Wenn man verstehen will, was auf der großen politischen Bühne derzeit passiert, muss man den Blickwinkel ändern. Weg vom Betrachten des bloßen Schauspiels auf der Bühne, über das sich die Kommentatoren kaum noch einkriegen können. Hin zu einem Verständnis von Macht, das nie verschwunden ist. Auch nicht, als die Staaten des Westens die Segnungen der liberalen Demokratie für sich entdeckten. Man sollte vielleicht doch wieder ein 500 Jahre altes Buch lesen, wie es Giuliano da Empoli empfiehlt. Es öffnet die Augen.

Das Buch ist „Il Principe“ von von Niccolò Machiavelli. Das oft missinterpretiert wurde als Ratgeber für Fürsten, wie sie ihre Macht am besten handhaben sollten. Das aber tatsächlich die bis heute gültige Analyse ist, wie ein rücksichtsloser Mann bestehende Verhältnisse umstürzt und mit dem Bruch aller Regeln die Macht erlangt. Etwas, auf das ein modernes Wort wie Disruption passt. Ein Wort, das wir aus der Tech-Brache kennen. Und das selbst gewählte Politiker benutzen, als wäre es ein lobenswertes Etikett und nicht die Zerstörung demokratischer Grundlagen mit Ansage und absoluter Gewissenlosigkeit.

Vorbild für Machiavelli Fürsten war ja bekanntlich Cesare Borgia, ein Hasardspieler der Macht, der mit den von Machiavelli geschilderten Methoden aber (zeitweilig) Erfolg hatte. Und Machiavelli schildert Borgias’ Methoden ganz und gar nicht mit Bewunderung, sondern mit einer Art Sarkasmus und auch stellenweise Verzweiflung. Denn er selbst war überzeugter Republikaner, musste aber mit Entsetzen zusehen, wie die zu Macht und Reichtum gelangten Raubtiere seiner Zeit alle Regeln und Vereinbarungen mit Füßen taten, brandschatzten, plünderten, raubten und mordeten. Und letztlich so viel Schrecken verbreiteten, dass ihre Macht unantastbar schien.

Regeln und Chaos

Aber wer hat schon seinen Machiavelli gelesen? Und sieht die 500 Jahre alten Muster auch in der Gegenwart, in der ganz offensichtlich Männer, die genauso ticken wie Cesare Borgia, jede Gelegenheit nutzen, Recht und Gesetz mit Füßen zu treten, Kriege anzuzetteln, die Demokratie und den Wohlstand der Völker zu zerstören? Leute, besessen nicht nur von der Macht, sondern von den bloßen Möglichkeiten, Vorhandenes geradezu lustvoll zu zerstören, Chaos zu stiften und aus Disruption märchenhafte Gewinne zu machen.

Es ist kein Zufall, dass da Empoli diesen Typus nicht nur in der Politik sieht. Macht findet man nicht nur auf Präsidentenstühlen. Macht findet man überall, wo es um Geld und Reichtum geht. Da Empoli ist Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Science Po in Paris. Und er ist auf dem politischen Parkett unterwegs, kennt viele der Akteure auf dem politischen Bereich persönlich, war auch Berater des italienischen Präsidente Renzi. Und hat in der Funktion auch erlebt, wie Politiker ihren verkündeten Prämissen untreu werden können.

Aber er hat eben auch die Zeit miterlebt, in welcher in der westlichen Politik gewisse Regeln galten, die von den Meisten akzeptiert wurden. Bis dann Typen wie aus Macchiavellis Buch auftauchten, die auf alle Regeln pfiffen. Denn sie hatten eins begriffen: Wenn man die Regeln zerstört, erzeugt man Chaos. Und wer im Chaos agiert, der bestimmt das Spiel.

Noch einmal wiederholt: Das ist Disruption.

Und da Empoli findet diese eben nicht nur bei den Tech-Bossen aus dem Silicon Vallexy, die auf alle Regeln pfeifen und ganze Märkte zerstören, sondern mit ihren technischen Tools auch ganz bewusst den gesellschaftlichen und demokratischen Diskurs zerstören. Demokratie interessiert sie nicht. Sie sind die Großen Spieler, die Raubtiere, die ihr Geschäft betreiben, weil ihnen Regeln und Rücksicht wurst sind. Und da sie ihr Spiel nun schon seit Jahren treiben können und kein Staat und keine Regierung den Mumm hat, ihnen das Handwerk zu legen, machen sie einfach weiter, setzen immer neue Tools auf, mit denen sie die Menschen entmündigen und letztlich entmachten.

Chaos-Stiften ist ihr Handwerk

Man könnte ein Zitat von da Empoli an das Andere reihen. Er beschreibt diese Rückkehr der Raubtiere mit einem lockeren, geradezu genussvollen Stil. Ein Beobachter, der das Theatralische daran zu würdigen weiß. Und schon ziemlich ernüchtert ist darüber, dass demokratische Regierungen und Parteien dagegen wirklich Mittel finden könnten.

Denn sie haben oft nicht einmal verstanden, dass die neuen Raubtiere Grenzen und Regeln nicht akzeptieren, ihnen die Rücksichtnahme demokratischer Gesellschaften vollkommen fremd ist. Da Empoli: „In dieser neuen Welt haben die Borgianer einen entscheidenden Vorteil, denn sie sind es gewohnt, sich in einer Welt ohne Grenzen zu bewegen. Sie begnügen sich nicht damit, sich den Widrigkeiten zu widersetzen, sie ziehen ihre Stärke aus dem Unerwarteten, Instabilen und Kriegerischen.“

Chaos-Stiften gehört zu ihrem Handwerk. Im Chaos fühlen sie sich wohl. Haben sie sich immer wohlgefühlt. Denn dann sind ihre „Feinde“ damit beschäftigt, zu retten, was vielleicht noch zu retten ist, reagieren mit Gesetzen, Regeln, Versuchen, das Unheil einzudämmen und zu zähmen. Während die Raubtiere gar nicht daran denken, sich einhegen zu lassen.

Sie spielen ein anderes Spiel. Und aus da Empolis Sicht ist das eine Art Rückkehr zu einer Normalität, wie sie einst herrschte, bevor Menschen sich mit den modernen Staaten, Demokratien und internationalen Verträgen Regeln gaben, die das Untier zähmten. „Die eigentliche Anomalie war eher die kurze Periode, in der man dachte, das blutrünstige Machttier durch ein Regelsystem bändigen zu können.“

Die Ansicht kann man teilen. Muss man aber nicht. Denn auch vor Machiavelli gab es schon Regelwerke, die „das blutdürstige Machttier“ zu zähmen versuchten. Oder – um es zu übersetzen, weil es ja kein Mysterium ist: die blutige Rücksichtslosigkeit von Männern, die über Leichen gingen, um ihre Interessen durchzusetzen. Was so beiläufig die Frage aufwirft: Ist der Mensch an sich dieses Raubtier? Oder sind es nur einzelne, besonders prädestinierte Menschen, die auch in Zeiten einer umfassenden und durchaus erfolgreichen Regulierung immer die Chancen sahen und suchten, die Regeln zu brechen?

Die Bruderschaft der Raubtiere

Menschen, die auch immer verstanden haben, dass Chaos und Regelbruch genau die Verhältnisse sind, die sie brauchen, um zu gewinnen und ihre Gegner permanent in die Defensive zu bringen. Also doch etwas zutiefst Menschliches? Und Manipulatives? Denn ohne das verführbare Volk funktioniert es ja nicht. Man muss die Köpfe manipulieren. Und genau das tun die großen Techkonzerne.

Da Empoli bringt es wie kein Anderer auf den Punkt: „Die Ingenieure des Silicon Valley haben schon vor langer Zeit aufgehört, Computer zu programmieren, und sich stattdessen der Programmierung menschlichen Verhaltens zugewandt. Ab dem Moment, in dem wir beschlossen haben, es zur globalen Schnittstelle zu machen, der wir unseren Realitätsbezug überantworten, haben wir uns in ihre Hände begeben, und in die Hände all jener Spindoktoren oder Influencer, die ein Interesse daran haben, das Aufheizen des gesellschaftlichen Klimas voranzutreiben.“

Hier steckt die unheilige Bruderschaft der Raubtiere aus dem Silicon Valley und der Populisten auf Präsidentenstühlen, die im von ihnen erzeugten Chaos zur Hochglanzform auflaufen. Sahen die alten Technokraten (wie sie da Empoli in Davos verortet), in der kompetenten Verwaltung des Bestehenden ihre Aufgabe, ist es die „schreckliche Lust“ der neuen Zerstörer, „das totale Chaos anzurichten“.

„Die Tech-Lords haben sehr viel mehr mit den Borgianern gemein. Wie diese sind sie fast immer exzentrische Persönlichkeiten, die Regeln brechen mussten, um sich einen Platz zu erobern.“ Und diese Erfahrungen aus ihrem Business-Modell, mit dem sie ganze Märkte zerstört und zu ihren Gunsten umverteilt haben, treffen mittlerweile auf Politiker, die genauso ticken, die verstanden haben, dass man nur genug Chaos stiften muss, gepaart mit Lügen, Täuschungen und Verleumdungen, um mitten im Chaos als der große Triumphator wahrgenommen zu werden und vom verführten Volk als Sieger gefeiert zu werden.

Das Erwachen kommt später. Aber dann ist es zu spät. Denn zur Lehre der Borgias gehört nun einmal auch, dass man sich auf den Lorbeeren nicht ausruht, sondern ohne Pause weitermacht, Verwirrung stiftet, neue Feinde angreift, neue Panik erzeugt. Es geht um permanente Aktion, sodass die möglichen Gegner nie zur Ruhe kommen.

Die Gespenster der Geschichte

Und das gilt für die Tech-Plattformen, die immer rücksichtsloser agieren und ihre Datenkraken in immer privatere und intimere Bereiche vordringen lassen, genauso wie für die neuen Politclowns, die sich mit der Kettensäge in die höchsten Ämter vorarbeiten und dann systematisch daran gehen, alles, was an Regelwerken und Institutionen geschaffen wurde, zu entkernen, zu zerstören, in Trümmer zu verwandeln. Sodass ihre Gegner – also letztlich wir – nun erst recht schutzlos sind.

Und natürlich hat da Empoli recht, wenn er diese Verhaltensweise in Machiavellis „Il Principe“ geschildert findet. Und bei Plutarch und wo immer man sie finden kann. Große Reiche wurden zerstört, weil machtgierige Männer ihre Fundamente demolierten. Die Geschichtsbücher sind voll, davon. Und da Empoli zitiert nicht grundlos den von ihm bewunderten Henry Kissinger mit seinem Spruch: „Studieren Sie Geschichte, studieren Sie Geschichte, studieren Sie Geschichte.“

Denn wer aus der Geschichte nichts gelernt hat, der kann den modernen Raubrittern, Condottieri und Raubtieren nichts erwidern. Der versteht nicht einmal, was sie tun. Der glaubt sogar noch, sie würden am selben Spieltisch spielen und nach denselben Regeln. Was sie aber nicht tun. Die Missachtung aller Regeln ist ihr Lebenselexier. Und: Dafür werden sie bewundert und gefeiert.

Die Medien sind voll von den „Heldentaten“ der Putin, Milei, Trump und all ihrer populistischen Nachahmer. Aber selbst Kissinger war erschrocken, als er 2015 das Aufkommen der „Künstlichen Intelligenz“ registrierte. Das heute allüberall gehypte Instrument, mit dem Menschen systematisch entmündigt, bevormundet und unter die Kuratel eines Algorithmus gestellt werden, der – an Stelle genau dieser Menschen – „strategische Urteile in Bezug auf Zukunft“ fällt.

Ein größeres Entmündigungsprogramm für den Menschen hat es noch nie gegeben. Ein größeres Mittel zur direkten Manipulation von Menschen, die ihre Urteile in die Maschine ausgelagert haben, auch nicht.

Vertrauen und KI

Und – wie da Empoli feststellt: „Da ich hingegen viel in der Politik unterwegs bin, habe ich eine gewisse Kompetenz in Sachen natürliche Dummheit erlangt. Und wenn man an die Zukunft der Künstlichen Intelligenz denkt, muss man gezwungenermaßen zugeben, dass sie nicht nur die menschliche Intelligenz verstärken wird, sondern auch unsere Dummheit.“

Wobei ich daran zweifle, dass die KI die menschliche Intelligenz verstärken wird. Und eigentlich ahnt das auch da Empoli, der Typen wie Sam Altmann durchaus zutrauen möchte, dass sie mit der Verbreitung der KI eine gewisse neue Ordnung erschaffen wollen.

Doch die hat nichts mehr mit menschlicher Vernunft zu tun. „Ein rationales Regieren der Gesellschaft, Entscheidungen, die auf Basis von Daten getroffen werden, das ähnelt in seiner Theorie dem Traum der Technokraten. Es gibt da nur ein Problem. Damit die KI die Herrschaft antreten kann, muss der Glaube an die Stelle des Wissens treten.“

Das beginnt schon mit der Frage, die da Empoli an die Technokraten stellt: „Werden die KI-Modelle eines Tages erklären können, wie sie ihre Entscheidungen treffen?“

Nein, lautet die Antwort. Und trotzdem werden uns die Tools als „vertrauenswürdig“ verkauft. Jeden Hausierer, der uns so fadenscheinig in die Wohnung spazieren wollte, würden wir hochkant rausschmeißen. Aber diese Typen lassen wir rein? Die Frage stellt da Empoli nicht. Ihm geht es eher ums Beobachten, um das Erkennen uralter Muster, die ganz offensichtlich Jahrtausende der menschlichen Geschichte bestimmten.

Wir haben das zwar für einen historisch sehr kurzen Zeitraum eingehegt. Aber die Typen, denen Regeln und Frieden egal sind, waren nie verschwunden. Sie drängen wieder nach oben in diesem Moment, in dem das Regelwerk der Demokratien lädiert zu sein scheint, machtlos. So, wie ja die Putinsche Propaganda den Westen nur zu gern beschreibt.

Das Spiel der Borgias

Es ist das Lachen der Raubtiere, das da aus dem Kreml schallt. Und das uns daran erinnern sollte, dass man die Raubtiere nie endgültig besiegen kann. Dass sie die kleinste Gelegenheit nutzen, wieder auf Jagd zu gehen und sich wie die Fürsten der Borgia-Zeit benehmen und plündern und brandschatzen, wo immer sie können. Bis ihnen jemand Fesseln anlegt. Denn „Il Principe“ enthält ja nicht nur die eine Moral des rücksichtslos agierenden Fürsten. Das Buch zeigt auch, wo die tatsächlichen Grenzen der Borgias sind. Aber um diese Grenzen zu setzen, muss man ihr Spiel überhaupt erst einmal begreifen.

Es ist also ganz und gar nicht angesagt, dass das neue Zeitalter den „neuen Fürsten“ gehört oder dass sie mit ihrer Lust am Zerstören überhaupt mittelfristig Erfolg haben. Es gibt auch Beispiele, in denen kampfbereite Demokraten zeigen, dass man den Räubern Härte entgegensetzen kann. Die einzige Sprache, die sie verstehen.

Aber das geht über da Empolis Buch hinaus, in dem er im Grunde auch zeigt, wie leicht und lustvoll die Betrachtung von Politik sein kann, wenn man es mit dem Wissen um fürstliche Vergangenheiten tut und dabei Muster erkennt, die so alt sind, dass man sich eher fragt: Haben wir das wirklich vergessen? Oder haben wir einfach verdrängt, dass diese Typen nur darauf warten, neues Chaos zu stiften und die Regeln des Spiels allein zu ihren Gunsten zu ändern?

Wobei da Empoli auch die Gegenseite nicht auslässt, die von Juristen dominierten Parteien der Demokratien, die Politik als ein Riesenprojekt betrachten, alles mit Gesetzen und Regeln zu dirigieren und dabei die Menschen gängeln und bevormunden. Die Schwäche der gegenwärtigen Demokratie hat viele Gründe. Die neuen Raubritter haben nur begriffen, wie man diese Schwäche gnadenlos ausnutzen kann und den Menschen auch noch mit rücksichtslosen Technologien einredet, es müsse so sein. Und am Ende regiert uns die KI. Was für eine Erzählung. Was für eine Lüge.

Aber genau wenn man das begreift, versteht man auch, aus was für einer finsteren Mottenkiste die neuen Fürsten kommen. Und was für ein altes Denken hinter ihrem Agieren steckt. Machiavelli würde sich wohl die Haare raufen: Habt ihr denn mein Buch nicht begriffen? Man sollte wieder alte Bücher lesen, denn dass die KI einem verrät, was dort wirklich steht, kann man getrost als Falschbehauptung abhaken.

Giuliano da Empoli „Die Stunde der Raubtiere“ C. H. Beck, München 2025, 15 Euro.

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