Es ist einer jener Überraschungsfunde, die die Herzen von Stadtgeschichtsforschern höher schlagen lassen: Im Bestand des Deutschen Historischen Museums in Berlin stieß der aus Torgau stammende Wissenschaftler Dr. Hans Dieter Zimmermann auf eine Chronik, die der Torgauer Drechslermeister Carl Gottlob Löbner (1779–1852) geschrieben hatte. Niemand weiß, wie diese handschriftliche Chronik dort hingeraten war. Aber der Torgauer Geschichtsverein war begeistert. Und hat die Schrift nun komplett als Buch veröffentlicht.

Warum Löbner sich – fünf Jahre vor seinem Tod – daran machte, diese Chronik zu verfassen, weiß zwar auch niemand. Aber eines zumindest verrät die Schrift: dass Löbner eigentlich genug hatte von aufwühlenden Zeiten. Tatsächlich endet seine Aufzeichnung im legendären Jahr 1848. Und seine letzten Sätze erzählen davon, dass er für Deutschland Ärgstes befürchtete. E schreibt tatsächlich Deutschland und nicht Sachsen, zu dem Torgau historisch gehörte. Und auch nicht Preußen, zu dem Torgau nach den Vereinbarungen auf dem Wiener Kongress gehörte als Festungsstadt mir preußischen Festungskommandanten.

Aber schon 1847 erschütterten Missernten und eine gewaltige Teuerung das Land. Zum Jahreswechsel schien sich alles wieder zu beruhigen. „Aber diese Hoffnungen waren dahin, schon im zweiten Monat des Jahres 1848 war der goldne Friede, die geträumten Hoffnungen verschwunden, Aufruhr und Empörung an deßen Stelle.“

Von Paris her ergriff die revolutionäre Aufregung halb Europa. „Das diese Ereigniße, welche Deutschland drohten aus den Angeln zu heben, welche gleich schwarzen Gewitter Wolken Verderben bringend am politischen Horizont über uns schwebten, auch in unsern Torgau (wo doch stets Ruhe und Ordnung gewesen und auch geblieben ist) manches bemerckenswerthe hervorgerufen, was hier geschrieben zu sein verdiente …“ Der Autor weiß es wohl. Einer müsste alle die Ereignisse „in ihrer Reihenfolge kurz zusammenfaßen“. Aber er hat weder Zeit noch Lust mehr dazu.

Der Schatten des Siebenjährigen Krieges

Man kann es ihm nicht verdenken. Immerhin ist der Drechslermeister – 1779 geboren – nun schon 69 Jahre alt. Seit 1832 war er Oberältester des Drechslerhandwerks in Torgau, fristete aber wohl – wie der Herausgeber Jürgen Herzog im Vorwort schreibt – ein sorgenvolles Leben. Gleichzeitig war er Teil der seit 1685 in Torgau ansässigen Drechslerfamilie, die heute noch den Anspruch erhebt, Deutschlands ältestes Spielwarengeschäft zu betreiben. Womit die heutigen Leser auch wissen, was er da wohl drechselte in seine Werkstatt.

Aber das Erstaunliche ist: Darüber erzählt er nichts. Es ist wie so oft: Die Menschen schauen auf das große Welttheater und glauben, all das wäre ungemein wichtig und aufzuschreiben. Aber über ihr eigenes Handwerk, ihr Familienleben, ihre Freuden an Kindern und Feiertagen bemerken sie nichts.

Es ist eine dann doch sehr politische Chronik, die der alte Mann hier – wohl auch basierend auf früheren Notizen – aufgeschrieben hat. Auch wenn seine politische Ebene Torgau ist, wo Löbner 1802 das Haus Fleischmarkt 1 erwarb und im selben Jahr auch da Bürgerrecht bekam.

Dass ihn sein Besitz auch aufmerksam machte, was die Sicherheit des für 800 Taler erworbenen Hause betrifft, wird in der Chronik immer wieder deutlich, wenn er über die Brandkatastrophen in der Stadt erzählt. Immer wieder fackeln einzelne Häuser oder ganze Straßenzüge ab. Und immer wieder steht der nur zu berechtigte Verdacht im Raum, dass da jemand mit Absicht Hand angelegt hatte.

Eine zutiefst bürgerliche Sorge. Die aus Torgauer Perspektive noch einen besonderen Hintergrund hat, den Löbner in seinem Einleitungstext benennt, indem er die Folgen des Siebenjährigen Krieges für Torgau schildert, in dem der preußische König Friedrich II. nicht nur Leipzig kujonierte, sondern auch Torgau heftig in Mitleidenschaft gezogen wurde.

Dutzende Häuser waren zerstört, ebenso die wichtige Elbbrücke. Die Vorstädte waren komplett verwüstet. Und die Truppen, die immer wieder in die Stadt einrückten, brachten auch gleich noch die kriegsüblichen Seuchen mit sich, während der sächsische König die Torgauer auch kräftig zur Kasse bat, um seine Armee zu finanzieren.

Festung im Krieg

Die Erinnerung an diese Zeit war noch wach, als Löbner begann, seine Notizen machen. Die Stadt berappelte sich gerade. Die unbebauten Grundstücke wurden wieder bebaut. Es hätte so schön werden können, mit Ordnung und Frieden im Land. 1800 wurde das neue Jahrhundert noch kräftig gefeiert und in den Folgejahren waren eher die Getreidepreise und der starke Eisgang auf der Elbe Thema in Löbners Aufzeichnungen.

Bis Ende 1805, als der nächste Krieg sich mit dem Durchmarsch preußischer und sächsischer Truppen ankündigte. Und 1806 waren dann schon die Franzosen da, die die Stadt zur Festung umbauen ließen, um den Elbübergang zu sichern.

Und es kam, wie es zu erwarten war – wieder erlebte Torgau immer neue Truppen in seinen Mauern, wurden die Soldaten in die Häuser einquartiert, bekamen die Torgauer in den eigenen Häusern die Wechselfälle des Krieges zu spüren. Bis hin zu jenem Jahr 1812, als die Torgauer ab Ostern regelrecht zuschauen konnten, wie Kontingent um Kontingent der Großen Armee durch die Stadt zog, um in den russischen Feldzug zu marschieren.

Und dann zog auch in Torgau der Winter frühzeitig ein. Und dann kamen die verheerenden ersten Nachrichten aus Russland. Und wenn schon 1812 – so Löbner – „nicht unter die guten Jahre zu zählen“ war, war es das Jahr 1813 erst recht nicht. Denn jetzt kehrte der Krieg nach Sachsen zurück. Die Festung Torgau wurde zum Zankapfel – und zum Schauplatz des stillen Protests von General Johann Adolf von Thielmann, der vom sächsischen König zum Festungskommandanten ernannt worden war, die Festung aber nicht den – da noch verbündeten – Franzosen überlassen wollte und lieber sein Pferd sattelte und zu den Alliierten überlief.

Genutzt hat den Franzosen die Festung am Ende nichts. Sie verloren krachend die Schlacht bei Leipzig. Doch statt endgültig abzuziehen, verschanzten sie sich in der Festung Torgau, die dann monatelang von den Verbündeten belagert und beschossen wurde, bis die Festung am 10. Januar 1815 endlich den Preußen übergeben wurde. Der Krieg war endlich vorbei.

Aber wieder hatten die Seuchen in der Stadt gehaust. Keine Familie war verschont geblieben. Und damit war das Bangen für die Torgauer nicht zu Ende, denn Torgau wurde auf dem Wiener Kongress den Preußen zugeschlagen und damit auf Jahrzehnte zu einer preußischen Festung.

Gute Zeiten

Und all das beschreibt Löbner aus der Sicht eines Bewohners, der Belagerung, Einquartierung und alle der Stadt auferlegen Leiden selbst miterlebte. Da kann man schon gut nachfühlen, dass er von all diesem Chaos die Nase voll hatte und froh war, dass er in den Folgejahren wieder über so normale Dinge wie Elbehochwasser, Brandstiftungen, das Reformationsfest von 1817 oder die große Raupenplage von 1821 schreiben konnte.

1824 sorgte ein Wunderdoktor für Aufsehen. 1832 passierten polnische Offiziere durch die Stadt Richtung Frankreich, nachdem der polnische Aufstand von 1830/1831 von den russischen Truppen niedergeschlagen worden war.

Die Weltgeschichte kam auch so durch Torgau. Neue Häuser wurden gebaut, ungewöhnliche Dürren und Stürme sorgten für Aufregung. Und 1836 wurde endlich der Neubau der stark beschädigte Elbbrücke begonnen. Das schreibt Carl Gottlob Löbner so trocken hin, als wenn er nicht selbst bei jeder Gelegenheit hinausgegangen wäre, um den Bauleuten bei der Arbeit zuzuschauen.

Und immer wieder schreckt Feueralarm den Drechslermeister aus dem Schlaf. Aber auch wenn nicht jedes Mal ein Täter ausgemacht werden konnte, ist er sich sicher: „Man könnte wohl mit Gewißheit sagen, daß von zehn entstandenen Feuersbrünsten, nur eine durch Unachtsamkreit geschehen.“

Und auch was auf der Festung mit den Soldaten passiert, beobachtet er aufmerksam. Was 1843 anfangs wie die Folge einiger unverständlicher Befehle aussah, die den Soldaten das Tragen warmer Mäntel verbot, entpuppte sich wenig später als regelrechte Typhusepidemie, die durch falsche Quartiermaßnahmen auch noch befördert wurde. Es ist Löbners Sicht auf seine Stadt und was ihm dabei wichtig erschien. Von den Getreidepreisen bis hin zur Einrichtung der Bürgerschule.

Die Einträge von 1846 und 1847 lassen dann schon ahnen, wie sich die privaten Sorgen des Chronisten mit den Sorgen um die Stadt und die Zeit vermischten. Schon 1846 gab es die erste große Teuerung. Und 1847 begann auch in gedrückter Stimmung: „Der Antritt dieses Jahres gab daher wenig Hoffnung zu einer guten Zeit, mit Sorgen sah man den zukünftigen Tagen entgegen, denn die Lebensmittel wurden alle Tage theurer.“

Mit dieser nun in ein Buch gepackten Chronik kann jeder, der sich ein bisschen für die Torgauer Stadtgeschichte interessiert, diese Stadt mit den Augen des Drechslermeisters Löbner kennenlernen. Und wohl auch nachempfinden, wie sehr die Bürger der Stadt unter den Kriegen der Zeit litten. Und manchmal auch den Mut verloren, wenn sich wieder neue Zeiten ankündigten, in denen der so geliebte Frieden in Gefahr zu geraten drohte.

Carl Gottlob Löbner „Chronik von Torgau 1801 – 1847“ Sax-Verlag, Beucha und Markkleeberg 2025, 18 Euro.

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