Wenn Städte etwas größer werden, schafft man sie wirklich nicht mehr an einem Tag zu durcheilen. Das ist bei Berlin so, für das der Lehmstedt Verlag schon einige einzelne Stadtteilführer aufgelegt hat. Das ist aber selbst in Leipzig so. Man ist in völlig verschiedenen Welten unterwegs, wenn man durch Plagwitz flaniert, durch Gohlis spaziert oder im Zickzack durch die Südvorstadt eilt. So wie Heinz Peter Brogiato in diesem Stadtteilführer.

Wobei es dem gestandenen Geographen ganz ähnlich geht wie anderen Autoren auch, die das Phänomen Südvorstadt zu erfassen versuchen. Rein amtlich ist alles klar. Aber dann hätte Brogiato nicht am Wilhelm-Leuschner-Platz loslaufen dürfen. Historisch geht’s sowieso munter drüber und drunter, denn in den amtlichen Katastern findet man die eigentlichen Ursprünge der südlichen Stadterweiterung nicht (mehr). Sie hießen mal Kauz oder Petersvorstadt – ein Begriff, der erstaunlicherweise nicht vorkommt. Dafür haben es die beiden Vorwerke Storchsnest und Brandvorwerk geschafft.

Das Problem?

Selbst diese Vorstadt beherbergt so viel Stoff, dass wahrscheinlich jeder einwohnende Südvorstädter sagen würde: Das schafft man nicht an einem Wochenende. Da braucht man wohl eher eine Woche. Erst recht, wenn man an der Trinitatis-Kirche losläuft, weil das logisch ist. Eigentlich müsste man sogar an der Petersstraße loslaufen, wo noch bis 1860 das sehenswerte Peterstor stand, benannt nach der benachbarten Peterskirche, deren Nachfolgerbau ja bekanntlich 1882/1885 auf dem Schletterplatz (dem heutigen Gaudigplatz) entstand.

Man ist ja eigentlich bis zum ehemaligen Torwärterhaus am Südplatz (heute: Killywilly) die ganze Zeit in der Petersvorstadt unterwegs, die heute unter dem nichtssagenden Namen Zentrum-Süd verschwunden ist. Eigentlich müsste man dafür kämpfen, dass der Name wieder ins Stadtbild zurückkehrt. Natürlich ist die Tour, die Brogiato wählt, logisch, denn mit dem ehemaligen Königsplatz (Wilhelm-Leuschner-Platz), dem Peterssteinweg und der Münzgasse ist man – für die Südvorstadt betrachtet – auf ganz historischem Pflaster.

Hier stehen noch Häuser aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, gibt es Erinnerungen an den alten Schießgraben, die Leipziger Münzstätte und das Römische Haus (das man sich freilich imaginieren muss), wird die Mediengeschichte am LVZ-Standort und am Floßplatz erzählt und die Brauereigeschichte in der Emilienstraße, darf man das Liebknecht-Haus nicht verpassen, denn die Südvorstadt ist rappelvoll mit Geschichten an die frühe Sozialdemokratie.

Als sie noch bissig und kämpferisch war: Wilhelm und Karl Liebknecht, August Bebel. Aber selbst ein Mann wie Erich Schilling gehört noch dazu, der im Garten des Volkshauses 1947 ein Heine-Denkmal aufstellen ließ, wenig später aber Leipzig verließ, weil er die Gleichschaltung der SPD in der SED nicht mitmachen wollte.

Dass Brogiato gelernter Geograph ist, merkt man, wenn er zu den markanten Gebäuden, die er für den Rundgang ausgewählt hat, auch stets noch die Vor- und Baugeschichte samt Architekt und Bauherr erzählen kann. Denn wer es nicht weiß, sieht die Schmuckstücke vor lauter Schmuckstücken nicht. Und auch nicht die klug gedachte Bauplanung der Südvorstadt – plus Petersvorstadt, muss man sagen. Während die Petersvorstadt 1858 schon ihren Bebauungsplan erhielt, gab es den für die Felder an der Straße nach Connewitz (die heutige Kochstraße) erst 1866. Die Stadt war tatsächlich in ihre völlig neuen Herausforderungen eingetreten, die die Wachstumsphase mit sich brachte, in der man das Anlegen von Parzellen nicht mehr nur privaten Grundstücksbesitzern überlassen konnte. Dazu war das Wachstumstempo zu hoch.

Deswegen ist die Südvorstadt mit ihren vier prägenden Prachtalleen (KarLi, August-Bebel-Straße, Richard-Lehmann-Straße und Kurt-Eisner-Straße) so aus dem Rahmen fallend. Das findet man so in keinem anderen Leipziger Ortsteil. Auch wenn einige Kriegsverluste den Straßen da und dort ihr einstiges Gepräge genommen haben. Aber im Grundbestand kann sich die Südvorstadt locker mit dem Waldstraßenviertel messen, auch wenn sie (von der August-Bebel-Straße abgesehen) nie das Quartier des gehobenen Bürgertums war. Hier lebten eher die Angestellten, in etlichen Straßenzügen auch die Malocher mit ihren vielen Kindern. Und dass fast hinter jedem heute so prächtig sanierten Haus noch bis in DDR-Zeiten Hinterhäuser mit Werkstätten und kleinen Fabriken standen, muss Brogiato extra betonen. Denn das Meiste davon ist „entkernt“ worden, anderes hat sich in attraktive Wohnungen verwandelt.

Dafür sind einige einst strukturgebende Gebäude verschwunden – wie die Andreaskirche auf dem heutigen Alexis-Schumann-Platz, die erste „Tochterkirche“ der Petersgemeinde, die drei wichtigen Schulgebäude am heutigen Albrecht-Dürer-Platz. Immerhin das Carola-Gymnasium darunter, wo einst Hans Fallada lernte. Zumindest bis zum Rausschmiss nach seinem ersten kleinen Skandal.

Dabei hält sich Brogiato noch zurück mit der Erwähnung berühmter Persönlichkeiten. Denn auch wenn es nur eine recht überschaubare Zahl von Erinnerungstafeln an den Häusern gibt (Fallada hat eine), wohnten über kurze oder längere Zeit viele bekannte Leipziger und Ex-Leipziger in diesem beliebten Wohnquartier. Kästner findet Erwähnung, Lene Voigt nicht. Man ahnt schon, dass das, wenn es Brogiato wirklich systematisch betrieben hätte, den Spazierführer gesprengt hätte.

Denn natürlich hat es mit der Frage zu tun, warum gerade die Südvorstadt immer attraktiver war als andere Leipziger Ortsteile. Selbst in DDR-Zeiten, als sich hier erste Kultur-Hotspots herausbildeten. Heute gehören sie wie selbstverständlich zur sogenannten „Erlebnismeile“ KarLi. Vielleicht ist es aber genau das – diese wie selbstverständliche Verbindung von city-nahem Wohnen, bunter Gastronomie, Tradition (Café Grundmann, Maitre) und Kultur der anspruchsvollen Art (Feinkost, naTo, Horns Erben).

Natürlich gibt es auch den Abstecher auf den Fockeberg und am Ende ein Finale am MDR-Sendezentrum und Yadegar Asisis Panometer. Da dürfte dann auch noch dem Letzten der Fuß qualmen, vor allem, weil’s vorher noch lange Abstecher zur Stadtteilbibliothek und zur Media City gab. Man merkt schon, dass man hier durch einen der bevölkerungsreichsten Leipziger Ortsteile läuft – oder eben durch zwei. Und dass hier die Mischung irgendwie stimmt, dass also die Planer 1866 vieles richtig gemacht haben. Heute findet man natürlich auch einige modernere Akzente in den Straßen, so wie die Filiale der Bundesbank mit ihren glänzenden Metallvasen. Aber selbst 150 Jahre haben durchaus gereicht, hier einen Hauch von gewachsener Geschichte entstehen zu lassen, der sich augenscheinlich bestens mit Kindern, Spielplätzen und der spürbaren Nachbarschaft zu Musikviertel und Connewitz verträgt.

Heinz Peter Brogiato Leipziger Spaziergänge, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2018, 6 Euro.

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