akteurinnen natürlich Kopfkino – ganz unabhängig davon, wie sehr sie ihren Sport lieben.

Das Titelblatt der LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 86, Ausgabe Dezember 2020. Foto: Screen LZ

Am Tag der Vermeldung dieses Corona-Rekord-Schocks stand für die ATV-Frauen ein abschließendes Training auf dem Programm. Denn der Spielplan sah für die Leipzigerinnen am Wochenende zwei Auswärtspartien in Bietigheim (Baden-Württemberg) und Nürnberg (Bayern) vor. Beides Risikogebiete. „Am Donnerstag vor den Spielen haben wir auf das Training verzichtet. Wir haben uns als Mannschaft zusammengesetzt und überlegt, was wir nun am besten machen“, blickt ATV Trainer Christian Hufnagl im Interview mit der Leipziger Zeitung (LZ) zurück.

Er selbst, sowie eine Spielerin waren im Vorfeld jeweils im K2-Kontakt gewesen. Die daraufhin getätigten Test fielen negativ aus, doch niemand aus der Truppe hatte Interesse daran, selbst zum aktiven Fall zu werden, bzw. das Virus unbemerkt an Risikogruppen weiterzugeben.

„Wir haben als Mannschaft einheitlich beschlossen: Wir fahren in kein Risikogebiet, leben aber auch mit den Konsequenzen“, erklärt Coach Hufnagl. „Wir haben wirklich jede Spielerin gefragt, jede konnte ihre Meinung frei äußern. Wenn sie das gewollt hätten, hätten wir auch weitergespielt. Aber von den 20 Mädels gab es keine, die das wollte. Alle haben gesagt: Das ist zu riskant.“

Den Grund lieferte der Trainer gleich mit: „Viele der Mädels sind in sozialen Berufen tätig und haben Risikopatienten. Sie haben sich nicht wohlgefühlt bei dem Gedanken, draußen herumzufahren, denn zu der Zeit ging es ja gerade richtig los mit den Ansteckungszahlen.“

Verständlich, dass daher bei einigen Arbeitgebern die Frage aufkam: „Was passiert, wenn man für sein Hobby in Deutschland herumfährt und positiv wiederkommt?“ Hufnagl selbst ist bei einem Automobilzulieferer angestellt. Auch dieser hatte ihm nahegelegt: „Das sind unnötige Fahrten, es wäre gut, wenn du die weglässt. Denn wir brauchen dich hier, und du verdienst hier auch dein Geld.“ Verbieten hätte es ihm die Firma rechtlich nicht dürfen, doch eine Konsequenz hätte sein können, 14 Tage unbezahlt zu Hause bleiben zu müssen.

Dazu kam, „dass der DHB vorher schon seine Jugendlehrgänge in Ludwigsburg aufgrund von Corona abgesagt hatte – und Bietigheim liegt ja im Kreis Ludwigsburg. Wir hätten aber dorthin fahren sollen. Das fanden wir unverhältnismäßig, das war aus unserer Sicht nicht gerecht“, so der Trainer. Daher beantragte der ATV Leipzig beim Deutschen Hockey-Bund kurzfristig die Verlegung der Spiele in Bietigheim (17.10.), Nürnberg (18.10.) und Mainz (25.10.).

„Unser Verein stand dabei voll hinter uns, denn Gesundheit geht vor. Die Abteilungsleitung und der Vereinspräsident haben gesagt: Das ist richtig so. Und es ist ja auch Amateursport und kein Profisport. Bei uns verdient niemand Geld damit.“ Beigelegt waren diesem Antrag auch die Arbeitgeber-Schreiben von fünf Stammspielerinnen – allerdings anonymisiert, „weil es den Verband ja nicht zu interessieren hat, welche Spielerinnen wo angestellt sind“.

Laut den Richtlinien können Bundesligaspiele verschoben werden, wenn mindestens fünf Stammspielerinnen coronabedingt nicht zur Verfügung stehen. Dem DHB reichten die Argumente der Leipziger aber nicht aus. Der Verband lehnte alle drei Anträge ab. So wurde beispielsweise bemängelt, dass aus den eingereichten Arbeitgeber-Schreiben aufgrund ihrer Anonymisierung nicht hervorgeht, ob es sich hierbei wirklich um Stammspielerinnen handelt.

Außerdem stünden in diesen Briefen sowieso nur allgemeine Anweisungen. „Aber ein Arbeitgeber darf diesbezüglich keine Pflichtanweisungen geben“, hat Hufnagl kein Verständnis für diese Argumentation. Der ATV blieb trotz des ablehnenden Bescheids in der Sache konsequent und reiste zu diesen drei Punktspielen nicht an.

ATV-Trainer Christian Hufnagl. Foto: Jan Kaefer
ATV-Trainer Christian Hufnagl. Foto: Jan Kaefer

„Wir wussten, dass das Punktabzüge geben kann, haben aber gesagt, wir leben mit den Konsequenzen, weil wir zeigen wollten, dass uns unsere Gesundheit wichtiger ist. Ich hätte es als Trainer nicht verantworten können, wenn sich eine meiner Spielerinnen ansteckt, vielleicht sogar in der Notaufnahme liegt. Und wer weiß denn, ob das Mädchen einen Herzfehler hat? Und wenn es ganz dumm kommt, stirbt sie vielleicht sogar daran. Wer übernimmt bei einem Hobbysport dafür die Verantwortung?“, fragt sich sicherlich nicht nur Christian Hufnagl.

Der Deutsche Hockey-Bund allerdings sanktionierte das Widersetzen der Leipziger „wegen schuldhaftem Nichtantreten in drei Fällen“ mit neun Punkten Abzug. Wir erinnern uns: Bisher hatte der ATV erst acht Punkte erringen können und steht durch die Bestrafung in Sachen Punkte nun sogar in den Miesen. Eine groteske Situation. Der Abstand zum Vorletzten beträgt damit nun schon 15 Punkte.

Die Entscheidung des Verbandes ist für den Verein umso unverständlicher, da es der DHB wegen der weiter ansteigenden Infektionszahlen den Mannschaften ab dem Spieltag am 31. Oktober dann doch selbst überließ, ob sie zu den Partien reisen wollen oder nicht. „Natürlich ist dann keine Mannschaft mehr draußen herumgefahren“, wundert sich Hufnagl nicht. Zudem wurde seitens des DHB am 25. November auch die komplette Hallenhockey-Saison abgesagt. Auf die Bestrafung von Leipzig hatte das jedoch keine Auswirkungen.

Im Eifer des Geschehens versäumte es der ATV Leipzig dann allerdings, fristgemäß gegen die Punktabzüge Widerspruch einzulegen. „Da gab es ein Kommunikationsproblem“, nahm Christian Hufnagl die verpasste Möglichkeit auf die eigene Kappe. Der Verein machte jedoch mit einem Offenen Brief auf seine Situation aufmerksam. Das von Hockey-Abteilungsleiter Ronny Anders verfasste zweiseitige Schreiben wurde unter anderem in der Deutschen Hockey Zeitung (24.11.2020) veröffentlicht.

„Dass wir durch Corona die neun Punkte verloren haben, hat für mich einen faden Beigeschmack“, resümiert Hufnagl. „Ich bin davon überzeugt, dass wir richtig gehandelt haben. Sicherlich entsprachen die Konsequenzen vom DHB deren Paragrafen, die aber – wie es auch in unserem Offenen Brief steht – nicht verhältnismäßig sind. Ich kann mich nicht in Ausnahmesituationen stur an Paragrafen halten. Da muss man von Fall zu Fall entscheiden, was sie in meinen Augen nicht gemacht haben. Das hätte man auch anders regeln können. Ich denke, sie haben den Punkt verpasst, an dem sie die Saison noch ohne Schaden hätten einfrieren können.“

Wann es sportlich auf dem Hockeyplatz weitergehen kann, steht aktuell in den Sternen. Fakt ist, dass der ATV die drei sanktionierten Partien sowie ein weiteres abgesagtes Spiel nachzuholen hat. Damit stehen für die Leipzigerinnen also insgesamt noch 12 Zweitliga-Partien auf dem Programm.

Die Chancen auf den Klassenerhalt sind mit -1 Punkt indes nicht gerade üppig, das ist Trainer Christian Hufnagl natürlich bewusst: „Ich bin Realist und weiß, wir haben ganz schlechte Karten. Aber ich bin trotzdem optimistisch, dass wir noch ein paar Mannschaften ärgern können und noch einige Punkte holen werden. Denn wenn wir von unseren vier Nachholspielen drei gewinnen, sind wir schon wieder bei der Ausgangsposition.

Danach geht es ja auch erst richtig los mit den Low-Five-Spielen. Da hast du noch mal acht Spiele, in denen du insgesamt 24 Punkte holen könntest. Und du triffst da unten ja nur auf Mannschaften, die alle auf deinem Niveau spielen. Wir haben nichts zu verlieren und können ganz ohne Druck und ohne Kopfkino Hockey spielen. Also ich schreibe uns noch nicht ab, wir werden angreifen!“

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