2019 gab es in Leipzig eine außergewöhnliche Tagung, die zu anderen Zeiten die Titelseiten der deutschen Gazetten gefüllt hätte. Aber die anderen Zeiten sind vorbei, die Stereotype über das Ländchen DDR sind festgemauert und außerhalb einer kleinen Forschergemeinde interessiert sich – scheinbar – niemand mehr für die Zensurpraxis in der DDR. Dabei liest sich selbst der Tagesband spannend wie ein Krimi.

Kein Aufstand der Leser

Ob dann diese heiß diskutierten Titel tatsächlich nur als Bückware erhältlich waren, wie ein Vortragsredner andeutet, kann man bezweifeln. Denn wenn das Eis erst mal gebrochen war, gab es oft auch sogar hohe Nachauflagen. Vielleicht auch, weil die Tabuwächter in der Hauptverwaltung und im ZK merkten, dass tatsächlich nicht viel geschah. Jedenfalls nicht das, was sie befürchteten.Die Bücher von Wolf, Heym, Hein, Strittmatter, Braun wurden nicht zum Auslöser eines Volksaufstands. Die Folgen sah man erst später, als es für die Genossen zu spät war. Denn die als so gefährlich und subversiv eingeschätzte Literatur wirkte auf einer ganz anderen Ebene, schuf den Raum des kritischen Denkens, der die Friedliche Revolution erst möglich machte.

Die unheimliche Macht, die die Zensoren der Literatur zuschrieben, hatte sie nie. Aber sie wirkte dennoch und wahrscheinlich gerade deshalb, weil diese Bevormundung durch einen vormundschaftlichen Staat viel entlarvender war als es all die Kampagnen in den Zeitungen waren. Denn die Leute, die hier Gutachten schrieben, waren ja nicht doof. Sie waren in der Regel hochgebildet und hatten ihren Marx, ihren Lunatscharski und ihren Lukacs gelesen – und meist noch eine Menge mehr.

Sie parierten die Zumutungen aus einem erstarrten Parteiuniversum mit Verweisen auf die eigenen Manifeste, Beschlüsse und Säulenheiligen. Und so wirkten die Gutachten immer vielschichtig, waren mal Hilfsmittel für die Verlage, damit mit den Manuskripten gearbeitet wurde, mal Argumentationshilfe gegen unwillige Bürokraten, immer wieder aber auch Plädoyer für eine Erweiterung des druckbaren Kanons.

Zensur als Verkaufshilfe

Was ja in der lesenden Öffentlichkeit stets aufmerksam registriert wurde. Die Zensurpraxis war ja keine abgeschottete Welt. Im Gegenteil. Was den lang erwarteten Titeln aus dem Ausland oder der Werkstatt der beliebten Autoren hinter den Kulissen passierte, wurde immer wieder zum Gespräch in der Lesewelt, Buchhändlerinnen und Leser erfuhren es. Und waren am Ende noch viel gespannter auf den Tag, an dem die heiß ersehnten Titel tatsächlich erschienen.

Die Zensur wirkte also auch im Positiven, wenn man das so sagen kann: Sie trieb die Erwartungen des Lesepublikums in die Höhe und damit die Verkaufszahlen von Büchern, die auf diese Weise tatsächlich zur Selbstvergewisserung eines Landes wurden, das eigentlich nicht diskutieren sollte.

Dass dabei auch Buchtitel aus dem „Bruderland“ Sowjetunion oder aus Polen ins Fegefeuer gerieten, weil Dinge darin standen, die im ZK der SED auch Jahrzehnte nach Stalinismus, Weltkrieg und Faschismus als Tabu galten, macht das Bild noch viel facettenreicher. Und man staunt sowieso, dass alle diese Vorträge in drei Tage gepasst haben sollten.

Schon nach den Büchern, die Siegfried Lokatis – auch gemeinsam mit Simone Barck – zur Zensur in der DDR herausgegeben hatte, war klar, dass die Zensur in der DDR keine eindimensionale Angelegenheit mit einer einzigen über alle wachenden Behörde war.

Dazu spielten viel zu viele Instanzen selbst innerhalb des Parteiapparates mit, in dem sich genauso Betonköpfe fanden wie vorsichtige Tabubrecher. Oft war das eine Generationenfrage, auch unter den Gutachtern und Autoren selbst.

Und auch wenn im Anhang des Buches die 1960 erlassenen „Richtlinien der Begutachtung“ als Faksimile abgedruckt sind, stellen die meisten Vortragenden fest, dass es für sie eigentlich keine solchen irgendwo nachlesbaren Richtlinien gab, dass sie das Gutachten-Schreiben oft erst selbst im Ausprobieren erlernten und sich über die Jahre erst ein Handwerkszeug zulegten, mit dem sie Büchern zumindest den Weg zur Druckgenehmigung ebnen konnten.

Oft beauftragten die Verlage ihre Außengutachter auch genau nach diesen Fähigkeiten. Was die Hauptverwaltung nicht abhielt, im Zweifelsfall selbst wieder Gutachter zu beauftragen.

Ein höchst parteilicher Feudalismus

Der Philosoph Steffen Dietzsch stellt in der abschließenden Diskussionsrunde zu Recht fest, dass man es in diesem hoheitlichen Gebaren nicht nur in der Philosophie und der Literaturwissenschaft mit einer Feudalisierung zu tun hatte. Eine Feudalisierung, die den Untertanen regelrecht zu untertäniger List zwang. „Das ist ein schönes Wort dafür, und es hat gar nichts genützt, wenn man am Hof war. Man musste noch eher gewärtig sein, dass man den Unmut, die Ungunst der Herren zu spüren bekam.“

Die ganze Zensurpraxis macht letztlich den Charakter der Herrschaft sichtbar, die sich hinter einer Worthülse wie „demokratischer Zentralismus“ zu verstecken suchte, die Bürger aber spüren ließ, dass ihre Macht sich auf Unsagbares und Undenkbares gründete.

Eigentlich aber eher auf den Unfehlbarkeits-Dünkel der Funktionäre, die selbst ihren größten Bockmist für unkritisierbar erklärten, was Annegret Herzberg zum Beispiel am legendären Werder-Buch von Gabriele Eckert analysiert, das erst durch den Einspruch der Funktionäre skandalisiert wurde.

Ohne diesen Einspruch der beim Pfuschen ertappten Entscheider wäre das Buch nur zu einem eindrucksvollen Beispiel der ostdeutschen Protokoll-Literatur geworden, die mit Maxi Wanders „Guten Morgen, du Schöne“ und Daniela Dahns „Berliner Mietshaus“ natürlich auch diskutiert wird.

Denn auch diese beiden Bücher mussten durch die Mühle der Zensur. Exemplarisch auch deshalb, weil gerade diese Protokoll-Literatur deutlich macht, wie betoniert die Lebenslüge der allein seligmachenden Partei letztlich war. Und dass die großen Funktionäre vor allem vor einem Angst hatten: Dass in der Literatur tatsächlich die Verhältnisse im Land zu sehen sein könnten, die man eigentlich nicht zeigen wollte.

2000 hat der Sozialismus gewonnen

Logisch, dass Lektoren dann auch von Niederlagen berichten, wenn sich dann doch „weiter oben“ ein alter Funktionär stur stellte, selbst dann, wenn das Buch dann – unzensiert – in einem Westverlag erschien. Was dann eine weitere Dimension dieses Kräftemessens zeigt, in dem Autoren und Lektoren auch nur zu gern die Camouflage nutzten, um das Unsagbare dennoch zu erzählen – mit bekannten Beispielen aus der Science Fiction etwa.

Ein Feld, auf dem sich im Gespräch besonders Erik Simon und Karlheinz Steinmüller amüsierten, weil ja für das ZK der SED felsenfest feststand, dass der Sozialismus im Jahr 2000 endgültig gesiegt haben würde. Ein Spaß mit enormer Fallhöhe, der eben auch von den Scheuklappen in der SED-Spitze erzählt, die mit ihrer Zensur eben auch versuchte, die Kommunikation über die Wirklichkeit im Land (und in der Welt) zu unterdrücken.

Als könnte man ein ganzes Volk derart auf Linie trimmen. Die „Wächter rigoroser Observanz“, wie sie York-Gothart Mix in seinem Vortrag nennt, scheiterten auf ganzer Linie, erlitten sogar Niederlagen am laufenden Band, etwa wenn sie sich an Volker Brauns „Hinze-Kunze-Roman“ vergriffen, weil darin der ganze Feudalismus des SED-Staatsverständnisses sichtbar wurde – auf brechtsche Art gnadenlos und listig durchdekliniert.

Und so wird die Tagung mit ihren Einblicken in so ziemlich alle Teile des DDR-Verlagswesens eben nicht nur ein zuweilen sehr spannender Blick in die Zensurwerkstatt, auch nicht nur in den Zwiespalt der meisten Lektor/-innen, die ja oft genug als Gutachter/-innen und Autor/-innen auch auf der anderen Seite der „Barrikade“ standen, sondern auch in den Prozess eines fortwährenden Scheiterns an der Aufgabe, den Leser/-innen im Osten das Selberdenken abzutrainieren.

Die ganzen riesigen Bücherstapel mit parteilinientreuer Druckware blieben unverkäuflich in den Buchläden liegen. Linientreue Autoren bekamen zwar oft genug ihre vielen Veröffentlichungen, wurden aber trotzdem nicht gelesen.

Und die Lektoren, die hier jetzt zu Wort kommen, sprechen sehr lehrreich über den Kampf mit dem Zensor im eigenen Kopf, der sich natürlich irgendwann entwickelt, wenn man in jahrelangen Probierversuchen herausbekommen hat, wo ungefähr die Schmerzgrenze der „führenden Genossen“ liegt, was ein Buch in deren Augen unveröffentlichbar macht und wie man Dinge verklausulieren muss, damit sie dennoch die Zustimmung der Hauptverwaltung oder des jeweils zugeschalteten staatlichen Gremiums bekommen.

Das geübte trojanische Schreiben

Ein Zensor, den ja bekanntlich auch die Auror/-innen verinnerlicht haben, ob sie nun wollten oder nicht. Denn man schreibt ja für ein Publikum, das man auch erreichen will. Und nicht nur ostdeutsche Autor/-innen wollten in der DDR auch veröffentlicht werden.

Auch weltberühmte Schriftsteller aus dem Westen und dem Osten, die auf diese Weise die Zensurpraxis in der DDR ebenfalls ein Stück weit kennenlernten. Aber gerade weil hier auch lektorierende Autor/-innen zu Wort kommen, wird etwas deutlich, was in der heillosen Debatte über die DDR-Literatur fast immer ausgeblendet wird: Dass den Autor/-innen genauso wie den Lesern durchaus bewusst war, dass der „Zensor im Kopf“ immer mit dabei war.

Und der offizielle Zensor irgendwo oben in seinem Büro ebenfalls diese „heiklen Stellen“ kannte und entweder entschärfen ließ oder durchflutschen ließ. Auf einmal wird das Ganze tatsächlich zu einem Spiel, wie es Lokatis und Barck ja in „Zensurspiele“ schon beschrieben haben. Ein Spiel, in dem es immer um das Ausloten des Sagbaren ging und um das Einschleusen trojanischer Gedanken. Am Ende auch um ein Öffnen zur Welt, als tapfere Lektoren Namen wie Freud, Nietzsche und Gramsci auf ihre Arbeitsliste setzten.

Zur Tragik des Ganzen gehört dann freilich, dass eine ganze Reihe der besten Bücher tatsächlich erst in den Druck gingen, als die DDR schon in die Knie ging. Und damit zum entsorgten Jahrgang wurden, der im Sommer und Herbst 1990 einfach in die Container wanderte, weil die ausgehungerten Leser/-innen jetzt endlich alles kaufen konnten, was in westdeutschen Verlagen längst erschienen war.

Als Bücher noch als gefährlich galten: Die erste Zensurkonferenz an der Uni Leipzig“, betitelten wir die Meldung zu dieser ersten Zensurkonferenz an der Uni Leipzig damals, zu der sich vom 24. bis 26. September 2019 im Felix-Klein-Hörsaal der Uni Leipzig nicht nur die Forscher trafen, die sich mit der DDR-Literatur und ihrem politischen Umfeld beschäftigen. Das sind nämlich nicht so viele. Von Lehrstühlen an deutschen Hochschulen, an denen das Thema erforscht wird, ganz zu schweigen. Da bleibt fast nur die Leipziger Buchwissenschaft mit Siegfried Lokatis und seinen Mitstreiter/-innen.

Obwohl eigentlich alle wissen, dass die Literaturpraxis in der DDR immer mehr war als nur das Verlegen von Büchern unter den Argusaugen der Zensur. Wobei man vergeblich nach einer solchen Zensurbehörde in der DDR suchen würde, denn offiziell gab es keine Zensur.

Nur eine Begutachtungspraxis, die der Druckgenehmigung für alle Bücher vorgeschaltet war. Beklemmend genug für Autor/-innen, Lektor/-innen und Leser/-innen, dass es so etwas bis 1989 tatsächlich gab. Aber wer bei dem Wort Zensur an Heinrich Heines berühmtes Gedicht aus dem „Buch Le Grand“ denkt, liegt falsch. Das Gutachterwesen in der DDR funktionierte anders.

Und Dummköpfe waren die Beteiligten eher nicht, wenn man einmal von den knallharten Ideologen absieht, die freilich oft das letzte Wort hatten. Oder auch das erste. Denn in den ausschlaggebenden Institutionen wie dem Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (IML) wurden auch die grundlegenden Texte verfasst, die letztlich definierten, was sagbar sein durfte.

Geschichte zurechtgebogen

Siegfried Lokatis selbst hat den entsprechenden Beitrag über die „Nagruko“ und die „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ verfasst, das maßgebliche Geschichtswerk, das quasi amtlich festlegte, wie die Geschichte der SED, der KPD, der gesamten Arbeiterbewegung zu bewerten sei. Was natürlich Folgen hatte nicht nur für alle Bücher, die sich mit der Geschichte, der Politik, der Philosophie beschäftigten, sondern für die gesamte Literatur des Landes.

Bis in die Schulbücher hinein, die den kleinen tapfer erzogenen Sozialisten beibringen sollten, wie die gesamte Weltgeschichte durch die Brille des Marxismus-Leninismus zu betrachten sei. Obwohl von Marx nicht mehr allzu viel drinsteckte, dafür jede Menge Ulbricht.

Denn Lokatis merkt es zu Recht an, dass eine solche Partei, die selbst ihre eigene Geschichte redigieren und zurechtbiegen musste, damit sie am Ende in den scheinbar historischen Sieg des real existierenden Sozialismus mündete, eine ganze Menge Probleme hatte, ihren Interpretationsanspruch zu belegen.

Und das gar nicht Überraschende dabei ist: Das wussten eigentlich alle. Bis auf die wirklich verbohrten Hardliner. Aber es beeinflusste eben auch die gesamte Zensurpraxis – nicht nur jenen Teil, der direkt den Herrschaftsanspruch der SED berührte. Denn in einem Land, in dem eine Partei ihren Führungsanspruch damit begründete, immer recht zu haben, werden alle Konflikte zwangsläufig zu einem Legitimationsproblem genau für diese Partei.

Erst recht, wenn diese Partei ihre Herrschaft nur aus zweiter Hand behaupten kann und eine öffentliche Diskussion über ihre hochweisen Beschlüsse gar nicht erst zulässt.

Ersatzöffentlichkeit Literatur

Weshalb die Literatur in der DDR auch immer eine Ersatzrolle gespielt hat: Hier wurde thematisiert, was in den offiziell erscheinenden Zeitungen und Zeitschriften des Landes nicht verhandelt werden durfte. (Was einen beiläufig daran erinnert, was für bornierte Fehler bei der Privatisierung der Zeitungslandschaft der dahingegangenen DDR ab 1990 gemacht wurden. Aber das ist ein anderes Thema.) Geradezu zwangsläufig wurde die Buchproduktion in der DDR zu einem Ersatzschauplatz für die in den Medien nicht stattfindende Diskussion.

Und das nicht einmal, weil das die Autorinnen und Autoren so wollten. Die wären über eine unbürokratische Genehmigungspraxis froh gewesen. Und kurzzeitig deutete sich ja in den 1950er Jahren auch an, dass die Regierung auf diese Zensurpraxis aus der Nachkriegszeit verzichten würde. Auch daran erinnert dieser herrlich breit aufgestellte Tagungsband: Dass alle Besatzungsmächte ab 1945 erst einmal eine offizielle Genehmigungspraxis einführten, um vor allem kriegsverherrlichende und nazistische Literatur schnellstmöglich aus dem Verkehr zu ziehen und weitere Veröffentlichungen dieser Art zu verhindern.

Die Zensur in der DDR kam also keineswegs aus dem Nichts. Aber in dem Moment, als die westlichen Alliierten diese Praxis abschafften und darauf vertrauten, dass Verleger und Lektoren selbst in der Lage wären, über Qualität und Wert des Veröffentlichten zu entscheiden, zuckte die SED-Führung zurück und installierte mit der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel erst recht eine dauerhafte Einrichtung, die die Buchgenehmigungspraxis in der DDR beaufsichtigen und steuern sollte.

Und das passierte über Gutachten, die jeder Verlag mitsamt dem beantragten Buchmanuskript einzureichen hatte – mindestens zwei dieser Art, ein internes und ein Außengutachten. Und diese wurden nicht von Zensoren geschrieben, sondern von Fachleuten – ausgebildeten Lektoren, Schriftstellern, Wissenschaftlern.

Wer also die Zensurpraxis in der DDR verstehen will, muss diese Gutachten lesen, von denen nach Schätzungen der Literaturwissenschaftler noch um die 200.000 in diversen Archiven überlebt haben. Geschrieben wurden möglicherweise über eine Million. Der Großteil wurde dann Opfer jener wilden Privatisierungswelle ab 1990, in denen die Verlage der DDR reihenweise abgewickelt wurden und damit auch ihre Archive verloren gingen.

Genehmigungspraxis mit Fachdebatte

Was freilich als Gutachten überlebt hat, erzählt spannende Geschichten über eine Genehmigungspraxis, in der nicht nur beide Seiten genau wussten, was im SED-Staat als unsagbar galt, als zu beachtendes Tabu, dass aber nicht immer eindeutig war, ob es tatsächlich diese „Stellen“ waren, die die Verweigerung einer Druckgenehmigung zur Folge hatten. Oder ob es nur ein einzelner Funktionär war, der sich auf den Schlips getreten fühlte.

Oder sich mal wieder die Wetterfahne im ZK gedreht hatte, was nicht immer eine Verschärfung der Regularien bedeutete (wie 1965), sondern durchaus auch eine Lockerung mit sich bringen konnte. Denn selbst die SED-Spitze lernte dazu, ließ neue Freiräume zu oder schwieg einfach, wenn doch mal ein Buch, das zuvor für heftige Diskussionen gesorgt hatte, auf den Markt kam und einen neuen Raum des Sagenkönnens eröffnete.

Weshalb viele der in den Vorträgen diskutierten Gutachten eben genau von diesem Ringen zwischen Verlagen und Hauptverwaltung, Gutachtern, Lektoren und Funktionären erzählen, das im Grunde jene verhinderte Diskussion in der Öffentlichkeit abbildete, die in den Medien nicht stattfinden durfte.

Und gleichzeitig sind die Gutachten ein Muster des maskierten Sprechens, geradezu ein Spiel mit Trojanischen Pferden – was lässt die oberste Genehmigungsbehörde durchgehen und wo lässt sie mit sich handeln? Sind es nur ein paar Seiten, die der Autor umschreiben muss? Macht er das Spiel überhaupt mit?

Schreibt er gar das ganze Buch um in der Hoffnung, jetzt akzeptieren es die oberen Instanzen? Oder lässt er es darauf ankommen und verweigert sich den Wünschen auf Entschärfung? Was ja mehrere Autor/-innen gerade in der Endzeit der DDR immer öfter getan hatten.

Denn das stillschweigende Abkommen, das noch in den 1960er Jahren galt, dass man gemeinsam am selben Strick zog und eigentlich um die gemeinsame Sache rang, hatte die SED-Führung 1976 aufgekündigt, als sie nicht nur Wolf Biermann ausbürgerte, sondern auch den Protest der namhaften Schriftsteller und Künstler versuchte zu unterdrücken.

Das wird zwar in all den Vorträgen nicht erwähnt, die dieser dicke Sammlungsband vereint. Aber es wird immer deutlicher, wenn man aus dem Mund von Leuten, die es wissen mussten, die Hintergründe der Gutachterpraxis in der DDR kennenlernt. Denn sie waren der Einladung zur Tagung gefolgt: Lektoren, die zu Schriftstellern wurden, Forscher, die Gutachten schrieben, Autoren, die als Lektoren und Gutachter arbeiteten.

Sie erzählen, wie sie heiß umstrittene Buchtitel doch noch zur Druckgenehmigung brachten, wie sie mit der richtigen Auswahl von Außengutachtern versuchten, ein Werk ideologisch abzufedern, aber auch, wie sie oft jahrelang auf Tabubrüche hinarbeiteten, die das Sagbare und Druckbare im Land Stück um Stück erweiterten.

Eine unsichtbar gemachte Diskussion

Aber das nimmt diesem Sammlungsband nicht seine Spannung, denn er ist wie der Blick in die Seele eines Landes, das in den meisten medialen Darstellungen hölzern, flach und grau wirkt, als hätte es nur die alt gewordenen Funktionäre im ZK und ein opportunistisch angepasstes Volk gegeben und überhaupt keine intellektuelle Diskussion über den Sinn und den Zustand des Ganzen.

In den archivierten Gutachten aber wird genau diese Diskussion zum Teil sichtbar, lernt man auch viele von den Menschen kennen, die ihre Aufgabe im Literaturbetrieb der DDR immer darin gesehen haben, den Leser/-innen immer neue, gute Lektüre zugänglich zu machen. Manchmal opferten sie dafür wertvolle Jahre ihres Lebens, manchmal auch ihre Arbeitsstelle. Mancher wurde lieber gleich zum freien Gutachter, damit er für seine kritische Haltung nicht mehr sanktioniert werden konnte.

Und natürlich erfährt man auch hier, warum und wie einstige Tabu-Themen dann doch zum veröffentlichten Buch wurden und die tatsächliche Diskussion in der DDR befeuerten. Wenigstens so weit das im Angesicht einer streng regulierten Medienlandschaft möglich war. So gesehen macht der Sammlungsband auch eine Diskussion sichtbar, die nach der Wiedervereinigung praktisch völlig zum Erliegen kam, sodass es bis heute eigentlich keine wirkliche Selbstverständigung des Ostens über seine eigene Vergangenheit gibt.

Man kann das nicht einfach in Floskeln wie „zweite deutsche Diktatur“ oder „SED-Staat“ entsorgen, denn das verwandelt die DDR wieder in einen Mythos, ein Kunstkonstrukt, das nicht mehr diskutabel ist. Dabei macht gerade die Zensurpraxis sichtbar, wie sehr die regierenden Genossen Angst vor dem kritischen und mündigen Leser hatten. Und gerade deshalb daran scheiterten, das Denken kontrollieren und regulieren zu können.

Siegfried Lokatis; Martin Hochrein Die Argusaugen der Zensur, Dr. Ernst Hauswedell Verlag, Stuttgart 2021, 78 Euro.

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