Zwar dominiert der neue Bundeskanzler Friedrich Merz das Cover dieses Buches, flankiert von US-Präsident Donald Trump und der AfD-Vorsitzenden Weidel. Aber hier hätten noch viel eher Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner ihren Platz gehabt. Denn das neue Buch von „Welt“-Journalist Robin Alexander ist nicht nur eine Analyse von Friedrich Merz’ Stotterstart als neuer Bundeskanzler. Es nimmt auch die vorhergehende „Ampel“-Regierung unter die Lupe. Und all die Fehler, die zu ihrem überstürzten Ende führten. Fehler, die sich demokratische Regierungen nicht mehr leisten können.
Denn die bislang so stabilen Demokratien des Westens stehen unter Beschuss – durch Parteien, die das demokratische Miteinander zerstören wollen und jede Schwäche der demokratischen Parteien ausnutzen, um sich als alleinige „Retter des Vaterlandes“ anzubiedern. Eine Strategie, die durch die „Social Media“ mit ihren auf Radikalisierung ausgelegten Algorithmen noch befeuert wird.
Aber das ist nicht das einzige Problem, mit dem die Parteien der Mitte inzwischen zu kämpfen haben, während die Parteienlandschaft immer mehr zersplittert. Sie haben sich auch selbst in eine Sackgasse manövriert, aus der nicht nur die „Ampel“ am Ende keinen Ausweg mehr fand: Das ist das liebe Geld, die Staatsfinanzierung, das geradezu zum Mantra gewordene neoliberale Denken über „Schwarze Nullen“ und „Steuersenkungen“, das wie kein anderer in dieser Koalition Christian Lindner verkörperte, dem am Ende dann auch noch der Schwarze Peter verblieb, die Koalition der drei so unterschiedlichen Parteien gesprengt zu haben.
Politische Dramen
Was vermeidbar gewesen wäre, im Jahr 2024 aber unausweichlich war, wie Alexander feststellt, der zwar mit Friedrich Merz’ wildem Ritt ins Bundeskanzleramt beginnt und den Fehlern, die Merz selbst gemacht hat. Aber immer wieder blendet er zurück in Kapitel der „Ampel“-Koalition, in denen die handelnden Akteure kapitale Fehler machten. Die von der Opposition – und auch von Friedrich Merz – weidlich ausgeschlachtet wurden.
Wie schon in seinen vorhergehenden Büchern „Die Getriebenen“ (2017) und „Machtverfall“ (2021) zeigt Robin Alexander in diesem Buch, wie sehr Politik Drama ist, ein Drama, das den Vergleich mit Shakespeares Königsdramen locker aushält. Ein Drama, von dem die Nutzer der Medien meist glauben, sie würden es ja kennen, da es Abend für Abend vor ihren Augen inszeniert wird. Aber das ist nur die Oberfläche. Eine Oberfläche, die Politik wie einen Zirkus voller Clowns zeigt, die nicht wissen, was sie tun.
Aber Alexander tut beruflich das, was längst viel zu wenige deutsche Journalisten tun: Er beobachtet die Berliner Politikbühne aus nächster Nähe, spricht mit den Protagonisten, stöbert in Protokollen, sammelt durchgestochene Telefongespräche, Schriftstücke und Non-Paper. Er weiß, dass die Politik nicht in den Talkshows stattfindet. Und meist auch nicht im Bundestag. Dort bekommt man bestenfalls die Ergebnisse zu hören. Die tatsächlichen Entscheidungen fallen in geschlossenen Räumen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Zumindest war das früher so. Denn die „Ampel“-Zeit war ja auch bekannt dafür, dass permanent Dinge aus internen Beratungen in die Öffentlichkeit lanciert wurden, unfertige Gesetzte und Diskussionsgrundlagen. Für Journalisten ein gefundenes Fressen. Sie säßen ja nur zu gern selbst dabei, wenn sich Koalitionspartner zoffen und streiten.
Dort, wo aus Haltungen und dringendem Handlungsbedarf dann Gesetze werden, Entscheidungen, die dann Volk und Medien in den nächsten Tagen beschäftigen. Sofern nicht ein Skandal alles verdrängt. Und Politik scheint ja nur noch aus Skandalen zu bestehen, aus gefundenem Fressen für populistische Parteien, die das Wettern gegen „die da oben“ zum Hauptinhalt ihres Agierens gemacht haben.
Politik in Krisenzeiten
Dass es auch in der Politik ums Arbeiten geht, um das Entwickeln von Wegen, wie man Probleme löst und wichtige Entwicklungen auffängt, findet dann in der Skandalberichterstattung meist keinen Platz mehr. Auch deswegen, weil sich das dem Volke schlechter verkauft. Es könnte ja ernüchtern und zeigen, dass Politik vor allem Abstimmung ist, Verhandeln, Aushandeln, Diskutieren. Gerade in Koalitionsregierungen, in denen sich jeder Partner profilieren will und um seine Kerninhalte kämpft.
Je mehr Beispiele Alexander für das dysfunktionale Arbeiten der „Ampel“ vor seinen Lesern ausbreitet, umso deutlicher wird, dass die heutige Politik etwas braucht, was in dieser Art selten ist und wahrscheinlich auch schon immer selten war: exzellente Moderatoren, Leute, die Flöhe zu hüten wissen und selbst Sturköpfe dazu bringen, gemeinsam nach Lösungen zu suchen.
Und das auch auszuhalten, ohne in Grabenkämpfe auszubrechen. Normalerweise schreiben die Koalitionspartner deswegen am Anfang auch einen Koalitionsvertrag, in den sie alles hineinschreiben, was sie gemeinsam bewerkstelligen wollen. In Zeiten, in denen es keine Krisen gibt und die Steuern sprudeln, ist das auch kein Problem.
Aber wehe, die Weltwetterlage ändert sich – so, wie es der „Ampel“ im Februar 2022 passierte. Da war sie gerade drei Monate im Amt. Und nicht nur Robin Alexander stellt nüchtern fest, dass schon in diesem Moment der Koalitionsvertrag Makulatur war. Spätestens am 27. Februar 2022, als Bundeskanzler Olaf Scholz seine „Zeitenwende“-Rede hielt.
Eine Rede zum richtigen Zeitpunkt mit der richtigen Botschaft. Doch dann passierte – viel zu wenig. Alles, was folgte, wurde dem Wort von der „Zeitenwende“ nicht gerecht. Im Gegenteil. Und es wurde noch schlimmer, als Moskau dann den Gashahn zudrehte, die deutschen Gasspeicher fast leer waren und mit enormem Aufwand und viel Geld das Gas für den nächsten Winter auf den Weltmärkten zusammengekauft werden musste. Eine Situation, von der auch die mutigeren Beteiligten der „Ampel“ feststellten, dass spätestens hier eine andere Finanzpolitik fällig gewesen wäre. Es war ein seltener historischer Moment – den Scholz aber nicht nutzte.
Verpasste Momente
Der damit im Grunde alle Querelen erst schürte, die die Koalition am Ende scheitern lassen würden. Es gab noch mehr solcher Momente. Und als minutiöser Beobachter kann Alexander geradezu wie in einem Drehbuch beschreiben, wie die drei Koalitionäre aneinander scheiterten. Wobei er durch Kenntnis all der internen Abläufe eben auch weiß, wie wenig Olaf Scholz das nötige Format besaß, diese schwierige Koalition zu steuern.
Obwohl er ausreichend Erfahrungen hatte – auch als Finanzminister unter Angela Merkel. Die ihrerseits in ihrer letzten Kanzlerschaft ebenso schon Schwierigkeiten hatte, die damalige Koalition aus CDU/CSU und SPD zusammenzuhalten. Einige der Probleme, die ihr am Ende das Regieren schwer machten und Olaf Scholz den Weg zur Kanzlerschaft ermöglichten, hat sie Olaf Scholz vererbt.
Das erwähnt Robin Alexander zumindest, für all jene, die glauben, die „Ampel“ hätte ein besonders dilettantisches Theater aufgeführt. Dass Alexander dabei selbst aus einer eher konservativen Sicht auf die Politikmacher auf der großen Bühne schaut, merkt man in vielen Passagen – und auch in seinem stillen Wohlwollen für Friedrich Merz.
Da kommt in den entsprechenden Passagen eher seine Verwunderung darüber durch, dass Merz schon im Wahlkampf veritable Fehler machte, Versprechen gab, von denen er wissen musste, dass er sie nicht halten konnte, und dann auch noch die gemeinsame Abstimmung mit der AfD-Fraktion über seinen Fünf-Punkte-Plan zur Migration anrührte – völlig ohne Not. Es sind Passagen, in denen Robin Alexander sehr deutlich wird, wenn er feststellt, was sich Parteien der Mitte heute nicht mehr leisten können, wenn sie den rechtsextremer Populisten nicht zuarbeiten wollen.
Auch wenn er genauso akribisch die durchaus verständlichen Eigeninteressen der beteiligten Protagonisten herausarbeitet, ihren Kampf um Ressorts, Einfluss und Ruhm. Doch auch der Zeitfaktor hat sich verändert. War es im kleinen Bonn noch möglich, sich hinter den Kulissen zu fetzen, ohne dass die Medien davon erfuhren, war gerade die „Ampel“-Zeit dadurch geprägt, dass oft schon binnen Minuten aus geschlossenen Sitzungen, Telefonkonferenzen, Absprachen berichtet wurde.
Manchmal wurde ganz gezielt durchgestochen, um die Position der jeweils Anderen zu schwächen. Manchmal drangen die Informationen aus lauer Schusseligkeit in die Medien. Die dann – man denke nur an die Boulevardmedien – keine Scheu hatten, selbst unfertige Gesetze zum Skandal aufzublasen und sich ihr Buhmänner auszusuchen, die sie dann dem Volk an den Marterpfahl banden.
Volkssport: Schuldige suchen
Während das, was die Regierung tatsächlich gemeistert hat, in diesem Skandalgehämmer regelrecht unterging. Alexander erinnert da an das von Christian Drosten formulierte „Präventionsparadox“ in der Corona-Zeit, als Deutschland eine der wirksamsten Strategien zur Eindämmung des Corona-Virus umsetzte. Doch das geriet alles völlig außer Sicht, als auch Politiker davon anfingen, von „überzogenen Maßnahmen“ zu schwadronieren.
Man schaut nicht mehr, was geklappt hat, sondern sucht nur noch nach Schuldigen. Und genau das passierte der „Ampel“, die auch noch eine geradezu desaströse kommunikative Performance hinlegte. Statt mit einer Stimme zu sprechen und Konflikte tatsächlich im geschlossene Zimmer zu klären, schwappte der Unmut übereinander immer mehr in die Öffentlichkeit. Und beeinflusste dann auch Wahlergebnisse.
Auch früheren Koalitionen – wie die schwarz-gelbe Koalition von 2009 bis 2013 – haben sich gezofft bis aufs Messer. Die FDP flog danach aus dem Bundestag. Aber damals gab es weder AfD noch BSW, stellt Alexander fest. Also keine populistische Partei, die den Unmut über den Streit der Regierenden instrumentalisieren konnte. Heute ist das anders. Und Robin Alexanders Buch ist im Grunde ein fundierter und detailreicher Aufruf an die demokratischen Parteien, aus den Erfahrungen der letzten beiden Koalitionsregierungen zu lernen. Das wird nicht einfach, stellt auch Alexander fest.
„In einer zunehmend fragmentierten Parteienlandschaft dürften die Abwägungen zwischen Pragmatismus und Grundsätzen noch öfter eine Rolle spielen“, stellt er fest. „Denn kleiner werdende Parteien sind fast automatisch noch stärker auf ihre Stammwählerschaft angewiesen. Und drohen damit der Versuchung zu unterliegen, an der reinen Lehre festzuhalten. Grundsatztreue ist in der Politik aber kein Selbstzweck. Im Gegenteil. Die Wähler, die immer weniger an Parteien gebunden sind, honorieren Pragmatismus und mögen Politiker, die über ihren Schatten springen.“
Ob diese Passage auch von den jetzt Regierenden gelesen wird? Man darf es hoffen. Denn andererseits erzählt er auch von Momenten, in denen auch in der Ampel einige Akteure ihre Dogmen hinter sich ließen und pragmatische Lösungen gefunden haben. Während das Festhalten an Dogmen zum Bruch der Koalition führte. Und das Scheuen vor mutigem Handeln, wie es nach der „Zeitenwende“-Rede fällig gewesen wäre. Die Wähler warteten ja regelrecht darauf.
Die Sache mit der Strategie
„Nach seiner historisch richtigen Zeitenwende-Regierungserklärung hätte Scholz die Autorität gehabt, die Ampel zu zwingen, sich ehrlich zu machen: Der Kanzler hätte Einsparungen durchsetzen können, aber auch Steuererhöhungen, neue Schulden oder, am besten, eine Kombination aus allem. Die Deutschen wären ihm gefolgt, denn der russische Angriffskrieg hatte die Lage vor aller Augen verändert. Aber diese Gelegenheit ließ Scholz verstreichen.“
Stattdessen versuchte er, sich irgendwie mit Zaudern, Zögern, kleinen Haushaltstricks durchzumogeln, die ihm dann auch noch das Bundesfinanzgericht untersagte und der Ampel damit alle finanziellen Spielräume nahm.
Alexanders Beschreibung der gesamten Arbeitsweise der „Ampel“ zeigt im Grunde, wie man es nicht machen darf. Und was künftige Regierungen daraus lernen sollten. Auch die Lehre mit den richtigen Momenten, in denen Politik möglich wird, gehört dazu. Aber dazu braucht es auch, so Alexander, ein strategisches Zentrum: „Die Ampel-Regierung hatte keines. Daran ist sie gescheitert.“
Ob Friedrich Merz es besser macht und aus seinen eigenen Start-Fehlern lernt, ist noch offen. Aber Alexanders Analyse zeigt eben auch, dass den demokratischen Parteien nicht mehr viel Zeit bleibt, zu lernen. Das hat auch mit Kommunikation zu tun und der Bereitschaft, den Wählern Politik zu erklären. Und auch zu erklären, wenn Kompromisse und Einschnitte unvermeidlich sind – und vor allem warum.
Nichts schadet der Demokratie mehr als blumige Versprechungen, die nicht gehalten werden können. Und Schnellschüsse, mit denen mit aller Macht erzwungen werden soll, was man im richtigen Moment verpasst hat zu regeln. Dann stehen schnell gut organisierte Bauern auf den Straßen und zwingen die Regierung, ihre Schnellschuss-Entscheidung zurückzunehmen.
Im Grunde bietet Alexanders Buch kompakt, was die oft skandalgetriebene Berichterstattung der letzten Jahre nicht zeigen konnte: Wie Politik tatsächlich passiert, wie Fehler oft aus Überschussreaktionen resultieren und politische Momente vertrödelt werden, wenn der Kanzler kein Stratege ist, der über die nächste Wahl hinauszublicken versteht. Ein Buch, das auch noch in Jahrzehnten lesenswert sein wird, wenn Neugierige wissen wollen, was in der dann legendären „Ampel“-Regierung und am Beginn der Merz’schen Kanzlerschaft tatsächlich passiert ist.
Wer dabei war, wer was sagte und verzapfte. Und wie ganz menschliche Schwächen oft die besten Entscheidungen verhinderten. Und wie leicht uneingestandene Ängste beeinflussen, was den Wählern dann als eine Politik vorgesetzt wird, bei der man am Ende nicht mehr weiß, wo es eigentlich hingehen sollte.
Robin Alexander „Letzte Chance“ Siedler Verlag, München 2025, 25 Euro.
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