2014 veröffentlichte Thomas Piketty sein Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“. Weltweit wurde es mehr als 2,5 Millionen Mal verkauft. Aber an der Politik in Europa hat es nichts geändert. Im Gegenteil: Nationalisten, Populisten, Neoliberale bestimmen das Feld, gewinnen die Wahlen. Die Schuldenberge der Staaten wachsen, weil allein die Interessen der Superreichen zu Politik werden. Aber Piketty schreibt weiter. In der Zeitung „Le Monde“ veröffentlicht er immer wieder Kolumnen, in denen er die medialen Aufreger der Zeit gegen den Strich bürstet.

Stefan Lorenzer hat diese in „Le Monde“ erschienen Kolumnen der Jahre 2020 bis 2025 übersetzt. Samt einem etwas umfangreicheren Essay, in dem Piketty erklärt, was er unter ökologischem Sozialismus versteht, und warum das aus seiner Sicht der einzige Weg ist, unsere Welt zu retten. Wozu ganz elementare Dinge gehören wie die Vergesellschaftung all jener Wirtschaftsbereiche, die für die Daseinsfürsorge unerlässlich sind. Wir erleben es ja jeden Tag.

Es ist in Frankreich längst in denselben Effekten zu sehen wie in Deutschland: Wirtschaftsbereiche der Daseinsfürsorge, die privatisiert wurden, funktionieren schlechter. Und sie werden sehr schnell massiv teurer, denn in privaten Konzernen geht es um Profit. Nicht um soziale Gerechtigkeit oder eine gute Versorgung für alle.

Wenn man Pikettys Kolumnen liest, wird man immer wieder an die Verhältnisse in Deutschland erinnert. Die Franzosen haben – gejagt von den Parolen und Verheißungen der Neoliberalen – dieselben gravierenden Fehler begangen wie die Deutschen. Sie haben die Steuern für die Reichen und Superreichen gesenkt, sodass sich die Vermögen der Superreichen binnen weniger Jahre vervielfacht haben und die Staatshaushalte immer mehr Schulden aufhäuften.

Piketty erinnert nicht grundlos daran, dass die höhere Steuerbelastung für hohe Einkommen und Vermögen erst die eigentliche sozialdemokratische Revolution im 20. Jahrhundert ermöglicht hat – mit einem wachsenden Wohlstand in allen Nationen, die daran beteiligt waren. Scheinbar etwas, was selbst in den sozialdemokratischen Parteien vergessen scheint, die sich aber ab den 1990er Jahre fast durchweg dem neoliberalen Zeitgeist angepasst haben und sich heute wundern, dass sie von den Arbeitern und armen Teufeln nicht mehr gewählt werden.

Wenn Politiker nicht rechnen können

Immer wieder macht Piketty dieselbe Rechnung auf, erinnert die Leser daran, dass die Länder des Westens tatsächlich imme rnoch reich sind. Aber es sind nicht die Staaten, die reich sind. Der Reichtum wurde systematisch privatisiert. Die Staaten haben sich bis über beide Ohren verschuldet. Und dazu kommt noch: Die Leute, die mit ihrem Geld die Staatsschuldentitel gekauft haben, profitieren gleich doppelt. Denn sie kassieren auch gleich noch den Reichtum der Zukunft ab.

Wie blöd kann man eigentlich sein? Ist der Mathematikunterricht in Frankreich genauso schlecht wie der in Deutschland? Oder gehen nur noch Leute in die Politik, die in Mathematik absolute Nullen waren? Kann man fragen. Darf man auch fragen.

Und für Piketty ist klar: Die Armen in den reichen Staaten sitzen dabei eigentlich im selben Boot wie die Menschen in den armen Ländern. Er plädiert mit sehr guten Gründen für eine Umverteilung des Wohlstands. Nicht nur in den Ländern des Nordens, wo dem armgesteuerten Staat das Geld für die dringendsten Investitionen fehlt, sondern auch zwischen Nord und Süd.

Nach wie vor werden nämlich die Länder des Südens vom reichen Norden ausgeplündert, haben das Geld nicht, weder zum Aufbau stabiler sozialer Verhältnisse noch für die Sicherung gegen die aktuellen und kommenden ökologischen Schäden. Die Länder des Südens leiden heute schon überproportional unter den Folgen des Klimawandels. Doch ihr Versprechen, ihnen dabei mit verstärkten Finanzzuweisungen zu helfen, haben die Staaten des Nordens bis heute nicht eingelöst. Klimaversprechen als heiße Luft.

Denn dazu müssten sie sich alle mit ihren eigenen ökonomischen und ökologische Schieflagen beschäftigen. Und mit einer verfehlten Klimapolitik, die auch im Norden vor allem zu Lasten der Armen und Geringverdiener geht. Der Gelbwesten-Aufstand war dafür geradezu symptomatisch. Menschen, die eh schon knapp bei Kasse sind und ohne Auto gar nicht aus den abgehängten Städten und Regionen zur schlecht bezahlten Arbeit in den Metropolen kommen, fanden es aus ganz realen Gründen perfide und rücksichtslos, dass ihnen nun übers Benzin die Kosten für die Klimafolgen übergeholfen wurden – während der ÖPNV ausgedünnt wurde und die Kommunen kaputtgespart.

Die vergessene sozialdemokratische Revolution

Und dazu kommt: Die Superreichen haben nicht nur einen viel größeren ökologischen Fußabdruck und eine entsprechend klimaschädlichen Lebensstil – sie haben auch ein denkbar geringes Interesse daran, unsere Welt lebenswert zu erhalten. Mit ihnen ist ein echter Klimaschutz nicht möglich. Aber sie sitzen auf dem Geld, das die Staaten brauchen, um Klimaschutz zu betreiben und gleichzeitig auch sozial ausgewogen zu agieren, die Kosten also nicht immer wieder – vor allem über Verbrauchersteuern – auf die Ärmeren umzuverteilen. Die natürlich merken, wie ungerecht es längst zugeht in ihrem Land.

„Ohne einen grundlegenden Wandel des Wirtschaftssystems und eine Neuverteilung des Wohlstands droht sich das sozialökologische Programm gegen die Mittel- und Unterschichten zu wenden“, schreibt Piketty unterm 8. November 2022. Es gehe um eine „ehrgeizige Umverteilung“. Und: Die wäre auch nicht neu.

Denn genau das haben die Länder des Westens in der Mitte des 20. Jahrhunderts erlebt, als die Gewerkschaften erstarkten und sozialdemokratische Parteien zeigten, dass eine Umverteilung des Reichtums durch angemessen hohe Spitzensteuersätze und Vermögensbesteuerung nicht nur möglich ist, sondern auch den Wohlstand der gesamten Nation erhöht.

Denn der Staat investiert, schafft Aufträge und Arbeitsplätze. Und das ermöglichte genau jene Grundstrukturen der allgemeinen Versorgung, die im 20. Jahrhundert erst einmal etwas geschaffen haben, was es vorher nie gab: eine bezahlkbare Gesundheits- und Rentenversorgung für alle, gute Bildung für alle und mehr Chancen für den gesellschaftlichen Aufstieg.

Alle „Reformen“, die sich die Neoliberalen seit Thatcher und Reagan ausgedacht und umgesetzt haben, haben sich genau gegen dieses sozialdemokratische Erfolgsmodell gerichtet. Ergebnis: Eisenbahnen, die nicht mehr funktionierten, Wohnungsmärkte, die für Normalverdiener nicht mehr bezahlbar sind, ein zunehmend löcheriges und überteuertes Gesundheitssystem, erstarrte Aufstiegschancen – und ein zunehmender Rechtsruck bei den Wählern, die sich in der Sozialdemokratie nicht mehr zuhause fühlen.

Die falschen Erzählungen der Superreichen

Und während Staaten wie Deutschland und Frankreich immer größere Schuldenberge aufhäufen und in Frankreich kaum noch eine funktionsfähige Regierung gebildet werden kann, haben die Krisen der letzten Zeit (Finanzkrise 2008 und Corona ab 2020) dafür gesorgt, das sich der märchenhafte Reichtum der Superreichen binnen weniger Jahre vervielfacht hat. Piketty: „In Frankreich sind zwischen 2010 und 2022 allein die 500 größten Vermögen von 200 auf 1.000 Milliarden Euro gestiegen, das heißt von 10 % des BIP auf 50 % des BIP (doppelt so viel, wie alles, was die ärmsten 50 Prozent besitzen).“

Und es überrascht nicht, dass diese Superreichen mit ihrem enormen Reichtum eben auch Einfluss nehmen auf Politik und Medien und dort ihre Geschichten platzieren, ihre Sicht auf das „Gemeinwohl“. Und da ist es in Frankreich genauso wie in Deutschland.

Da sind dann nicht die Superreichen schuld an der finanziellen Schieflage des Staates, sondern die Migranten und die Sozialhilfeempfänger. Die Schwächeren werden geradezu angefeuert dabei, auf den noch Schwächeren herumzutrampeln. Für Piketty ist Emmanuel Macron nichts anderes als ein Präsident der Reichen, der allein für die Reichen Politik macht. Und so forderte er am 12. Dezember 2023 konsequenterweise: „Schluss mit dem Armenhass: Schützt die öffentlichen Leistungen“.

Denn mit den immer neuen Kürzungen in den Sozialetats, wie sie auch CDU/CDU in Deutschland propagieren, werden die öffentlichen Dienstleistungen für alle ausgehöhlt. Die Daseinsvorsorge für alle verschlechtert sich. Weshalb Piketty deutlich dafür plädiert, im Grunde die wilden Privatisierungen der 1990er Jahre rückgängig zu machen (auch wenn er es so nicht formuliert) und größere Teile unserer für die Daseinsvorsorge wichtigen Wirtschaft wieder zu vergesellschaften. Also dem Bereich der profitgetriebenen Wirtschaft wieder zu entziehen. Und damit wieder verlässlich und bezahlbar zu machen.

Der Norden ist keine Insel

Und immer wieder weist Piketty eben auch darauf hin, dass dieser systematische Hass auf die Allerärmsten nur einer Truppe in die Konten spielt: den Rechtsextremen, die ihre ganze Existenz aus Hass, Verachtung und Streit gewinnen.

Was da passiert, fasst Piketty zum Beispiel so zusammen: „Die Strategie der Rechten, Arme und ‚Leistungsempfänger‘ zu brandmarken und für alle Missstände des Landes verantwortlich zu machen, ist doppelt schädlich: Sie schwächt die am wenigsten Begünstigten, sie führt zum Niedergang der öffentlichen Dienstleistungen und befördert das Umsichgreifen einer Jeder-für-sich-Haltung – just in einem Moment, in dem wir mehr Mittel vergemeinschaften müssen, um die drängendsten Bedarfe im Gesundheits-, Bildungs- und Umweltbereich zu decken. Die Wahrheit ist, dass es der private Sektor ist, in dem Verschwendung und unverdiente Vergütungen an der Tagesordnung sind, nicht die Sozialkassen und die öffentlichen Leistungsträger.“

Man denkt die ganze Zeit an Deutschland, wo im Grunde seit Jahrzehnten genau dasselbe passiert. Und die Wähler trotzdem immer wieder die Parteien der Reichen und Superreichen in die Regierung wählen, die natürlich Politik allein für ihre Klientel machen. Nichts anderes.

Aber Piketty nimmt auch die europäische Dimension in den Blick, denn das Modell EU hat gelitten, seit egomanische Politiker versuchen, die Gemeinschaft zu spalten und Reformen zu verhindern. In mehreren Kolumnen beleuchtet er, wie die EU – oder eine kleinere Staatengruppe, die zum Vorreiter wird – sich ändern müsste, damit die EU auch für ihre Bürgerinnen und Bürger wieder ein attraktives Modell des Miteinander wird, letztlich wirklich ein parlamentarisches Europa, in den sich die Bürger tatsächlich repräsentiert fühlen.

Und da auch Putins Überfall auf die Ukraine mit in den Zeitraum der hier abgedruckten Kolumnen fällt, packt Piketty dies Thema ebenfalls von der ökonomischen Seite an. Genauso wie er den Lesern die chinesische Herausforderung unter die Nase reibt und wie Europa sich dagegen eigentlich wappnen sollte.

Und er prangert den ab 2001 von den USA entfesselten „Krieg gegen den Terror“ an, der wesentlich dazu beigetragen hat, dass die Welt seitdem gefährlicher und rücksichtsloser geworden ist, während die Folgen des Kolonialismus bis heute nicht überwunden sind, die Einkommenskluft zwischen Nord und Süd sogar wieder wächst. Als würde man den Süden einfach abhängen, dem Untergang widmen und so tun , als könne man sich auf der kleinen Insel im Norden retten.

Obwohl alle wissen, dass die ökologische Katastrophe nur gemeinsam mit weltweiten Anstrengungen zu meistern ist. Wofür natürlich wieder Geld umverteilt werden muss. Und da ahnt man, warum die Parteien der Superreiche genau das zu verhindern versuchen.

Die neuen Oligarchen

Leute, die keine Skrupel kennen, stattdessen mit den schlimmsten Autokraten fossile Geschäfte zu machen. Hauptsache ihr Reichtum mehrt sich, auch wenn die Welt dadurch noch unsicherer wird. Wo die Gier anfängt, ist für Moral kein Platz mehr. Aber genau diese Veränderungen in den letzten Jahrzehnten haben auch dafür gesorgt, dass Autokraten nun auf einmal wieder glauben, Oberhand zu haben und den Westen zurückdrängen zu können.

Ein Thema, mit dem sich Piketty in „Demokratie oder Oligarchie, der Kampf des Jahrhunderts“ beschäftigt. Der Blick in die USA genügt, um zu sehen, wie der Superreichtum dort längst schon neue Oligarchen geschaffen hat, die skrupellos Politik machen und bereit sind, die USA in eine Autokratie zu verwandeln.

Das Problem ist nur: Indem sie nur an sich selbst und ihren eigenen Profit denken, den Staat demolieren und die Sozialsysteme beschneiden, zerstören sie letztlich das Erfolgsmodell USA. Im Beitrag vom 18. Februar 2025 ist sich Piketty sicher: „Trumps Nationalkapitalismus wird scheitern“.

Aber da sich Europa nicht darauf verlassen kann, dass das Scheitern der USA nicht auch Europa mitreißt, plädiert er am 15. April 2025 für: „Die Welt ohne die Vereinigten Staaten denken“. Denn so wie Donalds Trump agiert, kann es passieren, dass das weltweite Vertrauen in den Dollar schwindet und die USA unter ihrer enormen Schuldenlast zusammenbrechen.

„Trump ist im Grunde nur ein verhinderter Kolonialherrscher“, schreibt Piketty. Aber das Staatsmodell, das Trump vertritt, stammt eben auch noch aus einer Zeit, als die Länder des Nordens Kolonialismus betrieben und meinten, sie müssten die „unzivilisierten“ Völker des Südens beherrschen. Das Denken steckt noch heute in vielen Köpfen. Während die Meisten geradezu übersehen, dass das Erfolgsmodell des Westens in Wirklichkeit die sozialdemokratische Revolution in der Mitte des 20. Jahrhunderts war.

Und dass die Lösungen, die damals gefunden wurden, auch für die nächste Stufe, die ökologische Revolution, die richtigen wären – mehr Gemeinsinn, mehr Kooperation, mehr Umverteilung des gemeinsam erwirtschafteten Reichtums, mehr Wohlstand für alle. Und damit mehr Sicherheit und Solidarität, wenn es darum geht, die tatsächlich allerenden brennenden Probleme auch gemeinsam anzupacken.

Ein Buch so aktuell, dass es auch dabei hilft, die fortgesetzten Fehler und Verwerfungen in der deutschen Politik zu erkennen. Und die Tragik der Sozialdemokratie zu begreifen, die mit ihren Wählern auch ihre Visionen verloren hat.

Thomas Piketty „Für einen ökologischen Sozialismus“ C. H. Beck, München 2025, 18 Euro.

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