Am heutigen 19. Oktober wird in der Frankfurter Paulskirche der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2025 an den Historiker Karl Schlögel verliehen. Und am morgigen Montag, 20. Oktober, wird Schlögel auch in Leipzig zu Gast sein und im Alten Rathaus lesen. Der Hanser Verlag nahm die Preisverleihung zum Anlass, kurzerhand ein neues Buch von Karl Schlögel in sein Programm aufzunehmen. Eins, das zeigt, warum er nun den Friedenspreis bekommt. Denn wie es zu Krieg und Frieden kommt, das herauszufinden, das ist eine echte Aufgabe für Historiker.

Zwar in der Regel aus sicherer historischer Distanz. Was lange her ist und abgeschlossen, das kann man dann mit kühler Ratio analysieren, ordnen, vielleicht auch zu einer plausiblen Geschichte destillieren, die in sich logisch ist. Menschen lieben logische Geschichten.

Und vergessen dabei, dass sie selbst die unlogischsten aller Lebewesen sind und sich eben leider selten wirklich rational verhalten. Schon mal gar nicht, wenn sie in mächtigen Positionen sind. Macht macht nicht nur einsam, sondern oft genug auch dumm. So würde das Schlögel nie schreiben. Aber in seinem 2011 im „Merkur“ erschienenen Aufsatz „Narrative der Gleichzeitigkeit in oder Die Grenzen der Erzählbarkeit von Geschichte“ geht er auf die Probleme des Geschichte-Erzählens ein.

Jede Historikergeneration erzählt Geschichte neu, hat einen neuen Blick auf das Geschehene. Und sucht nach neuen Erzählformen, das Geschehene verständlich zu machen. Oder gar erst selbst zu verstehen. Und scheitert in gewisser Weise jedes Mal. Was natürlich Gründe hat, auch und gerade in der Komplexität des Geschehenen.

Weshalb Schlögel auch immer wieder über die verschiedenen Erzählmuster nachdenkt, mit denen das Gleichzeitige und Widersprüchliche von Geschichte sichtbar gemacht werden kann. In diesem Fall das Jahr 1937 im stalinschen Moskau, in dem die Paraden auf den Roten Platz praktisch gleichzeitig mit den Prozessen stattfanden, bei denen es völlig willkürlich war, wer da zur Anklage kam und am Ende umgebracht wurde.

Der unsichtbare Osten

Schlögel war in gewisser Weise in einer privilegierten Konstellation, als mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ein ganzes fast vergessenes Land endlich wieder in die Wahrnehmung der Westeuropäer rückte, von denen die meisten noch 2014 nichts hätten anfangen können mit diesem Land und seinen Bewohnern, die eigentlich nichts anderes wollten, als ihr Land endlich zu einem vollwertigen Mitglied der europäischen Welt zu machen.

Wäre da nicht das russische Imperium mit seinem Präsidenten gewesen, der auf die schönen Geschichten der (westeuropäischen) Historiker pfiff und seine eigene russische Story erzählen wollte. Eine Story aus Blut, Ignoranz und einem Flickenteppich alter Mythen.

Ein Mann, der sogar Karl Schlögel auf dem falschen Fuß überraschte, der sich in den letzten Jahrzehnten eigentlich zum besten Kenner der russischen Geschichte gemausert hatte. Mit mehreren großformatigen Büchern hat er den Deutschen Russland, die Sowjetunion und ihre Geschichten erzählt. Und zwar nicht nur aus dem Studium alter Schriften und Akten heraus, sondern durch eigene Anschauung. Wer ein Land verstehen will, muss hinfahren und mit den Leuten reden. Das hat Schlögel immer getan.

Und trotzdem war für ihn der russische Überfall auf die Ukraine ein Schock. „Der russische Überfall 2014 auf die Ukraine war ein Schock. Es war der Augenblick, den ich mit dem Titel meine: Gestrandet auf der Sandbank der Zeit – mit dieser Metapher ist der Augenblick bezeichnet, in dem das Schiff im Wechsel der Gezeiten auf Grund läuft, wo im Sturm die Orientierung verloren zu gehen droht und der Philosoph (Hans Blumenberg) den ‚Schffbruch mit Zuschauer‘ ausmacht.“

Das klingt wie Selbstkritik. Als hätte Schlögel vorher nicht wirklich wahrgenommen, was für ein Typ da im Kreml residierte und wie dieser Stück für Stück den alten Größenwahn vom russischen Imperium wieder zur Handlungsmaxime machte. Das Buch vereint zwar vor allem Schlögels Veröffentlichungen und Reden der letzten Jahre, in denen er vor allem den Überfall Russlands auf die Ukraine von 2022 thematisiert.

Aber eigentlich reflektiert er die blinde Gutgläubigkeit vor allem der handelnden westeuropäischen Politiker und der einschlägigen Medien, die Putin noch bis zum Schluss gutgläubig alles glaubten, was der Herrscher im Kreml von sich gab. Manche tun das ja bis heute. Blind selbst für das, was für Schlögel ab 1990 tatsächlich die große Wiederentdeckung war.

Die falschen Vorstellungen vom Happy End

In seinem Vortrag von 2008 „Doppelgedächtnis. Die Rückkehr des Ostens in den europäischen Horizont“ thematisierte er das. Nicht nur für Historiker war der Fall des Eisernen Vorhangs die verblüffende Entdeckung einer fast vergessenen Welt, einer zu scheinbarer Geschichtslosigkeit verdammten Welt, weil die Länder Osteuropas hinterm Eisernen Vorhang regelrecht verschwunden waren, zu einer grauen Masse im Herrschaftsbereich Moskaus verdammt. Sodass auch ihre einstige enge Verknüpfung mit der europäischen Geschichte regelrecht vergessen war.

Und das hält im Grunde bis heute an. Man nimmt dieser Länder und ihre Regierungen im Westen irgendwie nicht ernst. Rechnet sie im Kopf irgendwie immer noch dem russischen Einflussbereich zu und glaubt Putins immer neuen Behauptungen, diese Länder wären eine Art Puffer für das waffenstarrende Russland. Aber gerade die Ukraine zeigt nun mit einem unbändigen Widerstandswillen, dass das schlichtweg nicht stimmt.

Dass hinter Putins Gerede von der aufdringlichen NATO nichts anderes steckt als das alte imperiale Gehabe Moskaus, das seine Nachbarstaaten wie Vasallen und Untertanen behandelt. Und mit seinen Panzern einmarschiert, wenn die Völker sein Spiel nicht mehr mitspielen wollen.

In mehreren großen Artikeln und Vorträgen beschäftigt sich Schlögel mit dieser „Zeitenwende“. Und auch mit seiner eigenen Überraschung darüber, wie der 22. Februar seine eigene Sicht auf Russland und die Ukraine blitzartig verändert hat. Dabei war er sogar erleichtert, weil gerade dieser Überfall eigentlich eine Klarheit gebracht hat, die vorher so nicht zu zeichnen war.

„Die Verwirrung, die nach dem 24. Februar 2022 in den Debatten über Krieg und Frieden eingetreten ist, hat ihr Gutes. Sie zerstört die Ignoranz und Weltfremdheit, die betulichen Vorstellungen vom Happy End der Geschichte, sie sprengt die stillschweigenden Übereinkünfte von Stereotypen und Klischees.“ So schrieb er es in einem Beitrag 2023 für ein im Suhrkamp Verlag erschienenes Buch.

Die Macht alter Narrative

Aber wie wir heute wissen: Die Aussage gilt wieder nicht für alle. Auch viele maßgebliche Politiker kleben bis heute in ihren „stillschweigenden Übereinkünften“ fest, halten an ihren überholten Vorstellungen von einem friedlichen Russland fest. Und ignorieren Osteuropa mit einer Gnadenlosigkeit, die schon erschrecken lässt. Zeichen dafür, wie fest alte, falsche Geschichten in den Köpfen der Menschen kleben, die sich aus den eingeübte Ritualen nicht lösen wollen. Die einfach stur weitermachen, auch wenn der Krieg in Europa wütet.

Was auch mit einem Vorgang zu tun hat, der den meisten handelnden Politikern gar nicht bewusst ist. Auch sie sind nur Menschen, die an Geschichten glauben, sich Geschichten einreden lassen. Und nur zu gern blind dafür sind, wenn ein geheimdienstlich ausgebildeter Präsident das Erzählen falscher Geschichten geradezu zum Regierungsstil gemacht hat.

Etwas, was auch Schlögel nicht gleich klar war, ihm aber nach 2014 zunehmend bewusster wurde. In seinem Aufsatz „Putinismus als Stil“ nimmt er das für sich unter die Lupe, auch weil er wissen will, ob dieser kriegswütige Präsident im Kreml nun eigentlich aus historischer Sicht eine neuartige Erscheinung ist oder einfach nur der Abklatsch früherer Potentaten.

Womit er eben auch die Frage stellt, wie westliche Regierungen auf einen Mann reagieren können, von dem sie sich jahrelang falsche Vorstellungen gemacht haben. Immerhin ist – so betrachtet – das Phänomen des Putinismus genauso neu wie das des Trumpismus, erfordert von Politikern also auf einmal ein völlig neues Herangehen. Denn ignorieren können sie die Kraftmeier im Kreml und im Weißen Haus ja nicht.

Und die oft genug wilde Medienberichterstattung der letzten Jahre zeigt ja, dass auch die großen Kommentatoren überfordert waren und oft nicht einmal in der Lage waren, „die Pläne des Meisterchoreografen“ im Kreml zu deuten oder einzuordnen. Denn ein Meistechoreograf ist dieser Kreml-Herrscher. Das hat er gelernt, wie man Menschen mit falschen Geschichten manipulieren kann. Und für doof verkauft, selbst dann noch, wenn alle Welt sehen kann, wie seine Truppen in der Ukraine wüten.

Der Un-Sinn der Geschichte

Man merkt schon: Wie kaum ein anderer Historiker macht sich Schlögel Gedanken über das Narrativ. Oder besser: die Narrative. Sowohl die Narrative, mit denen Historiker versuchen, eine gewisse erzählerische Ordnung in die oft diffusen und chaotischen geschichtlichen Abläufe zu bekommen (was oft ein völlig inakzeptabler Verzicht auf die ganze Widersprüchlichkeit menschlicher Geschichte ist), aber auch die Narrative, mit denen die ganz normalen Zeitgenossen das interpretieren, was ihnen gerade geschieht.

Und da greifen sie eben oft auf die vorgefertigten Großerzählungen der Historiker zurück, solche in der Regel, die der Geschichte einen Sinn zuschreiben, gar ein höheres Ziel.

Obwohl unberechenbare Akteure wie Putin geradezu zwanghaft dafür sorgen, dass diese Eindeutigkeit in die Binsen geht. Und Historiker zur Korrektur gezwungen sind. Oder überhaupt erst einmal zur Aufnahme von Forschungen. Denn so wirklich viele waren es ja nicht, die sich wie Schlögel seit Jahrzehnten ernsthaft und ausdauernd mit der osteuropäischen Geschichte beschäftigt haben. Auch wenn er auf ebenso ernsthafte Kollegen wie Timothy Snyder verweisen kann, der mit „Bloodlands“ die doppelt blutige Geschichte Osteuropas beschrieben hat.

Aber diese Zeitgenossenschaft, wenn der Historiker miterlebt, dass die ganze Welt, die er schon in großformatigen Büchern beschrieben hat, vor seinen Augen in neue historische Brüche gerät, macht auch traurig, melancholisch geradezu, wie Schlögel 2016 in seinem Vortrag „Melancholie und Geschichte“ thematisierte.

Er grenzt dabei die Melancholie von den anderen Haltungen ab, die nicht nur Historiker lähmen, wenn so etwas zu ihren Lebzeiten passiert – Resignation und Nostalgie. Die Melancholie ist für Schlögel eine produktive Kraft: „Indem sie einen Sinn für die Nachtseite der Geschichte hat.“

Ein Teilsatz, den ich hier einmal aus dem Zusammenhang gerissen habe, weil es ja darum eigentlich die ganze Zeit geht: loszukommen vom viel zu optimistischen Blick vom ewigen Aufstieg des Menschengeschlechts, von dem Geschichtstheorien seit 200 Jahren immer wieder dominiert werden. Hin zu einer Wahrnehmung der tatsächlichen Widersprüche, die in der menschlichen Geschichte stecken.

Mit Akteuren, die darin herumfuhrwerken, als wäre die Welt nur ein Spielfeld für Machtgelüste, ein unbegrenztes Ego und wilde Visionen von riesigen Imperien.

Diesseits der Utopie

Es gibt diese dunkle Seite im Agieren der Menschen, die alle Erfolge immer wieder zerstören, Kriege anzetteln und Imperien bersten lässt. Und es sind – wie man mit Schlögel lernt – immer auch Narrative, die aufeinanderprallen. Scheinbar rationale Geschichten von Wachstum und Aufstieg. Und mythische Gespinste, Machtgelüste und eigentlich literarischer Kitsch, der auf einmal zu blutiger Politik wird.

Sodass die Menschen, die in diesen Clinch geraten, gar nicht mehr wissen, was eigentlich vor sich geht. Was dann wieder – wenn man an die großen Manipulatoren der Geschichte denkt – sogar Absicht ist. Denn das verschafft ihnen die Macht für ihre gnadenlosen Spiele.

Aber Schlögel arbeitet eben auch die Seite heraus, die Melancholie für Historiker fruchtbar macht, „zum Organon der Aufklärung macht. Welche die dunkle Seite manchmal allzu selbstsicher überspielt und vorschnell unter Irrationalismus-Verdacht stellt. Melancholie ist eben nicht Träumerei und Hirngespinst, sondern genaues Hinsehen, Wachheit, geschärfter Sinn für Übergänge, für Mischverhältnisse, für das, was der Fall ist, diesseits der Utopie.“

Auch das darf man eine leise, aber deutliche Kritik an so manchen Historiker-Kollegen nennen, die so gern Träumen vom „Ende der Geschichte“ verfallen, als müsste nur ein Imperium zusammenbrechen, und dann ist alles gut. Was aber eben das Dunkle und Böse im Menschen regelrecht ignoriert.

Und so ist das auch ein Wink mit dem Zaunpfahl an die Menschen in den Medien, die noch viel unbekümmerter glattgebügelte und optimistische Geschichten erzählen und sie viel leichtfertiger auch auf die Gegenwart anwenden, als müsse sich „das, was der Fall ist“ den einstudierten Narrativen in den Köpfen der Berichterstatter fügen. Und nicht umgekehrt.

Die unheimliche Macht der Narrative

Da ist dann Optimismus sehr schnell ein brüderliches Paar mit Selbstverliebtheit. Man glaubt einfach, was man glauben will. Und übersieht alle Zeichen dafür, dass die Dinge sich völlig anders entwickeln. Das war so auch mit Russland, das unter Putin im Grunde zurückgefallen ist in alte Muster, weil die in Moskau herrschenden Eliten Angst davor hatten, das Land in die Moderne zu führen. Der Putinismus ist in dem Sinne „eine Kapitulation vor der großen Anstrengung (…), das Land neu aufzustellen.“ Lieber kocht man uralte Narrative von der „russischen Erde“ wieder auf, von Glanz und Gloria vergangener Zeiten.

Im Grunde macht Schlögel deutlich, dass es nicht nur Historiker sind, die mit scheinbar eingängigen Narrativen vorsichtiger und kritischer umgehen sollten, sondern eben auch alle möglichen anderen Leute – von maßgeblichen Politikern bis zu Medienmenschen, die ja nun einmal dafür da sind, den Menschen tagtäglich zu erzählen, „was ist“. Aber dabei viel zu oft vergessen, die eigenen Vorurteile und angelernten Geschichten zu hinterfragen. Geschichten, die stark sind, weil sie in den Köpfen der meisten Menschen stecken.

Und so wird die Arbeit eines Historikers auch immer zur Sisyphus-Arbeit, weil er die alten, wirkmächtigen Narrative immer wieder hinterfragen muss und das dann auch noch den Menschen beibringen muss, die allesamt am liebsten an ihren alten Märchen aus der Kindheit festhalten. Weil es natürlich Arbeit macht und verstört, wenn man an sich heranlässt, dass die Welt, in der wir leben, widersprüchlicher, unlogischer und dissonanter ist, als es die üblichen Erzählungen von Geschichte für gewöhnlich darbieten.

Karl Schlögel „Auf der Sandbank der Zeit“ Hanser Verlag, München 2025, 23 Euro.

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