Es ist wieder so ein Buch, das bestens in die Zeit passt, auch wenn es natürlich nicht extra dafür geschrieben wurde. Aber was in dieser nun seit einem Jahr anhaltenden Corona-Pandemie sichtbar wird, ist ja, wie kaputt und destruktiv unsere Konsumgesellschaft geworden ist und wie wenig es die Bewohner dieser Welt überhaupt noch mit sich selbst aushalten. Da rammeln sie lieber wieder nach Mallorca, als sich der Stille der Welt anzuvertrauen beim Pilgern, Wandern, Leben.

Dazu muss man nicht die Bohne gläubig sein. Und kann trotzdem dieselben Entdeckungen machen. Denn es gibt kaum einen direkteren Weg, die Verblüffung der Welt zu erfahren, als sich die Schuhe zu schnüren, den Rucksack aufzupacken und loszugehen. „Ab und zu sollte man / ab- und ausschalten: / die technischen Endgeräte, / das Denken und alles Planen.“ So beginnt Tobias Petzoldt seine spirituelle Einladung zum Auf-den-Weg-Machen. Mit zwei Worten, die eigentlich schon alles sagen über uns und das, was wir geworden sind.Denn „ab- und ausschalten“, das sind Worte direkt aus jener zunehmenden Technisierung der Sprache, die parallel lief mit der Technisierung des menschlichen Lebens im späten 19., frühen 20. Jahrhundert. Begriffe, die sich eigentlich nur auf technische Vorgänge bezogen, fanden über den täglichen Sprachgebrauch auch ihre Verwendung auf Dinge und Tätigkeiten, die mit Technik eigentlich nichts zu tun haben.

Aber wer denkt daran noch, wenn er meint, er müsse „mal abschalten“. Als hätte er im Kopf einen kleinen Schalter, mit dem das Rotieren der Gedanken einfach ausgeschaltet werden könnte, mit dem man den Körper auf Entspannung (auch ein technischer Begriff) umschaltet und sich dann von der Dauerspannung erholen kann.

Was in der Regel nicht gelingt. Die meisten stürzen sich dann, weil sie die Aus-Zeit als verstörend empfinden, gleich wieder in neue „nützliche“ Tätigkeiten, fahren die Endgeräte hoch, füllen auch noch die letzte Minute des Tages mit hektischer Betriebsamkeit. Nie kommen sie wirklich zur Ruhe, nie können sie wirklich loslassen.

Mancher hat die ganzen Lockdown-Beschränkungen natürlich genutzt, um die nun verfügbare freie Zeit tatsächlich einmal zum Loslassen und Weggehen zu nutzen. Dazu muss man gar nicht über die Alpen wandern oder sich 100-Kilometer-Touren mit schwerem Gepäck vornehmen, also gleich wieder Ziele setzen, als wäre der Weg nicht wichtig, sondern nur die Bestzeit im Ziel, das neue Fitnessprogramm.

Aber darum ging es beim Gehen nie, beim Wandern auch nicht. Nicht mal ums Ankommen, auch wenn natürlich die Ankunft in der Herberge oder die Pause in der Kirche am Wegrand ihre ganze Intensität erst entfalten, wenn man den Weg in den Füßen spürt. Und gleichzeitig, wie sehr einem eine Zentnerlast von den Schultern genommen wurde, weil man irgendwo unterwegs tatsächlich loslassen konnte.

Keine Verpflichtung, die einen zu schnellerem Tempo zwingt, kein Leistungsparameter, der erfüllt werden muss, kein einzuhaltender Termin. Das spüren viele, die erst einmal die uralte Kunst des Wanderns wieder für sich entdecken. Dieses verpönte Herumlaufen in Wäldern, Tälern und auf Bergpfaden. So völlig nutz-los auf den ersten Blick, zu gar nichts nütze.

Aber der christliche Blick war hier schon immer ein anderer, nicht erst, als die Menschen im Mittelalter in Scharen pilgerten zu heiligen Stätten. Selbst in der Bibel finden sich genug Stellen, die man als Parabeln lesen kann, als Gleichnis oder sogar als Lebensmotto. Talentierte Prediger greifen diese Motive immer wieder in ihren Predigten auf (von meist eher missglückten Trauerreden ganz zu schweigen). Denn auch die Bibelautoren wussten schon, wie sehr das Gehen selbst schon ein eindrucksvolles Bild fürs Am-Leben-Sein ist. Fürs Leben sowieso.

Denn Leben ist Bewegung, ist das Erkunden neuer Welten, das Suchen nach Aussicht, nach Geborgenheit. Wer unterwegs ist, dem begegnen seltsame Dinge. Die meisten nicht einmal aufregend, kein Abenteuer. Und wer die „Abenteuer“ mal erlebt hat, von denen wilde Filme leben, der weiß, dass es ein riesiges Glück ist, wenn man seinen Weg mal ohne Abenteuer und schreckliche Zufälle laufen kann. Dafür mit nach und nach wieder geschärften Sinnen.

„Ganz bei sich sein. / Nichts müssen müssen“, schreibt Petzoldt in dem kleinen Text „Kontemplation“, der sich als Gebet genauso lesen lässt wie als Gedicht. So wie alle anderen Texte in diesem Ermunterungs- und Besinnungsbuch auch, das man durchaus mit in seinen Rucksack stecken kann, um dann unterwegs an Verschnaufpunkten immer mal wieder drin zu lesen. (Und – dafür gibt es freie Seiten – auch die Gedanken festzuhalten, die einem unterwegs so kamen.)

Und weil Petzoldt genauso wie sein Vorwortautor Tobias Bilz, Landesbischof der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsen, ein erfahrener Wanderer ist, weiß er, was da passiert, wenn man erst einmal losgeht im lauten Herzen der Stadt, zu den deutlich stilleren Vororten kommt und den dort zunehmend schmaleren Wegen, die allmählich ansteigen und den Wandernden in eine so nicht geahnte Stille führen. Das geht sogar in Mitteldeutschland. Und wer noch wandert, weiß, wie still es da draußen sein kann, so still, dass man das Rascheln der Tiere tatsächlich hört, das Surren der Insekten, das berühmte Murmeln des Baches.

Und weil das alles – anders als in der lärmenden Stadt – keine erschreckenden und aggressiven Geräusche sind, fährt sogar das innere Alarmsystem herunter, wird der Wanderer ganz und gar zum Gehenden, verschmilzt mit dem Weg.

Wie viel Symbolik allein schon im Wort Weg steckt, zeigt Petzoldt in vielen seiner kurzen Texte, die nur auf den ersten Blick wie Spiele mit den Wortbedeutungen wirken. Aber wenn man hineintaucht in den Text, merkt man: Das meint unsere Sprache ja tatsächlich so vieldeutig, mehrdeutig, vielschichtig. Egal, ob wir uns „auf den Weg machen“, „auf der Strecke bleiben“ oder den „Anschluss verpassen“.

Was zwar wieder technisch ist, aber in „Ungeplant“ zeigt Petzoldt kurz und schön, was wir gewinnen, wenn wir das Verpasste als herrliche Gelegenheit begreifen, neue Wege zu gehen, loszulassen, unsere Blicke und Gedanken schweifen zu lassen. Das Ungeplante ist ein Geschenk. So wie der unbekannte Weg, für den wir uns einfach am Wegkreuz entscheiden (natürlich lässt Petzoldt auch die Symbolik der Wegkreuze nicht weg) und uns auf Unbekanntes einlassen im Vertrauen darauf, dass uns der Weg schon an einen Ort führen wird, der sich zu entdecken lohnt.

Logisch, dass der Nachbartext dann „Gelassenheit“ heißt. Und einer zwei Seiten weiter „Pause“, der sich so liest, als hätte ihn Petzoldt im ersten Lockdown geschrieben, als all diese Müsser und Raser und Super-Geschäftigen tatsächlich einmal ein paar Tage lang aufhörten, die Welt mit ihrem überflüssigen Lärm zu erfüllen und sogar eine laute Stadt wie Leipzig einen Moment Pause erlebte: „Wir hören die Vögel singen, / auf engem Raum Flöhe husten / und hören, wenn es dreizehn schlägt. / Wir halten den Atem an.“

Solche Momente gab es im zweiten Lockdown nur ganz wenige. Die meisten von uns können nicht innehalten, sie leben im beständigen Müssen. Das Ungeplante neben dem Schnell-noch-zu-Erledigenden halten sie nicht aus. So kommen sie auch nie zu sich, begegnen sich nicht oder dem, das größer ist als sie. Das man aber nur wahrnimmt, wenn man abseits des Lärms unterwegs ist und sich drauf einlässt.

Für manche ist das ihr Gott, den sie dann endlich wieder hören können. Andere finden den Einklang mit der Welt, den es in der ummauerten Stadt nicht gibt, nicht geben kann. Beim Gehen finden wir wieder Kontakt zur Welt und zu unserer Spiritualität, die oft einfach nur atemlose Begeisterung für das ist, was wir zu sehen bekommen. Ob nun unterwegs oder oben, auf dem Gipfel des Berges.

Natürlich denkt Petzoldt auch übers Plänemachen nach und über Orientierung und Navigationsgeräte. Brauchen wir einen, der uns immerfort sagt, wo es langgeht? Oder können wir selbst die Wegzeichen lesen und finden uns selbst zurecht – auch auf unbekannten Wegen?

Man merkt schon, dass viele dieser Texte beim Gehen gereift sein müssen. Es sind genau diese losen Gedanken, die einem einfallen, wenn man sich freigelaufen hat, den Sack mit den Pflichten und Sorgen tatsächlich endlich abgeworfen hat und nur noch Weg ist. Eine herrliche Gelegenheit, die das Gehirn ja nur zu gern nutzt, um selbst zu schweifen und ein bisschen herumzuprobieren. Das ist die Lust unseres Gehirns, wenn es mal unbeschwert sein darf.

Und viel Zeit bekommt es ja in unserem durchgetakteten und durchkontrollierten Leben nicht. Schon gar nicht, wenn wir wie Süchtige an den Endgeräten hängen und uns immer weiter nur mit fremder Leute Wichtig-Müll vollstopfen, bis es uns aus den Ohren wieder herauskommt. „Im Gehen / setzt sich vieles. / Im Laufen / legt sich manches …“

Petzoldt weiß, wie das ist. Sein Buch ist eine Einladung, es selbst genau so zu machen. Vielleicht auch mal ohne Wanderführer, der uns ja nur zu gern wieder Vorschriften macht, wo’s nun langgeht. Die Frage, die Petzoldt in „Und los“ stellt, ist nur zu berechtigt: „Wenn ich alles genau plane, / wodurch wirkte der Geist?“ Oder: wo bliebe da noch Platz für den Geist, das Berührtsein, das Eins-Werden mit dem Weg? Der natürlich oft nicht nur bildhaft auch das Leben ist.

Für manche auch Gott und Glaube. Aber immer eine Gelegenheit, aus der Spur zu kommen und das zu erleben, wovon die Rastlosen immer nur Brüllen: Freiheit – in ihrer menschlichsten und einfachsten Form. Die Freiheit loszugehen und nicht zu wissen, wo man am Ende landet. Denn genau das ist das Leben. Nur: losgehen muss man. Wer nie losgeht, kommt auch niemals zu sich selbst.

Tobias Petzoldt Von Wegen, Edition Chrismon, Leipzig 2021, 15 Euro.

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