Es gibt Häuser in Leipzig, die haben ihren Platz auf der Titelseite Leipziger Zeitungen sicher, wenn es auch nur ein Fünkchen neue Nachrichten gibt. Das Astoria Hotel ist eines dieser Häuser. 2015 hätte es sein Hundertjähriges feiern können. Jetzt hat Henner Kotte so eine Art Biografie des Hauses zusammengestellt aus alten Akten, Prospekten und Zeitungsartikeln. Es sammelt sich ja was an in so einer Zeit.

Auch Verstörendes. Denn so ein Haus ist auch ein Politikum. Schon allein, weil es da steht – unübersehbar gleich neben dem Hauptbahnhof. Sogar von denselben Architekten entworfen und im selben Jahr fertiggestellt wie der Hauptbahnhof – dem Kriegsjahr 1915. Das erste Haus am Platz, dessen Adresse sich regelmäßig änderte, wenn sich mal wieder die Zeitläufe änderten. Blücherplatz. Platz der Republik. Willy-Brandt-Platz. Und genauso regelmäßig wechselten die Besitzer. Oder wurden gewechselt.

Denn die Geschichte dieses Hauses ist auch eine Geschichte der mehr oder weniger offenen Enteignungen. Begonnen mit der „Arisierung“ in den 1930er Jahren. Originaldokumente aus dieser Zeit zeigen, mit welcher Unverschämtheit Banken, Regierungsbehörden und Kommunen so etwas „abwickelten“.

In graues Amts- und Bankendeutsch gekleidet lesen sich diese Schreiben, als würde man hier nur ein paar finanzielle Kalamitäten klären, obwohl sie gleichzeitig erzählen, wie eifrig sich Banken und Unternehmer hier zusammenfanden, um ein schönes Filetstück an sich zu bringen.

Und nicht weniger schäbig lesen sich die amtlichen Vorgänge nach dem Zweiten Weltkrieg, als es diesmal darum geht, den Bau in „Volkseigentum“ zu bringen und daraus ein sozialistisches Vorzeigehotel zu machen. Was es dann tatsächlich auch wurde. Das prägte ja im Wesentlichen den Ruf des Astoria bis in die Neuzeit.

Das alte Astoria, dessen Front man noch auf der Seite zum Hauptbahnhof sieht, kannte ja nach 1990 niemand mehr. Das lässt sich nur noch aus historischen Archiven rekonstruierten – und natürlich aus Zeitungsartikeln. Auch zur Eröffnung folgten ja die Leipziger Reporter nur zu gern der Einladung, das Haus von Keller bis Nobelzimmer zu bestaunen und darüber überschwänglich lobende Artikel zu schreiben.

Artikel, bei denen man sich fragt: Lesen die Leute so etwas tatsächlich? Und auch noch gern?

Ein bisschen Weite-Welt-Gefühl

Es ist ja nicht so, dass dieses Genre der Lobpreisung ausgestorben wäre. Es hat Kriege und Revolutionen überlebt. Und ist – wie man hier nachlesen kann – im Nachhinein durchaus Stoff, wenigstens einen vagen Eindruck davon zu bekommen, wie dieses Haus damals aussah.

Und wie es sich dann in den 1950er Jahren mit dem ersten großen Umbau und der Erweiterung nach Beseitigung der Bombenschäden wieder zu einem Prachtbau mauserte, in den die damals führende Zeitung die Leipziger einlud zum Staunen und Große-weite-Welt-Schnuppern.

Die in den Folgejahren entstehenden neuen Bars und Speisesäle wurden dann Legende, weil die Leipziger hier tatsächlich ihre ganz besonderen Augenblicke buchen konnten und auch mal Dinge auf der Speisekarte finden konnten, die es in gewöhnlichen Geschäften und Gaststätten nicht gab.

Erst aus dieser sehr innigen Beziehung der Leipziger zu „ihrem Astoria“ wird die Wehmut verständlich, mit der sich eine zusehends älter werdende Generation an das auch in DDR-Zeiten immer wieder modernisierte Haus, die freundliche Bedienung und die Tage in den anheimelnden Räumen erinnert.

Eine Erinnerung, die schon Anfang der 1990er Jahre erste Erschütterungen erlebte, als das Hotel mitsamt der ganzen Interhotel-Kette verkauft wurde, die schon kurz nach dem Verkauf in schweres Fahrwasser kam. Sechs Jahre lang übernahm dann noch die Maritim-Kette das Hotel als Pächter. Bis dann 1996 allen Angestellten Blaue Briefe ins Haus flatterten und das Hotel für immer seine Türen schloss.

Keine Wiedereröffnung 2020

Auch wenn emsige Zeitungsartikel die Hoffnung wachhielten, dass das Haus doch mal an einen Investor käme, der es wirklich wieder sanieren und für Gäste öffnen wollte. Eine Hoffnung, die 2015 erste Nahrung bekam, weil das Haus endlich wieder auf den Markt kam und tatsächlich erste Pläne auftauchten, es ab 2018 umzubauen. 2020 sollte es wieder eröffnen.

Daraus wurde ja bekanntlich nichts, weil der Nachbar klagte. Bis zum OVG hinauf, weil die erste Baugenehmigung so nicht umsetzbar war. Ein Einspruch, der die Pläne so gründlich umstürzte, dass alles neu geplant und kalkuliert werden musste. Seitdem steht die Fassade da, der Bau ist entkernt.

Und bei ihren jährlichen Treffen schauen die ehemaligen Astoria-Mitarbeiter traurig auf das Geschehen. Denn auch sie leben natürlich in der Erinnerung an einen Bau, der bis 1996 nicht nur seinen Ruf hatte in Leipzig, sondern auch ein unverwechselbares Flair, in dem sich Berühmtheiten, die hier abstiegen, wohlfühlten.

Natürlich wären die Berühmtheiten selbst ein Thema. Denn über 80 Jahre war das „Astoria“ nicht nur das erste Haus am Platz, sondern spielte auch lange in der deutschen Spitzenliga mit. Was ja in den 1930er Jahren die Interessen der „Arisierer“ auf den Plan rief. Denn wer das Erste Haus hat, beherbergt auch die Staatsgäste. Das gibt dann wieder schöne Zeitungsartikel und glanzvolle Presse-Fotos vor dem Eingang oder in der Lobby. Schon das ist eine Geschichte für sich – mit Präsidenten, Königinnen, Diktatoren, Parteichefs, Friedensstiftern und was der Berühmten mehr sind.

Wer bewahrt die Schicksale der Beschäftigten?

Doch wo ist das wie bewahrt? Die Zeitungsschnipsel dazu – gerade die aus sozialistischen Zeiten – sind denkbar nichtssagend und phrasengesättigt, dass man sich eigentlich eher die liebevoll übertriebenen Erinnerungen des Personals wünscht. Gern auch die Geschichte der Chefköche im Haus, von denen einer ja sogar vom sowjetischen Militär „entführt“ wurde.

Gibt es irgendwo eine „Astoria“-Rezeptesammlung, die man als Kochbuch zubereiten könnte? Woran erinnern sich die Pagen und Zimmermädchen – wenn sie sich noch erinnern? Mit Cornelia Kretzschmar, Christa Schwarz und Dorle Haufe haben zumindest drei Ehemalige geholfen, das Buch lebendiger zu machen und mehr Persönliches hineinzugeben.

Denn eigentlich ist das Buch auch eine kleine Mahnung: Die Zeit läuft ab. Bald gibt es kaum noch jemanden, der Erinnerungen und Erinnerungsstücke zusammentragen kann, um wenigstens die letzten Jahre des Hauses bis 1996 noch mit mehr Leben zu erfüllen, mehr Geschichten von Menschen.

Solche Geschichten stehen nämlich selten bis nie in der Zeitung. Obwohl alle Menschen genau das gern lesen. Manches hat Henner Kotte aufnehmen können. Manches sogar recht ausführlich, wie den eigentlich parteiinternen Streit mit der Chefin des Nachbarhotels „Zum Löwen“, der in einem Parteiverfahren gipfelte.

Wobei man nicht recht weiß: Hat sie tatsächlich ihre Stellung missbraucht? Oder sind hier zwei Chefs aneinandergerasselt, die einander nicht vertragen haben. Oder wollte hier jemand – über die Partei – der dreisten Stasi eins auswischen, die gleich in Mannschaftsstärke ins Zimmer der Hotelchefin spazierte – zum Fachaustausch, wie man lesen kann.

Ein paar Spuren in alten Filmen …

Wobei die Stasi-Geschichte skizzenhaft bleibt. Obwohl alle wussten, dass im Haus eifrig abgehört wurde und auch eifrig Lockvögel unterwegs waren. Und auch, dass der heute berühmte Schalck-Golodkowski eine ganze Etage mietete zu jeder Messe, um seine mehr oder weniger heimlichen Geschäfte abzuwickeln. Man merkt schon, wie sehr dieses Haus voller Geschichten steckt.

Und auch, wie viel Politik darin steckte, wenn es seine staatstragende Rolle spielen musste. Wer hat die Einkaufslisten der Küche aufgehoben? Wer die Listen der versteigerten Einrichtungsgegenstände? Wer die Gästebücher, die es ja gegeben haben muss?

Manch gutes Stück überließ die Interhotel-Gruppe dann noch der Leipziger Fachschule für Gaststätten und Hotelwesen. Und da und dort ein klein bisschen Flair hat sich in alten Filmen erhalten, weiß Henner Kotte zu berichten. Keinen wirklich berühmten Filmen. Man drehte damals lieber politisch, als für die Ewigkeit.

Dafür stiegen auch jede Menge Schauspieler/-innen und Musiker/-innen hier ab. Aber mehr als ein steifes Foto mit dem Chef scheint selten überdauert zu haben. Ist das wirklich so, dass Menschen das, was wirklich passiert, meistens für so normal halten, dass keiner auf die Idee kommt, es in Text und Bild festzuhalten? Mal von berühmten Fußballmannschaften zu schweigen, die hier abstiegen.

Ausgang offen

So eine Ahnung kommt auf: Hotels leben von ihren Legenden. Und moderne Hotelketten können damit in der Regel nichts anfangen. 1996 war die Einrichtung nicht mehr First Class, so kann man ja das abrupte Ende auch beschreiben. Und die Zimmer und Säle waren zwar stilvoll und heimelig, aber unter den Maßstäben der heutigen Hotellerie zu klein, nicht kongressfähig.

Weshalb ja der Bauherr Vivion aus Berlin auch mit Kongressmaßstäben plante – und mit dieser Dimension am Hotel-Nachbarn scheiterte. Denn natürlich geht es bei heutigen Hotelrenditen um Umsätze, die vor allem auch mit zahlungskräftigen Einmietungen erzielt werden können.

Und anders als 1996 hat Leipzig – mal von den Corona-Folgen abgesehen – nicht zu viele Hotel-Kapazitäten. Auch nicht im oberen Segment. Die Fassade steht noch. Und vielleicht wird es ja wieder ein Klasse-Hotel, wenn auch alle Streitigkeiten mit dem Nachbarn geklärt sind. Das ist alles offen. Mit dem Buch jedenfalls bekommen alle Neugierigen erstmals eine kleine Zeitreise in die Hand, die Henner Kotte auch schon vor 1915 beginnen lässt.

Denn was hier vorher stand, das weiß tatsächlich kaum ein Leipziger. Und auch nicht, dass hier mal die Parthe floss, die bis heute dafür sorgt, dass das Gebäude auf nassem Grund steht. Und anders als den Hauptbahnhof haben es die Architekten nicht auf Pfähle gesetzt, sondern auf eine meterdicke Betonwanne.

Das macht die Rekonstruktion aufwendiger. Und die Blicke der Vorübereilenden skeptischer: Schaffen sie es noch? Steht bald wieder der Kran und wird weitergebaut? Oder scheitert der geplante Bau an seiner Größe oder gar an seinem Ruhm, der ja immer wieder aufflammt, wenn irgendwo die Schlagzeile steht: „Es tut sich wieder was …“?

Henner Kotte Astoria Leipzig, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2022, 24 Euro.

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