Eigentlich geht es gar nicht um Rosa Luxemburg. Sie kommt auch nicht vor in den kurzen Prosatexten, die Christine Pfammatter in diesem Band versammelt hat. Nur als Figur in einer Kunstaktion, die eine junge Installationskünstlerin unbedingt in einem tristen Aufenthaltsraum in eine Fabrik aufbauen möchte. Mit immer frischen Blumen für die Arbeiter. Aber so richtig froh wird niemand damit. Es ist eine von vielen kleinen Alltagsgeschichten, die die Autorin aus der etwas seltsamen Jetzt-Zeit erzählt.
Einer Jetzt-Zeit, die nicht erst durch Corona und den Ukraine-Krieg seltsam geworden ist. Beide tauchen in diesen Geschichten auf, manchmal am Rand, manchmal als Atmosphäre. Denn auch Autorinnen, die für gewöhnlich am einsamen Schreibtisch im Homeoffice arbeiten, waren natürlich betroffen von den Veränderungen, die mit dem Aufflammen der Pandemie in Deutschland in den Alltag eingriffen.
Gerade was die vielen Diskussionen betrifft, was jetzt angemessen ist, was jeder Einzelne tun sollte, wo die Eingriffe zu weit gehen, wo sie die Falschen treffen. Nur greift das Pfammatter nicht vorwurfsvoll auf, sondern so, wie es den Meisten in dieser Zeit der Verunsicherung tatsächlich durch den Kopf ging.
Zeit der Getriebenen
Aber schon in früheren Büchern hat sich Christine Pfammatter als aufmerksame Beobachterin der Gegenwart erwiesen. Dass so viele Leute mit den Herausforderungen der Krisen der jüngsten Zeit nicht umgehen können, hat ja auch mit der Ego-Politik der Gegenwart zu tun, die die Menschen zu Einzelkämpfern macht und vereinsamt. Und sie Ziele anpeilen lässt, die mit einem glücklichen Leben so gar nichts zu tun haben.
Im Gegenteil: Wer immerzu getrieben ist, andere zu übertrumpfen, noch besser zu sein, im harten Wettbewerb andere aus dem Rennen zu schlagen, der kann nicht glücklich werden. Der rennt seinen Zielen hinterher und kann sie niemals einholen.
Oder es geht ihm wie Jonas in der Geschichte „Was wir lieben“: „Den Versuch, bescheiden eine gewisse Würde zu bewahren, musste man achten. Natürlich erwartete die Welt mehr. Mehr Karriere, mehr Erfolg, mehr Öffentlichkeit, mehr Glamour. Jonas lebte in einer unerfreulichen Welt der Selbstdarsteller. Es breiteten sich die Egomanen und Ruhmsüchtigen aus, es kamen die Leute mit Ellbogen voran, aber Jonas dachte an sein nächstes Buch.“
Tatsächlich geschieht in ihren Geschichten gar nicht so viel. Manchmal sind es fast philosophische Blicke ins Leben der Mitmenschen, denen Dinge passieren, die erst durch den aufmerksamen Blick der Autorin etwas schräg und seltsam wirken. Also so, wie das Meiste, was uns passiert. Nur lassen wir dieses Gefühl der Befremdung selten an uns heran. Während Christine Pfammatter sich einfach an ihren Schreibtisch setzt und das aufschreibt. Auch diese seltsame Verstörtheit über eine Menschheit, die sehenden Auges gerade ihren lebenswerten Planeten kaputtmacht. („Gaia und wir“)
Wachstum als Etikettenschwindel
Da muss man gar keine Schriftstellerin sein, nur in Mathematik mal ein bisschen aufgepasst haben. Dass ein endliches System irgendwann kollabiert, wenn man es immer weiter vernutzt. Oder eben mit dummen Vorstellungen von immer mehr Wachstum anfällt. Herzliche Grüße an die heutigen Wachstums-Ideologen. Dümmer geht’s nimmer.
„Es ist schön, wenn Leben wächst und gedeiht“, lässt Pfammatter in dieser Geschichte Edith sagen. „Aber das Zerstörerische wächst dabei auch. Und Giftiges, Abgase und Müll. In vielen Bereichen ist das Wort Wachstum ein Etikettenschwindel. Eine Vernichtung von Lebensraum. Ausbeutung im Großen wie im Kleinen. Die Natur ist großzügig. Und unsere Mutter Erde ist großmütig. Aber irgendwann hat sie genug von unseren Dummheiten.“
Es überrascht nicht, dass etliche dieser kleinen Geschichten mitten in den brütend heißen Sommern 2021 und 2022 passieren. Auch noch in Berlin, einer Stadt, in der die stehende Hitze erst recht nicht auszuhalten ist. Dabei hat Pfammatter immer auch noch den Gegenpol zu ihrem Wahlwohnort Berlin: die heimatlichen Gefilde in der Schweiz, die Dörfer da über 1.000 Meter über dem Meeresspiegel, in denen aber die moderne Vereinsamung auf ihre Weise ihre Zeichen setzt.
Etwa in Biel, das sie eine ältere Dame in der Geschichte „Biel retour“ besuchen lässt. Nur um dort zu bemerken, wie auch dieses Städtchen seinen einstigen Glanz verloren hat. Und so nebenbei macht sie sich Gedanken über die jungen Leute, die nun eine Welt bekommen, die mit der noch einigermaßen heilen Welt der Alten nicht mehr viel zu tun haben wird.
„Die Verwerfungen sind so groß geworden, dass gewisse Leute anfangen, sich der Realität zu verweigern. Sie glauben einer Parallelerzählung, die sie für die Wahrheit halten. Probleme wie Armut, Rassismus oder Umweltverschmutzung werden einfach ignoriert. Andere machen den Staat für ihre Unzufriedenheit verantwortlich, während gewisse Politiker Steuersenkungen für die Reichen fordern. Und damit noch größeres Chaos in Kauf nehmen.“
Nur scheinbar ganz simple Geschichten
Hoppla. So etwas in eine scheinbar ganz simplen Geschichte? Natürlich. Das ist das Schöne an Pfammatters Prosatexten: Sie vermeiden die heute so übliche Nabelschau, die viele hoch gefeierte Romane der Gegenwart so ungenießbar macht. Sie lassen ihnen Heldinnen Dinge durch den Kopf gehen, wie sie uns tatsächlich durch den Kopf gehen, wenn wir uns noch nicht in ganz auf uns selbst fixierte Egomanen verwandelt haben. Sondern unsere Mitwelt – noch – mit Neugier und Bedauern anschauen, die Augen nicht verschließen und der Verunsicherung Raum geben.
Was oft so wirkt, als wüssten Pfammatters Heldinnen und Helden nicht, wie es nun weitergehen soll. Obwohl es natürlich weitergeht. Auch in diesen „Lausigen Zeiten“, wie sie einen ihrer Kurztexte nennt. Aber verunsichert scheinen sie, weil es eben oft gar nicht so einfach ist, den richtigen Kompromiss zu finden und sich dabei nicht zu verlieren.
In einer Zeit, in der die Narren unter uns selbst die Wissenschaft in Zweifel ziehen. In „Ein Vorschlag in Ehren“ kommt ein älterer, bärtiger Physiker ins Bild, der beharrlich in allen Medien auf die Fakten, Zahlen und Rechenergebnisse hinweist. Wir wissen, was um uns herum geschieht und was wir anrichten. Aber irgendwie haben sich eine Menge Leute in Ende-der-Welt-Szenarien eingerichtet und scheinen regelrecht Spaß daran zu haben, die Apokalypse nicht nur herbeizureden, sondern auch erleben zu wollen. Mit aller Macht. Als wäre Untergang genau das, was sie sich im Leben wünschen.
„Irgendwann sind auch wir Sklaven geworden. Sklaven aus freien Stücken. Andere sind Säuglinge geblieben. Große, fette Babys in Anzug und Krawatte, die sich weigern, erwachsen zu werden. Irrationales, gezielt gereizt, bringt sie zum Schreien“, beschreibt Pfammatter den Zustand der Zeit, der nicht nur die Protagonistinnen ihrer kleinen Geschichten verwirrt und verunsichert, sondern auch die Autorin, die sich in all dem Gelärme auch zutiefst unwohl fühlt, weil das eigentlich nicht mehr auszuhalten ist.
Irgendwie geht es ihr wie Winnie aus „Was wir lieben“: „Meine Wünsche sind einfach. Ansonsten bin ich wie andere. Ich will nur ein wenig Raum für mich. Ohne Erniedrigung erfahren zu müssen. Und ohne immer kämpfen zu müssen. Ich will mit freundlichen Menschen zusammen sein.“
So ist es
Man merkt, dass sie eine Perspektive einnimmt, die im großen Gelärme kaum noch wahrgenommen wird. Die Perspektive von unten, von dort, wo Menschen einfach versuchen, ihr eh schon verwirrendes Leben irgendwie auf die Reihe zu bekommen, von durchgeknallten Chefs nicht fertiggemacht werden wollen, das Geld für die (steigende) Miete zu verdienen und ansonsten Dinge machen zu dürfen, von denen sie wissen, dass sie wichtig und richtig sind.
Und dennoch werden sie mit all den Karnevalsgestalten einer völlig enthemmten Gegenwart konfrontiert – mit Popanzen, Weltverbesserern, asketischen Milliardären (die trotzdem nicht mal die Menschen in ihrer Umgebung wahrnehmen) oder den gedankenlosen „Menschen in Miramar“, die nicht mal dann ihre Alltagsroutinen verlassen, wenn die Feuersbrunst schon durch die Stadt tobt.
So manche Leser werden sich in diesen kleinen Geschichten, ihren Heldinnen und Helden und den manchmal wie selbstverständlich hingetuschten Gedankengängen der Autorin wiedererkennen. Und vielleicht auch das Gefühl haben, dass wir uns – von wilden Medien aufgestachelt – über die falschen Dinge Gedanken machen, obwohl wir eigentlich damit, ein gutes und liebenswertes Leben zu organisieren, vollauf genug zu tun haben.
Und gerade deshalb, weil die Gestalten aus Pfammatters Geschichten am Ende nicht losrennen und Heldentaten vollbringen, sind es sehr lebensnahe Geschichten. Wie sie fortwährend um uns herum passieren. Wir registrieren sie wohl. Aber Christine Pfammatter schreibt sie auf. So wie sie ihr zufallen. Und im Lauf von zwei Jahren ist eine kleine Sammlung von kurzen Texten beisammen, die auch die schöne Titelzeile tragen könnten: „So ist es“.
Ob’s gut ist, ist die darunter lauernde Frage. Aber genau das macht die Unruhe in diesen scheinbar ganz stillen Prosatexten aus.
Christine Pfammatter„Blumen für Rosa Luxemburg“ Sisifo im Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2025, 19,95 Euro.
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