Das Jahr 2021 ist dem jüdischen Leben in Deutschland gewidmet. Städte im Westen des Landes kommen da locker auf 1.700 Jahre, Leipzig und Sachsen eher nicht. Auch wenn das Festjahr natürlich auch hier begangen wird und einlädt, die eigene jüdische Geschichte zu entdecken. Denn auch hier gibt es 800 Jahre jüdische Geschichte zu entdecken. Traurige und erstaunliche. Selbst Thomas Feist war gewaltig überrascht.

Feist ist Beauftragter der Sächsischen Staatsregierung für das Jüdische Leben. 2020 hat er den Leipziger Schriftsteller Henner Kotte angesprochen, ob er einen Reiseführer der besonderen Art schreiben könnte. Denn dafür ist Kotte ja schon bekannt. Ein Reiseführer wurde es dann doch nicht, auch wenn man das entstandene Buch auch dazu nutzen kann.Denn die Orte, über die er schreibt, sind natürlich mit Adresse angegeben. Aber es sind eben auch viele jüdische Persönlichkeiten, über die er schreibt, die in Sachsen lebten und wirkten. Ihre Wohnorte aber sind nicht allzu oft auch Gedenkstätten oder auch nur mit Erinnerungstafeln ausgestattet. Manchmal liegen ja nur ein paar Stolpersteine davor, die daran erinnern, was deutsche Nationalsozialisten ihnen angetan haben.

Man merkt schon, dass es Kotte widerstrebte, einfach nur einen Reiseführer zu schreiben. Dass ihm viel wichtiger war, den heute lebenden Sachsen zu erzählen, wie viele jüdische Persönlichkeiten in ihrer Geschichte eigentlich eine Rolle spielten und sächsische Geschichte prägten. Selbst Thomas Feist war überrascht, als er von Kotte erfuhr, dass der erste sächsische Ministerpräsident von 1919 aus einer jüdischen Familie kam.

Henner Kotte weiß so etwas, denn er kennt ja auch die Geschichte der SPD, in der sich sehr viele Intellektuelle mit jüdischen Wurzeln engagierten. So wie Ferdinand Lassalle, einer der Gründungsväter der SPD, deren Vorläufer, der ADAV, 1863 in Leipzig gegründet wurde. Und so rückt auch Georg Gradnauers Herkunft ins Bild, der Sachsen in jenen Jahren regierte, als die junge Republik noch mit massiven Problemen zu kämpfen hatte.

Synagogen, Schriftsteller und „LTI“

Natürlich thematisiert Henner Kotte auch die Geschichte der Synagogen in Sachsen, die fast alle Opfer der Brandstiftungen der Nazis im Jahr 1938 wurden. Bis auf die Synagoge in Görlitz, die man heute wieder in restaurierter Schönheit bewundern kann, während an die Große Synagoge in Leipzig nur die bronzenen Stuhlreihen in der Gottschedstraße erinnern und in Dresden am Ort der zerstörten Synagoge eine neue entstand, die architektonisch Aufmerksamkeit erheischt. Beide Städte haben längst wieder eine aktive jüdische Gemeinde, nachdem nach den verheerenden Untaten der Nazis nur noch wenige jüdische Menschen in Sachsen überlebt hatten.

Von einigen, die in die Todesmaschine der Nazis gerieten, erzählt Kotte die Lebens- und Wirkungsgeschichte, die oft genug auch eine Geschichte der Enteignung war. Wer sie noch nicht kennt, begegnet Henry Hinrichsen und Georg Witkowski aus Leipzig. Aber da wir ja alle so vergesslich sind, erzählt Henner Kotte auch die Lebensgeschichten der Künstlerin Lea Grundig, des Schriftstellers Georg Heym und des Schriftstellers Stephan Hermlin.

Gerade wer die Leipziger Wirtschaftsgeschichte kennt, wird einige namhafte Persönlichkeiten vermissen – so wie die von Hans Kroch etwa. Feist hat schon recht, wenn er andeutet, dass es über den jüdischen Teil der sächsischen Geschichte mehr zu erzählen gibt als nur 99 Geschichten.

Und dass sie auch Teil der ostdeutschen Erinnerung sind, zeigen die Schicksale von Viktor Klemperer (der mit seiner „LTI“ das Standardwerk zur Sprache der Nazis schrieb), Hans Mayer und Ernst Bloch, deren Auftreten im Hörsaal 40 der Universität Leipzig bis heute zum Erzählschatz der Leipziger Dissidenz gehört. Denn sie stehen exemplarisch für die Fähigkeit, undogmatisch zu denken. Was sie dann ja letztlich bei den Dogmatikern im ZK der SED in Misskredit brachte.

Komponisten, Sänger und ein Karikaturist

Aber Kotte erinnert auch daran, dass auch Leute wie der Komponist Hanns Eisler oder der Sänger Richard Tauber mit Sachsen verbunden waren. Und dass im Waldstraßenviertel mit Thomas Theodor Heine der bekannteste Karikaturist der Kaiserzeit seine Kindheit verbrachte. Wobei Kotte eben nicht nur in Leipzig bleibt, sondern auch die jüdischen Spuren in Zittau, Chemnitz und Weißwasser sucht.

Oft sind es dann „Amateur“-Forscher, die die Geschichte dort erst wieder ans Tageslicht gebracht haben, nachdem die Nationalsozialisten versucht haben, alle jüdischen Erinnerungen zu tilgen, und auch in der DDR dieser Teil der deutschen Geschichte eher ignoriert wurde. Und das, obwohl eine Autorin wie Auguste Lazar sogar Pflichtlektüre im Schulunterricht war, Max Zimmering einer der bekanntesten Jugendbuchautoren und sogar der Vorläufer von Levi Strauss aus Sachsen, genauer: aus Grimma, kam.

Natürlich kann es nicht anders sein, wenn jemand sich einmal so konzentriert an das Thema setzt, dass offenkundig wird, wie schmalbrüstig und eindimensional Geschichtsschreibung wird, wenn Diktaturen sie besetzen. Dann reduziert sich alles auf einen beschnittenen, kargen Kern, in dem alles fehlt, was tatsächlich die Vielfalt und Faszination eines Landes und seiner Geschichte(n) ausmacht. Das Leben ist aber nicht so eindimensional, wie es Extremisten gern malen.

Und gerade der Blick auf die jüdischen Spuren in der sächsischen Geschichte zeigt, dass selbst diese so oft verfolgte, vertriebene und entrechtete Minderheit nicht wegzudenken ist – nicht aus der Erfolgsgeschichte der sächsischen Industrie, nicht aus dem Verlagswesen oder der Musik (für die ja auch Felix Mendelssohn Bartholdy und Gustav Mahler stehen), auch nicht aus der Geschichte der Eisenbahn oder der des Augusteischen Fürstenhofs, ganz zu schweigen der Messen und der einst berühmten Bankhäuser Sachsens.

Die Freude am kritischen Denken

Das Buch lädt – auch wenn es sich nicht als Reiseführer gibt – auf freundliche und sprachlich pointierte Weise dazu ein, sich selbst einfach mal auf Entdeckungsfahrt zu begeben. Egal, ob man wirklich all die Orte besucht, die Henner Kotte mit aufgenommen hat in seinen Band, darunter auch Bäder und Friedhöfe (Kopfbedeckung nicht vergessen). Oder ob man sich einfach die Bücher schnappt, die er erwähnt, und damit eintaucht in den Reichtum kritischen Denkens, der den antisemitischen Autoren immer abgeht.

Es ist nämlich, als würde dieses so flott erzählte Büchlein eine Tür oder ein Fenster aufstoßen – und auf einmal wird es heller im Raum, öffnet sich die Welt. Und der Gedanke taucht ja auch auf: dass das Jüdische den Nationalisten auch immer deshalb so verhasst war und ist, weil Juden auch dann ihre Kultur bewahren, wenn ihnen die Heimat genommen ist.

Ihre besten Künstler und Autoren öffnen sich immer der Welt, sehen die Welt als Raum der Möglichkeiten, in dem es zu wirken gilt. Und nicht als Gefängnis des Denkens, wie unsere nationalistischen Berserker, deren Lieblingsphrasen „Verbieten“ und „Grenzen dicht“ lauten.

Dabei war auch Sachsen immer dann in Blüte, wenn es sich selbst weltoffen und tolerant benahm, wenn es Räume der Möglichkeiten öffnete und Emanzipation lebte und ermöglichte. Da ist dieses Büchlein auch ein lebendiger Kontrapunkt zu mancher Kopfverengung, die heute unsere Tagespolitik beschäftigt. Und eine sehr freundliche Erinnerung daran, dass unser Verhältnis zu den jüdischen Zeitgenossen auch immer davon erzählt, wie offen, frei und selbstbewusst wir selber sind.

Denn auch das steckt mindestens in all unseren Reaktionen auf jüdische Religion: das fehlende oder vielleicht doch vorhandene Selbstbewusstsein, zu dem eben auch gehört, den Glauben und die Kultur anderer Menschen aushalten zu können. Wenn man schon nicht bereit ist, sie auch anzuerkennen und als Bereicherung zu verstehen.

Und reich wurde Sachsen immer dann, wenn kluge Herrscher Toleranz geboten. Auch das klingt mit, wenn man sich durch diese 99 kleinen Texte liest, die erstaunlich dicht daran erinnern, was alles noch zu erinnern ist und lebt und gedeiht. Ein Buch voller Anregungen zum Feierjahr für alle, die sich mit dem Nichtwissen über den jüdischen Teil unserer gemeinsamen Geschichte nicht mehr zufriedengeben wollen.

Henner Kotte Jüdisches Sachsen, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2021, 12,99 Euro.

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