Am 21. April eröffnete das von Grund auf sanierte Ringelnatzhaus im Crostigall 14 in Wurzen seine Pforten. Für Wurzen ein richtiges Fest, denn damit war das Geburtshaus von Hans Gustav Bötticher, der sich als Künstler den Namen Joachim Ringelnatz gab, gerettet. Zu diesem ganz besonderen Ereignis startete der Joachim-Ringelnatz-Verein auch einen Gedichtwettbewerb, in dem es natürlich um den unverwechselbaren Buben aus Wurzen gehen sollte, aber auch um Städte und Orte. Denn wo war er nicht überall?

Und wo war er nicht? Es ist ein klein wenig wie mit Goethe: Jeder Ort fühlt sich geadelt, wenn er nur einmal da war. Wobei es mit Wurzen noch etwas verzwickter ist. Denn hier lebte klein Hans als Sohn des Grafikers und Mundartdichters Georg Bötticher nur die ersten drei Jahre, bevor Familie Bötticher nach Leipzig umzog, wo der heranwachsende Knabe dann tatsächlich seine ersten aktenkundigen Streiche vollbrachte.

Und so erinnerte Ringelnatz seine Geburtsstadt auch eher nur mit Fragezeichen. Während andere Städte – wie Hamburg – Schauplatz in seinen Gedichten wurden. Was tun? Jedenfalls nicht verzagen, fanden die Wurzener. Denn Geburtsort bleibt Geburtsort. Sogar die Kammer kann man zeigen, in welcher der Junge 1883 geboren wurde. Ein guter Zeitpunkt, auch Mutter Rosa Marie zu erwähnen, ebenfalls künstlerisch begabt wie der Vater. So etwas vererbt sich nicht. Aber so etwas regt an. Wenn auch am Ende zu einem rastlosen Leben. Und einem Werk, das noch heute die Menschen bezaubert. Auf Ringelnatzsche Weise. Die so verbreitet in deutschen Dichterstuben gar nicht ist.

Denn dazu braucht es Freiheit, Frechheit und eine Begabung für Sprache, die auch viele Dichter nicht haben. Logisch, dass selbst die, die diese Begabung haben, sich nichts Sehnlicheres wünschen, als gemeinsam mit diesem Ringelnatz erinnert zu werden – so wie Peter Rühmkorf.

Was ist unter der Oberfläche?

Es war also eine echte Herausforderung, die der Joachim-Ringelnatz-Verein 2021 in die Welt hinaus rief. Ganz in Anlehnung an Rühmkorfs 1999 veröffentlichtes Gedicht „Kringel für Ringel“. Im Grunde auch eine Suchmeldung: Gibt es noch Ringelnatze da draußen?

173 Einsender/-innen versuchten sich an der Aufgabe, sandten 260 Gedichte ein, in denen 98 Städte Erwähnung fanden. Gewonnen hat am Ende Patrick Wilden mit dem Gedicht „Kassel-Kringel“. Den zweiten Preis gewann Carl-Christian Elze mit einer sehr deftigen Hommage an den Leipziger Ortsteil Neustadt, in der er so ziemlich alle Vorurteile auflistet, mit denen deutsche Medien den Ortsteil seit Jahren plakatieren. Medien leben von Plaketten und Pauschalurteilen. Und Dichter?

Kringel à la Ringel – Die Preisverleihung

Die hinterfragen das Opportune und Oberflächliche sowieso. Nicht alle. Aber die, die begriffen haben, wozu Sprache da ist und wozu man sie wirklich gebrauchen kann. Sprache kann verstellen oder offenlegen. Und Letzteres ist die ganz große Kunst. Die letztlich nur beherrscht, wer sich mit dem Gegebenen und Plakatierten nicht zufriedengibt, sondern immer lustvoll hinter alle Kulissen und Maskeraden schaut. Da entdeckt man schließlich – den Menschen, dieses Würmchen, das sich gern stolzer und mächtiger gibt, als es ist. Nur: Das geben die wenigsten zu. Vielleicht mal am Stammtisch in der Kneipe, wenn’s richtig spät geworden ist. Weshalb es nicht verwundert, dass etliche Autoren nur zu gern einmal einen mit Ringelnatz gesoffen hätten.

Das Wort reimt sich so schön.

Ach, die Reime

Ach ja: die Reime. Und die Verse. Und das Versmaß. Das Bändchen enthält nicht nur die Geschichte des Ringelnatz-Hauses in Wurzen und die zusammengeraffte Geschichte des reisenden Artisten Ringelnatz. Es enthält auch eine Auswahl der 2021 eingesandten Gedichte, die auch in der 2023 eröffneten Ausstellung eine Rolle spielen. Eine Auswahl, die zeigt, dass auch namhafte Lyriker der Gegenwart sich angeregt sahen, sich dichtend dem unvergessenen Wortartisten zu widmen. Ihm nachzueifern, auch das.

Es ist der schönste Weg, auch den eigenen Heimatort endlich einmal etwas zu entmystifizieren und das unverschämt Menschliche und Krumme daran zu benennen, zu besingen und zu bejubeln. Denn das macht Orte erst lebens- und liebenswert: wenn sie keine Schönwetterprospekte sind. Sondern unberechenbare Schicksale. Oder auch von Ringelnatz dereinst gründlich verkohlt und verhohnepiepelt – so wie die Quadratstadt Mannheim. Das hat man ihm dort bis heute nicht vergessen. Immerhin. Er war da, sah und reiste wieder ab.

Andere trauern bis heute, dass es den Reisenden nie zu ihnen verschlug. Was hätte er über ihr Städtchen gesagt, gedichtet, gereimt? Wie schwer das ist, sieht man an den vielen Ausrutschern, in denen den Dichtenden partout kein guter Reim auf Wurzen einfiel.

Es geht ums Treffen

Bremen hat ein Ringelnatz-Gedicht bekommen. Aber die Stadtmusikanten kommen nicht drin vor. So muss man das machen. Und so hielt es Ringelnatz immer: Was alle kennen, interessierte ihn nicht. Er nahm das Reisen stets persönlich. Und behandelte Städte auch schon mal wie schlimme Bekanntschaften in der Nacht. So muss man reisen. Nachlesen kann man das in den 1927 bei Rowohlt erschienenen „Reisebriefe eines Artisten“.

Und manche Einsender kommen dem nahe, haben die Lust verstanden, das Leben mit zwei zwinkernden Augen zu sehen und aus ihrer Sicht aufs Geleckte und Verschönerte zu schauen. Denn da, wo die Dichter wirklich schlafen, saufen und hungern, da spielt das richtige Leben. Für die werden keine Werbekampagnen gemacht. Die sind froh, wenn ihnen nach der Lesung einer eine gute Mahlzeit spendiert. Oder wer flennt im Publikum, weil’s so schön und so treffend war.

Denn ums Treffen geht es.

Wer nicht betroffen ist, wird nie ein wirkliches Gedicht schreiben. Schon mal gar keins wie dieser viel zu früh verstorbene Knabe aus Wurzen. Der dann doch lieber starb, bevor die Nazis ihm das Leben noch schlimmer vergällten. Und so begegnet man in diesem Bändchen lauter Städten, in denen Ringelnatz einst strandete oder durchreiste oder vermisst wird bis heute. Denn das ist echter Nachruhm: Wenn einer vermisst wird, obwohl er nie da war.

Joachim-Ringelnatz-Verein (Hrsg.) „Vom Crostigall nach überall“, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2023, 16 Euro.

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