Als Harald Meller 2001 zum ersten Mal von einem besonderen Schatzfund aus dem Süden Sachsen-Anhalts erfuhr, war er gerade frisch auf dem Posten des Landesarchäologen in Halle. Und er ahnte nicht, was für ein Abenteuer in der arg lädierten Scheibe steckte, die auf den Fotos zu sehen war, die ihm sein Berliner Kollege zeigte. Der erste Teil des Abenteuers machte in den Medien schon Furore. Der zweite war ein echter archäologischer Krimi.

Gegen den verblasst der erste Krimi um die beiden Schatzgräber, die im Sommer 1999 mit dem Metalldetektor auf den Mittelberg stiegen und dort unverhofft auf einen Schatz mit Schwertern, Beilen, Armringen und der ungewöhnlichen 2 Kilogramm schweren Scheibe stießen, beinah.

Auch wenn es selbst für Dr. Harald Meller zu einem schweißtreibenden Einsatz als Lockvogel in der Schweiz wurde, wo sich die beiden Hehler mit ihm trafen, die ihm die Scheibe für einen dicken sechsstelligen Betrag verkaufen wollten. Doch das war kriminell. In Sachsen-Anhalt gilt das Schatzregal. Was im Boden gefunden wird, gehört dem Bundesland. Die Schatzgräber hätten postwendend das Landesamt für Archäologie informieren müssen.

Aber als Meller und seine Kollegen 2002 erstmals den Fundort auf dem Mittelberg besichtigten, ahnten sie schon etwas. Es war der Zeitpunkt, an dem eines der aufregendsten archäologischen Forschungsprojekte begann. Und dass dabei ein ganzes unbekanntes Reich zum Vorschein kam, hat genau mit dieser Scheibe zu tun, von der nur ganz am Anfang noch vermutet wurde, sie könnte einfach nur ein Import aus einer der bekannten Kulturen im Süden gewesen sein – aus Babylon zum Beispiel, das zeitgleich genauso in Blüte stand wie die Kulturen von Kreta, Mykene und Ägypten.

Doch als sich dann die Metallurgen der Scheibe widmeten, war schnell klar, dass diese Scheibe nicht im Zweistromland entstanden war, sondern mit ziemlicher Sicherheit genau hier – irgendwo in der Gegend östlich des Harzes, in einer reichen Schwarzerderegion, in der nur wenige Jahrhunderte zuvor die – nach dem typischen Keramikgut, das in ihren Gräbern gefunden wurde – sogenannten Glockenbecherleute auf die schon hier siedelnden Schnurkeramiker trafen.

Beides übrigens Einwanderergruppen aus den Steppengebieten Südrusslands und Asiens. Die sich – da werden Harald Meller und sein Co-Autor, der Historiker Kai Michel, sogar ein bisschen sarkastisch – wohl zu Recht geärgert hätten, wenn ihre Kultur ausgerechnet durch die Form ihrer Trinkgefäße gekennzeichnet worden wäre.

Die berühmte Himmelsscheibe von Nebra. Foto: Landesmuseum für Vorgeschichte Halle
Die berühmte Himmelsscheibe von Nebra. Foto: Landesmuseum für Vorgeschichte Halle

Denn die Glockenbecherleute waren für ihre Zeit ein modernes Volk – waren hochmobil, hatten das Pferd gezähmt und wohl auch schon Ochsengespanne. Und sie beherrschten augenscheinlich auch schon den Umgang mit Metall. Wir sind genau an der Scheide zwischen der sogenannten Jungsteinzeit und der Bronzezeit.

Und Meller und Michel werden nicht ohne Grund ein bisschen ironisch, sehr diskussionsfreudig und phantasievoll, denn natürlich ärgern sie sich – wie richtige Wissenschaftler – auch ein bisschen, dass wir partout weder die Namen der handelnden Völker, noch Personen kennen. Nichts. Sie hatten keine Schrift. Anders als die zeitgleichen Babylonier, die uns mit ihrer Keilschrift auch gleich noch ihre berühmten Göttermythen überliefert haben.

In Mitteleuropa gab es noch keine Schrift. Und zu Ende des Buches hin erklären die beiden Autoren auch, warum die Menschen – obwohl sie intensive Handelsbeziehungen hatten und nachweislich eine hochkomplexe Kultur – keine Schrift brauchten. Das sind die Stellen im Buch, die fast zu einer Streitschrift werden, weil all das, was die Archäologen in Sachsen-Anhalt ab 2002 alles ausgruben, von einer Staatenbildung erzählt, die sich völlig von der in der bekannten klassischen Antike unterscheidet.

Die Fundstellen ihrer Kultur findet man nicht nur in Sachsen-Anhalt. Auch die Leipziger Region gehört dazu. Und als irgendwann um das Jahr 2000 vor unserer Zeitrechnung das Reich von Nebra entstand, erstreckte es sich auch über die Weiße Elster. Markante Funde aus dem Raum Dieskau und Zwenkau erzählen davon. Aber die Dimension dieses frühen Staates mussten die Archäologen erst einmal herausfinden.

Und dass sie tatsächlich nach einem richtigen Staat suchten, wurde so richtig klar, als nicht nur die Herkunft der Metalle, aus denen die Himmelsscheibe geschmiedet war, geklärt war (das Kupfer kam aus dem heutigen Österreich, das Gold aus Wessex in England) und damit ein frühes, neolithisches Handelssystem quer durch Europa, sondern auch die Botschaft der Scheibe. Die astronomischen Informationen der Himmelsscheibe sorgten erst recht dafür, die Suche nach einem Reich zu starten, in dem die Herrschaft über den Kalender für eine Herrschergruppe Sinn machte.

Denn die Scheibe ist tatsächlich komprimiertes astronomisches Wissen. Aber solches, das im schriftlosen Mitteleuropa kaum zu gewinnen war. Deswegen scheint auch hier eine Beziehung zum fernen Zweistromland nahezuliegen. Und der Leser beschäftigt sich mit den beiden Autoren gemeinsam mit einer Sternengruppe, nach der man sich am heutigen lichtverschmutzten Himmel oft vergeblich den Hals verrenkt: den Plejaden. Die spielen in den babylonischen Mythen eine zentrale Rolle. Und sie sind als Siebengestirn auf der Himmelsscheibe unübersehbar.

 

Videoclip: Reise zu den  Plejaden.

Auch wenn dann die Reise eines Fürstensohnes aus dem Reich von Nebra nur eine Phantasie sein kann – sie gehört als Puzzlestein in all die Überlegungen, mit denen Meller und Michel die in den vergangenen 16 Jahren gesammelten Erkenntnisse versuchen zu bündeln. Was dabei entsteht, ist die Kontur eines Staates, der vor rund 4.000 Jahren genau hier in Mitteldeutschland entstand. Und welche Ausmaße er hatte, wurde erst so richtig sichtbar, als die Archäologen begannen, auf Luftbildaufnahmen nach verschwundenen Heiligtümern und Hügelgräbern zu suchen.

Denn dass die Himmelsscheibe von Nebra mit der Existenz damaliger Fürsten zusammenhängt, belegten die Recherchen zu zwei bekannten alten Hügelgräbern ganz in der Nähe des Mittelbergs. Wer auf der Autobahn dran vorbeifährt, sieht die großen Tafeln, die darauf hinweisen. Es waren die Metalle aus diesen Gräbern, die den Archäologen klarmachten, dass die Hügelgräber und die Scheibe etwas miteinander zu tun haben – denn die Metalle stammten aus derselben Quelle.

Die Leser dieses durchaus mit Phantasie und Verve geschriebenen Buches sind mittendrin in dieser stückweisen Entdeckung eines Staates, den sich Archäologen um diese Zeit in Mitteleuropa nicht vorstellen konnten. Bis zum Ende der Völkerwanderungszeit (2.000 Jahre später!) galt das ganze Gebiet noch als außerhalb jeder ernsthaften Geschichte liegend – als regelrechte Vorgeschichte.

Wer die einschlägigen Bücherstapel zur ruhmreichen Zivilisationsgeschichte kennt, weiß, wie sehr die Historiker bislang von den sogenannten Hochkulturen im Nahen Osten und im Zweistromland fasziniert sind. Der Glanz blendet regelrecht, sodass man fast vergisst – mit Bertolt Brecht – zu fragen, wer denn eigentlich den ganzen Reichtum erarbeitet hat, die Felder bebaut, das Mehl gemahlen und das Brot gebacken hat, und wie diese frühen Zivilisationen eigentlich funktionierten. Leute wie der berühmte König Hammurabi aber waren keine freundlichen Herrscher. Frühe Staaten waren Despotien, strengstens hierarchisch gegliedert. Und wirklich ein gutes Leben führte darin nur die kleine, reiche Herrscherelite.

Dazu gibt es ein eigenes Kapitel im Buch. Und auch hier können sich die Autoren auf Forschungen berufen – denn wie gut oder schlecht sich Menschen ernährten, ist bis heute an ihren Skeletten bzw. den Zähnen ablesbar. Und mit Recht drehen Meller und Michel die alte These der Historiker um: Staaten entstanden nicht, weil es den Menschen so gutging, sondern weil ökonomische und ökologische Zwänge rigide Herrschaftssysteme hervorbrachten, mit denen Knappheit und Krisen erst bewältigt werden konnten.

Auch deshalb sah das Staatsgebilde, das da nach Verschmelzung der Schnurkeramiker und Glockenbecherleute im Raum zwischen Harz und Elbe entstand, anders aus als die Königreiche im einstigen „Garten Eden“. Es gab keine protzigen Paläste, keine himmelragenden Tempel aus Stein, auch keine Prachtstraßen mit Götterstatuen.

Trotzdem können die Forscher heute einiges erzählen über die Glaubenswelt der Menschen in diesem verschollenen Reich. Denn zu den Funden der umfassenden Luftbildsuche gehörten auch die beiden heute bekannten Rundheiligtümer in Pömmelte und Schönebeck, die zeitlich in die Frühzeit der Himmelsscheibe gehören.

Und zu den (Wieder-)Entdeckungen gehört auch das einst riesige Hügelgrab des Herren von Dieskau, einst eine weit sichtbare Landmarke mit dem Namen Bornhöck, die im 19. Jahrhundert – so wie die meisten verbliebenen Hügelgräber in Mitteldeutschland – abgetragen wurde. Ausgeraubt wurde das Grab aber wohl schon im 12. Jahrhundert. Einen Verdächtigen präsentieren Meller und Michel auch. Und man spürt, dass sie den Burschen gern genauso vor Gericht gebracht hätten wie die modernen Hehler der Himmelsscheibe.

Denn die Raubgräber des Mittelalters haben natürlich auch viele, viele Spuren zu jener einzigartigen Kultur vernichtet, die die heutige Archäologie mit viel Aufwand aus den Spuren im Boden rekonstruieren muss. Die gewaltige Forschungsarbeit ab 2002 aber sorgte für einige spektakuläre Ausgrabungsarbeiten in Sachsen-Anhalt. Es ist ein gewaltiges Puzzle, das die beiden Autoren hier zusammensetzen – wissend, dass es noch viele weiße Flecken gibt, riesigen Forschungsbedarf für die Zukunft.

Denn mit dem Nachweis eines frühen Staates mitten in einer Zeit, in der die Forschung bislang nur reine Stammeskulturen in Mitteleuropa vermutete, zeichnet sich ja erst ab, wie komplex die Aunjetitzer Kultur tatsächlich schon war, welche Rolle das Herrschaftswissen über Metalle und Legierungen spielte und wie stark Wissen Grundlage von Macht war – und bis heute ist. Was die beiden ganz am Ende dann auch noch in sieben beachtlichen „Lehren der Himmelsscheibe“ komprimieren.

Denn die Scheibe stellt einige bislang für die Forschung selbstverständliche Lehrsätze gründlich infrage. Angefangen von der Rolle der Schrift in der Zivilisation bis hin zu den despotischen „Hochkulturen“ an Euphrat und Nil. Die Rolle der Religion nicht zu vergessen, die die beiden Autoren ebenfalls in die Grundlagen entstehender Staaten einordnen. Viele neuere Erkenntnisse zur Himmelsscheibe und zu den Funden im „Reich von Nebra“ haben Meller und Michel hier erstmals verdichtet zusammengetragen.

Und sie häufen sie nicht einfach an, sondern diskutieren sie so, dass die Leser verstehen, warum so eine faszinierende Himmelsscheibe ein komplexes Staatsgebilde regelrecht bedingt und warum sie eine echte Aufforderung ist, die Spuren dieses erstaunlichen Staatsgebildes zu suchen, das rund 400 Jahre lang an Saale und Elbe existierte, bis es um 1.600 vor unserer Zeit verschwand und die Scheibe sorgsam auf dem Mittelberg deponiert wurde.

Ein weltberühmter Vulkanausbruch, der auch für den Untergang der Minoischen Kultur auf Kreta verantwortlich war, könnte auch für das Ende des Reichs von Nebra verantwortlich sein. Das ist zumindest eine naheliegende Vermutung.

Noch sind viele Fragen rund um diese einzigartige Kultur offen. Das Buch erzählt zum ersten Mal davon in erstaunlichem Farbenreichtum, dass es tatsächlich ein solches markantes Staatsgebilde mitten in unserer Gegend gab. Dass unsere Vorgeschichte also wesentlich reicher ist, als bisher vermutet. Was ja selbst unsere DNA verrät. Denn wir sind ja die Nachkommen der Aunjetitzer Kultur. Und unser Übergang von der Jungsteinzeit (mit ihren markanten Steinbeilen) zum Bronzezeitalter ist eine Geschichte, deren Faszination die Forschung erst jetzt so richtig sichtbar macht.

Man muss nicht mal nach Stonehenge fahren, um in dieses Zeitalter einzutauchen. Das rekonstruierte Heiligtum von Pömmelte, die Arche Nebra und das Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle, wo die Himmelsscheibe ausgestellt ist, laden direkt dazu ein, das Sonnenreich von Nebra zu entdecken. Welche Rolle die Sonne, der Mond und die Plejaden für dieses Reich spielten, erzählen Harald Meller und Kai Michel ebenfalls ausführlich. Mit spürbarem Dank an all die Fachwissenschaftler, die in den vergangenen Jahren dabei geholfen haben, das geschmiedete Geheimnis der Scheibe zu enthüllen.

Harald Meller; Kai Michel Die Himmelsscheibe von Nebra, Propyläen Verlag, Berlin 2018, 25 Euro.

Die neue Leipziger Zeitung Nr. 59 ist da: Zwischen Überalterung und verschärftem Polizeigesetz: Der Ostdeutsche, das völlig unbegreifliche Wesen

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