Wenn die Folgen der Corona-Pandemie etwas deutlich machen, dann ist es die Tatsache, wie sehr Menschen eigentlich darauf angewiesen sind, zueinanderzukommen. In kleinen Gruppen, in großen. In fröhlicher, unbeschwerter Gesellschaft. Und nun das: Dieses Nichtstattfinden, das vor allem all jene Künstler und Veranstalter trifft, die darauf angewiesen sind, dass Menschen zu ihren Veranstaltungen kommen. Und dabei wollte auch die Gesellschaft für Zeitgenössische Lyrik den Welttag der Poesie feiern.

Der Welttag der Poesie ist ganz offiziell am 21. März. Seit 2000 wird er begangen, gefeiert, zelebriert. Menschen werden zum Gedichtehören eingeladen. Künstler zeigen, wie Gedichte wirken, wenn man das herausholt, was in ihnen steckt. Die Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik hatte gleich ein Dutzend Lesungen geplant und organisiert. Und nun das: Sie alle müssen ausfallen. In Neusäß genauso wie in Döbeln, Braunschweig, Köln, Bremen, Bielefeld, Saalfeld oder Berlin.

In Leipzig hätten Carl-Christian Elze, Ina Gille, Peter Gosse und Ralph Grüneberger am Samstag sogar in den Botanischen Garten eingeladen: Gedichte unter tropischen Gewächsen. Und nun das. Alles musste abgesagt werden. Genauso wie schon die Poesiealbum-Lesungen zur Leipziger Buchmesse. Dichter/-innen mögen zwar Stille und Besinnung. Aber sie brauchen auch das Publikum.

Auch für die Vorstellung dessen, was aus ihren Texten so alles entsteht. Das sind ja nicht nur Poesiealben und Gedichtbände. Manchmal sind es auch Hörbücher, so wie 2018, als die Gesellschaft ein besonderes Bändchen veröffentlichte: „Wassertropfen und Seifenblase“, lauter ausgewählte Gedichte von Joachim Ringelnatz, der damals gerade seinen 135. Geburtstag hatte. Dem Bändchen beigelegt war eine Hörbuch-CD, auf der die Gedichte alle noch einmal von begabten Sprecher/-innen eingelesen waren.

Das Ganze war eine Einladung: Denn mit diesem Material veranstaltete die Lyrikgesellschaft ihren neuen Gedichtfilmwettbewerb, den mittlerweile vierten. Den vorhergehenden gab es 2017 unter dem Motto „Tugenden & Sünden“. 28 Beiträge aus diesem Wettbewerb enthält jetzt diese DVD, einige ganz nah dran an Joachim Ringelnatz, andere in spielerischer Distanz.

Manche heiter, geradezu mit Lust inszeniert, andere regelrechte kleine Filmerzählungen, in denen die skurrilen Helden der Ringelnatzschen Gedichte lebendig werden. Eine Inszenierung, die gerade Kinder sehr mögen, die in mehreren dieser Filmclips mit einem geradezu unerhörten Ernst in die Gedichthandlungen schlüpfen und manchmal auch drüber hinausgehen.

Denn Ringelnatz ist eben nicht nur einfach lustig. Was wie Spaß und Spiel wirkt, birgt in der Regel einen tiefen Lebensernst. Wahrscheinlich hat nie ein Dichter dieses verschmitzte Lächeln je so perfekt hingekommen, wenn ihm eigentlich zum Heulen wie ein Schlosshund gewesen ist. Egal bei welchem Thema, ob bei der Liebe, der Sehnsucht nach dem Meer oder der Erinnerung an die Kindheit.

Und wie sehr die Gedichte sogar unsere heutigen Probleme und Problemchen anreißen, machen dann die von den Filmautoren gefundenen Bilder deutlich. Wir verlieren uns zwar gern in lauter technischen Welten. Aber im Urgrund sind wir noch immer genauso verwirrt, verunsichert und ratlos wie Ringelnatz. Der hat es nur pointierter aufs Papier gebracht, ein paar schöne Abkürzungen gefunden und ansonsten immer gewusst, dass der Boden unter den Füßen aus dünnem Eis besteht, dass alles gefährdet ist und nichts sicher, schon gar nicht das Geld und ein Dach über dem Kopf.

Was erstaunlicherweise gerade einige junge Filmemacher dazu anregte, sich darüber Gedanken zu machen, was Heimat für sie ist. Wie wenig es braucht, um eine Heimat zu haben. Und wie wenig, gar keine mehr zu haben und ein Rast- und Ruheloser zu werden wie dieser Joachim Ringelnatz.

Der sich immerfort sehnte. Denn auch die Zeit, in der er schrieb, war ja eine Ruhelose. Alles war in Bewegung. Und damit unsicher. Und die Sehnsucht groß – so wie in „Zu Dir“, das gleich mehrfach in einen Film verwandelt wurde und das auch von den Gefahren des Reisens über Mauern und Stacheldraht erzählt. Ein ganz heutiges Thema.

Ein anderes konnte auch Ringelnatz noch nicht ahnen, obwohl allerlei sehr ernsthaftes Getier durchaus vorkommt in seinen Gedichten: die Klimaerwärmung, die uns heute zu schaffen macht. Als die Lyrikgesellschaft ihre Veranstaltungen zum Welttag der Poesie vorbereitete, loderten gerade die riesigen Buschbrände in Australien, weshalb sich die Gesellschaft kurzerhand entschloss, die entstehende Gedichte-DVD mit einem 5-Euro-Obulus für die Opfer der Brandkatastrophe in Australien zu verkaufen. Eine zusätzliche Beziehung gibt es durch die Gewinnerin des Filmwettbewerbs, die in Australien lebt. Ein anderer Beitrag kam aus England.

Und wer sich in das kleine Gedichtfilm-Programm vertieft, erlebt, wie vielfältig die Herangehensweisen nicht nur der Filmemacher sind, sondern auch, wie unterschiedlich die Ringelnatztexte wirken und verstanden werden. Was Ringelnatz-Liebhaber ja eh schon wissen: Diese Texte haben nicht nur Ecken und Kanten. Sie sind voller kleiner Fallen, Stolperstellen und unverhoffter Purzelbäume. Die Erwartung der Lesenden und Zuhörenden wird fröhlich enttäuscht. Denn: Alles ist ganz anders. So, wie das Leben. Gedichte sind nicht zum Blümchenpflücken da, sondern zum Munterwerden.

Gute Gedichte zeigen die Abgründe in unserem Leben, all die Stellen, an denen uns das Unverhoffte einholen kann. Jederzeit und unerwartet. Und wir können nicht damit rechnen, dass sich dann die anderen auch verständnisvoll benehmen. So wie in Ringelnatz’ Gedicht „Die Überholten“, für die sich leider kein Filmemacher begeistert hat:

„Du willst durchaus nicht, dass sie näherkommen …“ – Aber es geht in dem Gedicht nicht um eine Grippeepidemie, sondern um Leute, die sich ganz und gar nicht bescheiden in uralten Rollen und Behauptungen aufspielen. Dieser Typus des Schon-immer-Beleidigten war auch vor 100 Jahren schon da: „Doch wenn du dich bescheiden an sie wendest / Und einfach sprichst, erfährst du, dass du störst. / Und einsam klingt der Satz, den du vollendest. / Weil du doch nimmer ihnen angehörst.“

Es lohnt sich also, auch das Text-/Hörbuch von 2018 zu besorgen. Mit diesem Burschen aus Wurzen kommt man auf Gedanken. Und es sind ganz menschliche. Die auch nicht veralten, wenn andere Leute glauben, sie hätten schon alles hinter sich gelassen.

Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik (Hrsg.) „Wassertropfen & Seifenblase, Filme zur Lyrik von Joachim Ringelnatz, Leipzig 2020, 20 + 5 Euro.

Kontakt für Bestellungen: kontakt@lyrikgesellschaft.de

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