Es gibt Dichter, die tun so, als wären sie nicht von dieser Welt. Und es gibt jene, denen nichts wichtiger ist, als über diese Welt zu schreiben, ihr eigenes Dasein mittendrin, ihr Ausgesetzt- und Ausgeliefertsein. Die gar nicht anders können, als stets betroffen und gemeint zu sein von allem, was ihnen zustößt. Der Dresdner Autor Volker Sielaff ist so einer. Und wer hinter dem Penelope-Titel fein sortierte antike Verse erwartet, wird eines Besseren belehrt. Sofort. Mit einer zehnseitigen Liebeserklärung.

Und zwar nicht an eine sagenhafte Penelope, sondern an all die Dinge, die einem das Leben liefert, jeden Tag, unverhofft und bunt durcheinander. In genau der speziellen Mischung, die für jeden das Leben einzigartig macht. Vom Banalen bis zum Unerhörten.

„Liebe zu Herzschmerz und Binse, zu Eiterbeule und Tintenfischlinse / zu Bayer Leverkusen und Max Bense, zu Basisarbeit und Grüner Grenze …“. In einem steten Strom ziehen die Worte und Bilder vorbei, der ganze Tempel der Erlebnisse, des Gesehenen, Gespürten, scheinbar so Selbstverständlichem.

Ein Strom der Bilder, die unser Leben sind. Mit Zoo und Wackersteinen, „Buntpapier, Büttenpapier, Klopapier extra weich“ – ja, das kommt auch drin vor. Genauso wie Liebe, Sex und Trennung, Wetter, Hinterzimmer-Politik und die Momente, da der Schauende am Meer spürt, wie alles unendlich groß ist, fließt und vergeht: „Mein Bett wurde die Welt, wurden die Steine am Strand, die namenlos / sind, und ich sah, wie das Wasser sie schliff.“

So einen Dichter muss man suchen in deutschen Landen. Diese Art, die ganze Welt sagen zu wollen im Gedicht, ist hier selten. Man begegnet ihr eher bei Dichtern wie Walt Whitman, Pablo Neruda und Ernesto Cardenal, denen sehr wohl bewusst war, dass jeder Mensch eine poetische Beziehung zur Welt hat und zu den Dingen, die ihm wichtig sind. Nur dass den meisten Menschen die Worte dazu fehlen, weil sie nie gelernt haben, ihr Herz zu öffnen und sich dem eigenen Staunen darüber hinzugeben, was alles da ist. Und dass das alles da ist.

Denn im Kern ist das ja alles Poesie: das Staunen über die gewaltige Vielfalt der Welt, in die der kleine Mensch geworfen wurde und in der er nicht nur klarkommen muss, sondern auch reisen kann – mit allen Sinnen, von Erlebnis zu Erlebnis. Dazu muss man sich in kein Flugzeug setzen.

Volker Sielaff zeigt, was alles es schon zu sehen und zu bestaunen gibt, wenn man einfach nur seine täglichen Wege mal nicht abtrottet, sondern registriert, was alles einem da begegnet, auffällt und zufällt. Eigentlich genau der richtige Gedichtband für diese Tage des Ruhiggestelltseins, das so viele nicht aushalten. Sie schreien ja schon wieder überall: Wann geht es denn endlich wieder los? Wann dürfen wir uns wieder betäuben im Trott, im Jagen und Rasen?

Sie halten es nicht aus, sich auf ihren Hintern zu setzen und das Gefühl zuzulassen, dass ihr Leben jetzt ist. Jetzt, in diesem Moment.

Ehrlich?

Das ist den meisten Menschen viel zu viel. Sie könnten explodieren vor Entsetzen, so viel ist das. Nicht auszuhalten. Also fliehen sie in Rastlosigkeit. Und merken nicht, wie sie sich selbst verlieren dabei. Und die Fülle der Welt sowieso. Und auch den Blick für den anderen, der einem im Leben begegnet ist. Und doch oft rätselhaft bleibt.

Weshalb Sielaff das nächste Kapitel, in dem es eigentlich ganz grundlegend um Liebe, Nähe und Verlust geht, „Die helle und die dunkle Seite“ genannt hat. Wohl wissend, dass das Nahesein immer auch das Verlieren einschließt. Liebe ist auch eine allgegenwärtige Furcht, die Geliebten zu verlieren. Wer das nicht zugibt, hat’s wohl wirklich noch nicht erlebt. „Ich halte es nicht aus nicht eine Stunde / dich nicht zu denken braucht es Phantasie“.

Muss man noch erwähnen, dass er den Rhythmus der Sprache beherrscht? Und seine Vor-Bilder kennt? Diese Typen aus dicken Klassikerbänden, die schon vor 400 Jahren solche Dinge dachten, die heute noch genauso rumoren im Kopf und im Bauch. Shakespeare zum Beispiel, den er nicht extra erwähnt, der aber anklingt, wenn Sielaff die Zeile variiert: „Ich liebte die Liebe nicht …“

Zwei Kapitel hat er ja den Dichtern und Künstlern gewidmet, die ihm gerade wichtig sind. Das sind alles poetische Aneignungen, Bilder, die mit der Kenntnis der Leser spielen, augenzwinkernd. Hier setzt einer voraus, dass die Leser/-innen auch belesen sind. Und sich nicht damit herausreden, sie kämen nicht dazu.

Hätten sich nie eine innere Welt der literarischen Abenteuer geschaffen, nie diese Bücher im Schrank gehabt und dann und wann das kribbelnde Gefühl gehabt, in wirklich exotische Welten geraten zu sein mit Marcel Proust, Hugo Ball, Diogenes oder John Lennon. Ganz zu schweigen von den phantastischen Karten und Bildern, die man in alten Bildbänden findet, über denen man ins Träumen gerät.

Sielaff spielt mit diesen Widersprüchen des Lebens, wohl wissend, dass die Abenteuer im Kopf oft viel intensiver sind als das, was man im hektischen Hasten des Alltags erlebt. „Ich bin in hohem Bogen ein Diesseitiger“, behauptet seine Kapitelüberschrift. Und schon im nächsten Moment schaut er in ein Buch. Denn da sind die aufmerksamen Autoren aus der vergangenen Zeit oft realistischer, aufmerksamer und genauer als die Oberflächlichen und Flüchtigen, die heute so einen Lärm machen.

Etwas, was er in „Amok oder Verfehlung der Ereignisse aus dem Geiste der Poesie“ hochemotional in Bilder packt, sichtlich genervt vom „Ballett der Blödmaschinen“, die vor allem dafür sorgen, dass Menschen keine eigene Phantasie mehr entwickeln, sich nicht mehr erden können und wieder mit eigenen Augen zu schauen lernen.

Auch zu sehen, dass das Hier und Jetzt voller Spuren ist von Werden und Vergehen. Selbst in der Lausitz, der er ebenfalls ein ganzes Kapitel widmet: eine Landschaft voller Geschichte. Aber ohne Schlachten und Plakate. Sehr dicht in „Das Kino“, das mal ein Ballsaal war. Eine Postkarte von 1923 erzählt davon. Aber der durchs Tal der Röder Spazierende hat auch seine eigenen Erinnerungen an diesen Ort, in dem der Staub tanzte im Licht der Projektoren und die Stimmen der Synchronsprecher sich abzulösen schienen „von den Bildern auf der Leinwand. Sie schwebten über dem Raum …“

Wer hat diese Poesie in seiner Kindheit nicht gesehen? Vielleicht auch später noch? Oder muss man dazu wirklich ein geborener Dichter sein, dass man nicht herauskommt aus dem Verdutztsein über den Zustand der Welt? Und zwar der kleinen, der direkt vor unseren Augen? Wo alles Erwartung ist, Knistern und Gleich.

Und nur wenn man es wirklich gesehen hat, kann man es auch Jahre später noch beschreiben. Den Lärm in der Bahnhofskneipe. Das Warten auf den Zug, der aber noch nicht einmal zu sehen ist. „In den Zug steigen – ich konnte es kaum erwarten! – / Hinter den Gleisen begannen die Felder. / Sangen die Vögel, zirpten die Grillen.“

Wer erinnert sich noch an das Zirpen der Grillen?

Wann haben Sie es das letzte Mal gehört? Und wo?

Dichter erzählen uns, wenn sie gut sind, was wir alles verpasst, übersehen und vergessen haben. Die guten unter ihnen zwingen uns zum Wühlen in unseren vermüllten Erinnerungen. Zur Suche nach den Schätzen, die wir nie für wertvoll gehalten haben. Aber gerade sie sind das, was uns lebendig macht.

Und wozu man wohl diesen nüchternen, alles registrierenden Blick des Kindes braucht, das nicht vergessen hat, dass man, um das Leben zu bemerken, genau hinschauen muss. Und nichts so unwichtig ist, dass wir es für wertlos halten dürfen. Was so manch einer und manch eine gerade jetzt merkt, wo es manchmal so still ist, dass man die Welt wieder knistern hört. Oder das Seitenrascheln des Lesenden am Fenster.

„Waren wir jemals, die wir geworden sind?“, fragt Sielaff in „Birkenpapier“.

Nur zu: Versuchen Sie, es herauszubekommen. Jetzt haben Sie Zeit dafür.

Volker Sielaff Barfuß vor Penelope, Edition Azur, Dresden 2020, 19 Euro.

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