Das Problem an dem Ding, das so flapsig Globalisierung genannt wird, ist seine mediale Gleichmacherei. Über alles wird dieselbe Soße scheinbar fundamentaler westlicher Sichtweisen auf die Welt gekippt, vom Tourismus über das Wachstumsdenken bis zur Religionsbetrachtung. Aber dabei geht völlig unter, dass die Völker der Welt nach wie vor verschieden sind. Und auch deshalb oft verschieden handeln, weil sie andere Vorstellungen von der Schöpfung der Welt haben.

Das ist nicht banal, denn es bestimmt unsere Moral, unser Verhältnis zu anderen Menschen, zu Tieren und Pflanzen, zu gefährdeten Ressourcen, zu Krieg und Frieden, zu Liebe und Partnerschaft, Glück und Wohlstand, zu den Alten und Hilfsbedürftigen, zu Fremden und Kindern. Eine Reihe, die man fast endlos fortsetzen könnte. Mit der sich aber auch Religionswissenschaftler selten beschäftigen. Obwohl das starke Frames sind, wie Psychologen sagen würden, Rahmensetzungen dafür, wie wir uns selbst sehen und die Welt.Wie verzerrt aber ist eine Weltwahrnehmung, wenn sich deren Sprecher der unterschiedlichen Frames nicht mal bewusst sind, alles über einen Leisten scheren und ihre eigene Prägung nicht mal wahrnehmen? Wer aber den Balken im eigenen Auge nicht sieht, sieht die Vielfalt der Welt nicht. Und versteht auch nicht, was er sieht.

Benimmt sich letztlich wie ein Elefant im Porzellanladen und erzeugt Missverständnisse und Konflikte, wo vorher keine waren. Deswegen hat dieses Buchprojekt des Centrums für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) der Ruhr-Universität Bochum etwas Anrührendes: Es ist eine Einladung an alle Eltern, ihren Kindern schon im Vorlesealter die Augen zu öffnen für die Vielfalt der Religionen in der Welt und ihre verschiedenen und manchmal doch sehr vertrauten Weltschöpfungs-Geschichten. Und damit für die Urfrage, aus der alle Religionen, aber auch alle Wissenschaft geboren wurde: Die Frage danach, wie unsere Welt entstanden ist.

In der immer auch die Frage danach steckt, ob wir uns in dieser Welt geborgen fühlen oder hilflos ausgeliefert. Und natürlich stellen Kinder genau diese Frage alle einmal: Woher kommt das alles? Wer hat das alles geschaffen? Gibt es einen Anfang von dem allen? Wie groß ist die Welt? Oder in tausend anderen Varianten. Weil Kinder noch Fragen stellen und alles wissen wollen.

Und es ist gut vorstellbar, dass auch die großen Schöpfungsmythen ursprünglich mal die phantasievollen Antworten von Erwachsenen auf die beharrlichen Fragen von Kindern waren. Und natürlich weisen die Herausgeber/-innen im Vorwort auch darauf hin, dass dieses Buch nur eine Auswahl bietet, dass es auf anderen Kontinenten und bei anderen Völkern noch ganz andere Schöpfungsmythen gibt. Sie haben sich auf elf große Religionen aus Eurasien beschränkt von Japan bis Skandinavien. Mit Ägypten ist auch noch das Altägyptische Reich mit hereingerutscht.

Aber das natürlich vor allem deshalb, weil hier elf ziemlich alte und mittlerweile gut erforschte Religionen ausgewählt wurden, zu denen es auch jede Menge historischer Belege gibt. Die Erzähler/-innen dieser Geschichten können also aus dem Vollen schöpfen.

Aber sie haben es auf besondere Weise getan, denn um diese Schöpfungsmythen auch kleinen Kindern verständlich zu machen, müssen sie auch kindgerecht erzählt werden, möglichst so, dass sich die Kleinen sogar darin wiederfinden können und merken, dass es eigentlich um ganz menschliche Vorstellungen vom richtigen Handeln, vom Glück, vom Guten und vom Bösen geht. Jede Geschichte wurde von einer anderen Erzählerin, einem anderen Erzähler in eine knappe, kindgerechte Sprache gebracht, teilweise natürlich deutlich verkürzt und vereinfacht.

Mit den originalen Mythen wären auch die meisten Erwachsenen überfordert – auch weil sie natürlich komplex sind. Die ursprünglichen Erzähler haben ja am Ende immer versucht, alles zu erklären. Wirklich alles in einer Geschichte, oder um einen der berühmten Douglas-Adams-Titel zu zitieren: „Das Leben, das Universum und den ganzen Rest“.

Denn natürlich geht es nie nur um die Sterne, die Sonne und den Mond. Sondern auch um das Meer, die Berge, die Fische, die Lieblingskatze, den Wind und das Wunder der Geburt und des Bewusstseins. Natürlich kommt in der biblischen Schöpfungsgeschichte der Baum der Erkenntnis vor, vor dem sich heute ja gleich drei große Religionen fürchten, die sich ja bekanntlich alle drei dieselbe Schöpfungsgeschichte teilen.

Gerahmt werden die elf Geschichten durch eine typische Zubettgeh-Geschichte: Papa hat vergessen, ein neues Vorlesebuch zu besorgen, was nun, wenn die Kleinen ohne Gute-Nacht-Geschichte nicht einschlafen können? Da ist es natürlich ein Glück, dass Papa die Schöpfungsgeschichten von elf Völkern in petto hat, nur einen Zauberspruch aufsagen muss, und schon ist er mit den Kleinen in Japan, in China, in Indien, im Iran oder auch im alten Griechenland, wo ja bekanntlich schon Hesiod so seine Probleme hatte, die Generationen der Götter einigermaßen in eine Ordnung zu bringen.

Aber irgendwie gibt es in allen Religionen junge Götter, Göttinnen oder jugendliche Helden, die die Sache anpacken und daran gehen, im großen Chaos oder Nichts das noch fehlende Fleckchen Erde zu schaffen, auf dem es besonders schön ist. Was vielleicht der wichtigste Aspekt an all diesen Schöpfungsmythen ist: dass es eigentlich Geschichten vom Staunen sind. Denn auch die frühen Zivilisationen haben gestaunt und sich die durchaus verständliche Frage gestellt: Für wen ist das eigentlich alles geschaffen worden? Alles für uns? Uns Menschen?

In manchen Geschichten sind es einfach die Götter, die sich diese schöne Welt selbst geschaffen haben, so wie Shiva oder auch der Gott aus der Bibel, der sich jeden der sechs Abende auf die Schenkel klopfte und sagte: „Und siehe, es war gut getan.“

Doch während gerade die asiatischen Religionen (mal von dem Drama um Laotse abgesehen) im Zustand der Glückseligkeit verblieben und sich mit Shiva und Brahma und wie sie alle heißen bis heute freuen, dass die Welt so voller Leben ist, müssen ja die drei Religionen, die sich die Adam-Eva-Geschichte teilen, damit leben, dass sie in ihrer Schöpfungsgeschichte aus dem Paradies vertrieben wurden. Und sage jetzt keiner, dass sich die Sicht auf die Welt nicht drastisch ändert, wenn Millionen Gläubige mit dem dummen Gefühl leben müssen, aus dem Paradies Vertriebene zu sein.

So etwas hat Folgen. Und wenn Dina und Mika in diesem Buch beim Einschlafen über all diese Geschichten noch ein bisschen nachdenken, werden sie selbst merken, dass das doch irgendwie komisch ist. Warum glauben die einen, noch immer glücklich in Shivas Welt zu leben, und diese Leute aus Abend- und Morgenland laufen herum mit einem unübersehbaren Groll, nicht mehr nackt durchs Paradies laufen zu dürfen, unschuldig wie – ja, wie die Kinder. Und mit diesem völlig sinnlosen Groll auf Eva im Bauch, die die Frucht vom Baum der Erkenntnis pflückte. Wie konnte sie nur!

Ist das nun ein besonderer Fluch? Oder erzählt das nur eine besondere Geschichte, die tatsächlich eine Geschichte der Erkenntnis ist? Womit man ja wieder bei den Intentionen der frühen Erzähler wäre, die all diese Geschichten vor 1.500, 2.000, 2.500 Jahren erfunden haben. Oder gefunden haben. Aufgesammelt, als bestmögliche Erklärung für das Universum, die Mühen des Alltags, die Scham und die Verunsicherungen durch neue Erfahrungen. Ohne wirklich herausbekommen zu können, warum das alles wirklich da ist und warum es irgendwie immer Gut und Böse gibt.

Einige der geschilderten Religionen sind inzwischen ausgestorben, meist von einer der drei monotheistischen Religionen verdrängt. Und längst hat ja die Wissenschaft viele der in den Schöpfungsgeschichten aufgetanen Fragen erhellen können, Antworten gefunden, wenn auch nicht auf alles. Auch wenn sie für die ganz große Frage – „Woher kommt das alles?“ – natürlich auch keine richtige Antwort hat, denn da sind die Grenzen unserer Erkenntnis. Wir können ja nicht von außen auf unsere Welt gucken, sondern nur von innen heraus versuchen, möglichst viel über sie herauszubekommen und zu verstehen.

Wobei ja diese Schöpfungsgeschichten eben nicht nur phantasievolle Versuche sind, die Entstehung der Welt zu erklären. Sie zeigen allesamt immer auch schöpferische Gestalten, zwar meist Götter mit übermenschlichen Kräften. Aber tatsächlich spiegelt sich der Mensch ja auch in diesen schöpferischen Göttern. Es ist seine Welt, die da geschaffen wird. Und in manchen Geschichten ist der Mensch sogar Spielgefährte der Götter, die sich schrecklich gelangweilt haben, bevor sie auf die Idee kamen, eine Erde mit lauter Leben drauf zu schaffen.

Götter, die nach ihrer ganzen Arbeit richtig geschafft sind und auch mal schlafen müssen wie die Kinder. Was natürlich eine schöne Überleitung ist zum Lichtausmachen und zum „Schlaft schön!“ Auch wenn die Kleinen am nächsten Tag genauso unersättlich sind auf die nächste Weltenschöpfungs-Geschichte.

Für zumindest elf Abende dürften tapfere Eltern jetzt erst einmal gerettet sein. Wobei sich einige dieser Geschichten durchaus anbieten, immer wieder mal vorgelesen zu werden, weil viel mehr neue Fragen drinstecken, als man vorher dachte. Denn es geht – wie selbst der kleinste Knirps bald merkt – um mehr als nur ein bisschen Schlamm und Wasser und Wind.

Wie die Sterne an den Himmel kamen, Edition Hamouda, Leipzig 2021, 13,90 Euro.

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