Wie schreibt man seine Lebensgeschichte auf? Das ist für viele Zeitgenoss/-innen inzwischen ein Thema geworden. Denn man muss sich keinen Verlag mehr suchen, sondern kann alles im Selfpublishing herausbringen. Auch in kleinen Auflagen, sodass einfach genug Exemplare für die Familie gedruckt werden. Oder ist die Geschichte doch spannend genug auch für die Öffentlichkeit? Eine Frage, die sich auch Silke Heinig aus Grünau stellte.

Immerhin hat sie zuvor auch schon einen Krimi („Mord ist nix für Anfänger“) und ein Buch über das Leben der Türmer („200 Stufen über der Stadt“) veröffentlicht. Und auch andere Leipziger Autor/-innen zeigen ja, dass es wichtig ist, das Selbsterlebte zu erzählen. Eben den Stoff, aus dem sich am Ende das Gewebe der Geschichte ergibt, auch wenn nicht jeder ganz oben auf der Barrikade oder im Blitzlichtgewitter stand.

Generationen mit Krieg, Hunger und Armut

Ja, aber wie erzählt man seine Geschichte? Silke Heinig versucht es in Blitzlichtern, Schnappschüssen und Rückblenden. Denn wirklich aufwühlend wird die eigene Geschichte erst, wenn wir uns dieser Zeitläufe gewahr werden, in denen auch nur die nächste Familiengeschichte geschah.

Silke Heinig beginnt ihr Buch mit dem Foto ihres Großvaters Alfred im Paddelboot auf der Saale. Lange Zeit das einzige Foto vom Großvater, der wenig später in den Krieg ziehen musste, um dort letztlich an Typhus zu sterben. Ein Schicksal, das es so auch in der Generation der Urgroßväter gab. Und wer das erlebt hat, weiß, dass sich dann die Welt sehr gründlich ändert, wenn die Mütter dann die Kinder allein großziehen müssen, gar in den Hunger- und Armutszeiten nach diesen Kriegen.

Die Schatztruhe der Kindheitserinnerung

Man muss ja meist nicht tief graben, sondern nur die Älteren zum Sprechen bringen und ihre Fotoalben auspacken lassen, um ein volles Jahrhundert – gespiegelt in der eigenen Familiengeschichte – erzählen zu können.

Wobei Silke Heinigs Geschichte zwangsläufig Lücken hat, denn die Fotoschätze der Familie wurden 1943 ein Raub der Flammen, als Leipzig bombardiert wurde. Erst ein späterer Kontakt von einer ferneren Verwandten förderte weitere Bilder zutage. Auch die vom letzten Urlaub des Großvaters mit seiner kleinen Familie im Zoo.

Der Zoo wird auch für Silke später eine Rolle spielen, genauso wie die „Rote Schule“ in Gohlis, das Rosental und die Kleingärten der Großmütter, in denen sie noch Jahrzehnte nach dem Krieg emsig Obst und Gemüse anbauen. Denn die Zeit des Hungers sitzt tief. Der Kleingarten war Überlebenshilfe, weniger Erholungsort wie heute.

Aber ein wenig liest sich Heinigs Buch auch wie Volker Sielaffs „Mystische Aubergine“. Denn wenn man seine Erinnerungen durchforstet, kommt selten Staatstragendes dabei heraus. Dafür geht die innere Musiktruhe an, begegnet man den Melodien seines Lebens und den Filmen, die einen beeindruckt haben, als man noch jung war.

Erst recht, wenn sie – wie „Heißer Sommer“ und „Du und ich und Klein-Paris“ in Leipzig gedreht wurden. Quasi gleich nebenan. So wie der einst berühmte Fred Frohberg gleich nebenan wohnte in Gohlis.

Der Kosmos des Selbsterlebten

Es ist in gewisser Weise das Staunen der Kindheit, das Silke Heinig noch einmal lebendig werden lässt. Der Eisbär am Ostseestrand gehört dazu – damals ein echter Lockvogel für die Fotografen, die die Urlauber/-innen am Strand für ein Foto gewinnen wollten. In einem Ostseeurlaub, der für die Meisten der erste ihres Lebens war.

Es weht auch ein wenig dieses frischen Optimismus durch die Seiten, den es in der DDR bis in die 1960er Jahre noch gab. Der sich erst später verflüchtigte. Für die Kinder, die wie Silke Heinig in den 1960er Jahren aufwuchsen, wahrscheinlich mit dem Verblassen der Lektüre, die ja in der DDR ihre eigenen Qualitäten hatte – altersgerecht durchdekliniert mit „Bummi“, „ABC Zeitung“ und „Frösi“.

Über das Danach erzählt Silke Heinig nichts – also die Zeit, in der auch im Osten fast jede und fast jeder das Rebellische in sich entdeckte, mit Jeans, Parka und Westmusik. Wobei: Ein Hauch von großer weiter Welt ist auch in dieser Geschichte, denn Silkes Onkel Frank verließ das Land, ging lieber nach Kanada, heiratete eine Französin und machte eine eigene Bakery auf, setzte das Bäckerhandwerk von Opa Alfred also im fernen Kanada fort. Der Besuch der Oma und ihre Rückkehr wurden zur Familienlegende.

Eigentlich hatte die DDR dagegen keine Chance, gegen diese Faszination der großen weiten Welt. Das konnte auch Opa Herberts dreijähriger Einsatz in Guinea nicht ausgleichen, auch wenn es einer der so legendären Solidaritäts-Einsätze der selbst noch jungen DDR in den noch jüngeren Nationalstaaten Afrikas war. Dafür macht Heinigs Geschichte deutlich, wie sehr sich das eigene Leben vor allem innerhalb des Kosmos Familie abspielt.

Etwas, was augenscheinlich viele Ostdeutsche inzwischen vergessen haben. Oder sie haben diesen Kosmos tatsächlich nicht mehr um sich herum, fühlen sich also auch nicht mehr geborgen und aufgehoben. Denn Staaten und Regierungen können zwar eine Menge. Aber sie können den Menschen nicht den Kosmos geben, in denen sich ein Mensch zu Hause, verstanden, gemocht und geborgen fühlt.

Der Optimismus der Nachkriegsjahre

Ein Kosmos, in dem dann auch die Orte der Kindheit prägend sind und natürlich die Stadt, die das Kind an der Hand der Oma erstmals erkundet. Eine Stadt, die ja durchaus wieder stückweise aufgebaut wurde und – wenn auch nur langsam – die Spuren der Zerstörung von 1943 verlor. In der die Wunden freilich unter der Oberfläche immer noch spürbar waren.

Denn die Zerstörungen nahmen Tausenden Leipzigern das Zuhause. Und tatsächlich veränderten sie die Stadt – für immer. Auch der Brühl verlor seinen Charakter als Pelzmeile – auch wenn ein präparierter kanadischer Fuchs noch lange in der Familie spukte und auf dem Hochhaus am Brühl noch lange „Brühlpelz“ stand. „Pinguin“-Eisbar und „Weltfrieden“ auf dem Auensee erzählten von einem sehr lebendigen frohen Neubeginn. Sie tauchen wie so viele dieser Neuanfänge immer wieder in den Erinnerungen der älteren Leipziger/-innen auf, die durchaus – wie Silke Heinig – von einer glücklichen Kindheit und Jugend in Leipzig zu erzählen wissen.

Die Kindheit ist eine Zauberkiste. Sie enthält nicht den ganzen Lebensernst der Erwachsenen, dafür das Staunen der Kinder über die Erzählungen der Eltern und Großeltern. Zumindest über das, was sie erzählten. Die Sommer waren sowieso viel größer und die Kino-Besuche viel geheimnisvoller. Dabei belässt es Silke Heinig auch – bei den „Fotoschätzen“ und „Familiengeschichten“. Und beim Beinahe-Hundertsten von Oma Hilde, der es sogar in die Zeitung schaffte.

Das Wichtige findet sich in keinem schlauen Lexikon

Vielleicht ist das auch die eigentliche Dimension, in der wir wirklich erzählen können, das, was uns wirklich geprägt hat. Natürlich hat nicht jeder das erzählerische Talent etwa eines Gerhard Pötzsch, der seine Jugend in Leutzsch erzählte. Oder eines Eberhard Schröter. Denn wenn man sich im gestandenen Alter hinsetzt und erzählt, muss man Lücken füllen, nach Details und Puzzle-Stücken suchen, die in der Regel in keinem Geschichtsbuch und keinem Lexikon stehen, weil dort nur all das landet, was zum Interpretationsmuster wurde.

Aber nie das Konkrete, das tatsächlich die eigene Kindheit und Jugend geprägt hat, das das eigene Aufwachsen erst zu etwas Besonderem gemacht hat. Unverwechselbar, erschütternd und überraschend, wenn man mal die Kisten mit den Erinnerungsstücken wieder aufmacht.

Da merkt man tatsächlich erst, was Zeit ist und was ein Leben ist. Man reist in Gedanken zurück und wundert sich nur, dass man da irgendwie drinsteckte und dabei war. Und manchmal teilt man besondere Momente – wie die mit dem Eisbären oder dem weißen Pony im Zoo. Und trotzdem muss es eine mal aufschreiben, sonst ist es weg und gar keiner erinnert sich mehr.

Die Puzzle-Steine der Erinnerung

Und da Silke Heinig zu ihrem Buch immer wieder auch Briefe und E-Mails bekommt, wächst es mit jeder Auflage ein bisschen. Auch das ist Erinnerungsarbeit. Manchmal müssen andere was beitragen, was man selbst partout nicht (mehr) weiß. Und siehe da: Wieder ist man ein Stückchen mehr verankert im Erinnerungsteppich der Zeit. Den man dann mit nostalgischen Augen betrachten kann (was leider viel zu oft passiert) oder mit der Neugier der Schatzgräberin.

Schließlich wird erst mit vielen verschiedenen Lebenserinnerungen das Gewebe sichtbar, in dem wir aufgewachsen sind. Bei manchem verbunden mit einer Flut immer wieder staunend betrachteter Fotos. Bei anderen ein dichtes Gespinst aus erinnerten Momenten, Bildern, Situationen.

Zu spät sollte man jedenfalls nicht anfangen zu fragen, sonst fehlen die Eltern und Großeltern, die auch noch was über die früheren Anfänge wissen. Oder den Urlaub an der Ostsee mit dem Eisbären, ein Moment, in dem es die Erzählerin noch gar nicht gibt. Denn deren Geschichte beginnt erst Jahre später.

Silke Heinig EisbärenSommer, ePubli, Berlin 2020, 9 Euro.

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