Der Verlag bewirbt das Buch mit dem Aufkleber „150 Jahre Thomas Mann“. Aber eigentlich ist es Katias Geschichte, die Heinrich Breloer hier erzählt. Wenn auch oft genug durch die Brille des weltberühmten Schriftstellers gefiltert, für den sein Schreiben immer der Mittelpunkt des Kosmos war. Dem hatte sich alles zu fügen. Auch die Familie. Dass er auch aus anderen Gründen selbst beim Scheiben eine „skeptisch-ironische Distanz“ hielt, wie Wikipedia es nennt, wissen Kenner der Romane und Novellen von Thomas Mann. Und natürlich staunt man trotzdem, wie er da eine Familie gründen konnte. Es war ein hartes Stück Arbeit.

Auch deshalb, weil sich Thomas Mann (1875–1955) schon früh seiner eigenen sexuellen Neigungen bewusst war. Die er dann freilich ein Leben lang immer nur in der Literatur ausgelebt hat, in viel gelesenen und bewunderten Geschichten wie „Tonio Kröger“, „Tod in Venedig“ oder „Königliche Hoheit“, die alle noch in den Zeitabschnitt fallen, den Breloer in diesem nah an der Biografie von Thomas Mann angelehnten Roman erzählt.

Mit Auslassungen, die auffallen, weil ohne sie der junge Thomas Mann eigentlich nicht denkbar ist – was seine Zeit als Einjährig Freiwilliger genauso betrifft wie die Entstehung der „Buddenbrocks“, mit denen der gerade einmal 26-jährige nicht nur die Literaturwelt des Jahres 1901 überraschte, sondern in diesem Buch auch die Leser. Denn die „Buddenbrocks“ begründeten seinen Ruhm. Man erlebt aber nicht mit, wie er sie schrieb.

Auch wenn man nur zu berechtigt davon ausgehen kann, dass er auch schon beim Schreiben dieses Romans, der anfangs nur in einer teuren zweibändigen Ausgabe erschien, genauso vorging wie beim Schreiben von „Königliche Hoheit“, und jede Menge biografisches Material verarbeitete. Es ist auch bei Breloer ein Grundmotiv, der es ja mit zwei schreibenden Brüdern zu tun hat.

Auch Thomas’ Bruder Heinrich schöpfte seine großen Romane aus dem Leben in seiner eigenen Umgebung und Familie. Die Schwester Clara (die am Ende an ihren eigenen Ansprüchen an eine Schauspielerkarriere scheitert) machte er geradezu zur Heldin eines seiner Romane.

Die oder keine

Beiden Brüdern ist es nur zu bewusst, wie sehr sie ihr Lebensumfeld für ihr literarisches Schaffen „missbrauchen“. Katia erlebt es geradezu mit, wie Thomas Mann ausgerechnet die Briefe, mit denen er um ihr Ja-Wort geworben hatte, für den Roman „Königliche Hoheit“ zweitverwertete. Die Werbung um Katia Pringsheim selbst ging er an wie ein literarisches Projekt. Denn dass er die selbstbewusste Tochter des reichen Mathematikprofessors Alfred Pringsheim zur Frau bekommen würde, war keineswegs ausgemacht.

Auf die junge, selbstbewusste Frau wirkte der Schriftsteller steif und kalt. Als hätte er immerfort etwas zu verbergen. Was ja auch wirklich der Fall war. Katia und ihre Mutter Hedwig dürften schon ein sehr genaues Gespür für diesen berühmten Schriftsteller gehabt haben, der in die Pringsheimsche Villa geradezu mit dem Vorsatz kam, dass er dieses Mädchen unbedingt bekommen musste.

Freilich setzt Breloer nicht erst mit dieser Werbung an, die Geschichte zu erzählen. Ihm ist nur zu bewusst, dass man einen Charakter wie den dieses Thomas Mann auch begründen muss. Weshalb er ihn auch als Kind und Jugendlichen zeigt – auch schon im komplizierten Verhältnis zu seinem Vater, der früh starb. Aber den wesentlichen Teil dieses Romans widmet er dem langen und intensiven Werben von Thomas Mann um die eigenwillige Katia, die damals zu den ersten Frauen gehörte, die an der Münchner Universität überhaupt Vorlesungen hören durften.

Wie ihre Brüder konnte sich auch Katia eine akademische Laufbahn vorstellen. Aber so weit war dieses München noch nicht. Und für die zwanzigjährige Katia war auch das Werben des etwas steifen Schriftstellers anfangs keineswegs erwünscht. Sie konnte sich ein Leben als Hausfrau und Mutter einfach noch nicht vorstellen.

So hat noch nie jemand über mich gesprochen

Und man kann ihr Erschrecken nachempfinden, als sie merkte, dass sie noch vor der Hochzeit zu einer literarischen Figur im Mann’schen Gechichtenkosmos wurde. Selbst in seinen Werbebriefen an die Ostsee, wo sich Mutter und Tochter Pringsheim aufhielten, wurde sie ganz offensichtlich zu einer Gestalt, die dieserart nur im Kopf des Dichters existierte.

Er fantasiere sich etwas zusammen, sagt sie an einer dieser vielen intensiven Stellen in seinen Briefen zu ihrer Mutter, die die Werbung des berühmten jungen Mannes von Anfang an unterstützt hat. „So hat noch nie jemand über mich gesprochen. Der fantasiert sich etwas zusammen. Und alles, ohne mich zu fragen.“

Eine unmögliche Beziehung, möchte man sagen, jedes Mal, wenn sich die zwei zu ersten Gesprächen zusammenfinden, in denen dieser Thomas Mann immer wieder von seinem eigenen Unvermögen erzählt, sich zu öffnen, dem geheimnisvollen Schatten, den er als Künstler mit sich herumträgt. Da ist einem diese quicklebendige Katia Pringsheim viel vertrauter.

Sie redet, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Und gleichzeitig versteht man, warum Thomas Mann von dieser jungen Frau so bezaubert war. Auch wenn er nie vorhat, auf seine Vorstellungen von einer bürgerlichen Ehe zu verzichten. Weshalb Breloer ja im Grunde nach der Geburt der ersten Mann-Kinder aufhört. Auch wenn er in Zwischeneinblendungen auf die späteren Ereignisse eingeht – Thomas Manns späte Entwicklung zum überzeugten Demokraten etwa. Sein Bruder Heinrich war da immer der Hellsichtigere und schrieb ja in dieser Zeit auch bis heute vielgelesene Romane wie den „Professor Unrat“ und den „Untertan“.

Eine Insel für den Dichter

Aber indem Breloer sich fast völlig auf die Perspektive Thomas Manns bezieht, wird dessen auch ein wenig elitäre Sicht auf die Welt deutlicher. Der Künstler, wie er ihn verstand, spielte eine ganz ähnlich distanzierte und abgehobene Rolle wie der klassische Adel. Auch wenn sich hinter der Maskerade dann das Wissen um die eigenen Abgründe, wie er sie verstand, verbarg. Abgründe, die er dennoch literarisch immer wieder verarbeitete, in der Literatur die Räume des Sagbaren und Erzählbaren ausschöpfte, die die bürgerliche Welt des späten Kaiserreichs selbst nicht bot.

Und trotzdem entsteht dabei eigentlich Katias Geschichte, die Breloer ebenfalls mit Rückblenden aus späteren Jahren beleuchtet. Denn sie muss wirklich die Welten wechseln – aus dem väterlichen Haus, wo sie geborgen ist und alle ihre Leidenschaften ausleben kann, in die Rolle einer bürgerlichen Ehegattin, die dem kreativen Gemahl eigentlich nur den Rücken frei halten soll.

Oder mit den Worten Breloers: „Was war dagegen noch zu sagen? Der anfangs unheimlich fremde, mit einem ‚Geburtsfehler‘ belastete Künstler, der eigentlich gar nicht heiraten sollte, versprach auch noch ein reinliches, behagliches Bürgernest. Vielleicht dachte er bei allem mehr an sich. An die beschützte, ruhige Insel mit einem Arbeitszimmer, in dem er vor allem viel Zeit für seine Arbeit, sein Werk – schließlich der Sinn seines Lebens – bekommen würde.“

Katia würde es sein, die ihm diese Oase zum Arbeiten verschaffen würde und dafür sorgen würde, dass die Kinder und der Familienalltag den „Zauberer“ nicht bei der Schaffung seiner großen Werke stören würden.

In bürgerlichen Regeln

Und es ist gut möglich, dass Heinrich Breloer dieser Partnerschaft in diesem Buch doch sehr nahe gekommen ist, denn wie kein anderer hat er sich als TV-Autor mit der Geschichte der Mann-Familie beschäftigt, hat das heutige Mann-Bild mit der verfilmten Familiengeschichte „Die Manns“ mitgeprägt. Aber er hat auch mit den Mann-Kindern gesprochen und sie vor der Kamera interviewt.

Und er ist in den Nachlass eingetaucht, kennt also auch den Autor hinter den großen Romanen. Einen Autor, der wohl im Leben genauso ironisch-distanziert zu erleben war, wie sich seine Bücher lesen. Nur ja nie zu viel verraten, sich möglichst nicht preisgeben. Man kann ihn sich einfach nicht ausgelassen vorstellen. Das hat er sich wohl zeitlebens nie gestattet. Und trotzdem ist Katia diese Ehe eingegangen und wurde so zur Mutter ebenso hochbegabter und kreativer Kinder.

Zu zeigen, dass das nicht ohne Preis zu haben war, ist im Grunde das Erzählverdienst von Breloer, der mit dieser Familie eben ganz und gar keine typische deutsche Bürgerfamilie beschreibt. Die Spannung entsteht gerade dadurch, dass Thomas (und auch Heinrich) Mann eine moderne Schriftstellerkarriere nicht nur anstrebten, sondern auch erfolgreich lebten, aber aus den anerzogenen und für das frühe 20. Jahrhundert noch immer gültigen und strengen bürgerlichen Standesregeln nicht herauskamen.

Die Freiheiten eines Alfred Kerr, eines Karl Krauss oder Kurt Tucholsky – im Mann’schen Kosmos undenkbar. Auch wenn Heinrich da in der Suche nach der großen Liebe ein wenig konsequenter war als sein deutlich zurückhaltender Bruder Thomas.

Mit dem man auch nicht wirklich mitfiebern kann, wenn er um Katia wirbt – und das oft auf eine so distanzierte, abgehobene Weise, dass man regelrecht dazwischenfunken möchte: Hör auf zu fabulieren? Sprich mit ihr wie mit einer richtigen, lebendigen Frau.

Der Preis

Aber am Ende bekam er sie eben doch. Und Katia wurde keine berühmte Naturwissenschaftlerin, sondern „Frau Thomas Mann“ und die Mutter von Erika, Klaus und Golo. Die aber andererseits nicht diese faszinierenden Menschen geworden wären, wäre Katia nicht ihre Mutter gewesen. Manchmal ist das so.

Und deswegen erzählt Heinrich Breloer zwar in diesem Buch vom „Preis des Erfolges“, den der junge Thomas Mann zahlen musste. Aber dieser Preis war eben auch ein Geschenk, nämlich jene junge Frau, die ihn schon beim Besuch im Konzertsaal fasziniert hatte. Und so wird das eben auch Katias Geschichte.

Und die Geschichte über den Preis, den sie zahlen musste, als sie sich nach einem langen Briefwechsel von München an die Ostsee und umgekehrt bereit erklärte, zu diesem introvertierten Romanautor Ja zu sagen. Gerade von dieser Spannung lebt dieses Buch. Und irgendwie mag man sich auch nicht ausmalen, was geschehen wäre, wäre Katia bei ihrem Nein geblieben.

Heinrich Breloer „Ein tadelloses Glück“ Deutsche Verlagsanstalt, München 2024, 26 Euro.

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