Es ist das große Pech derjenigen, die ein neues Zeitalter einläuten, dass sie von ihren Schülern einmal überboten und in den Schatten gestellt werden. Und dann in der historischen Rückschau so trocken und staubig aussehen, als wären sie es, die da überwunden wurden. So geht es im Grunde allen Männern, die am Anfang der Aufklärung in Deutschland standen und überhaupt erst das Instrumentarium bereitstellten, das dann für die folgenden Generationen geradezu selbstverständlich wurde. So ging es auch Christian Wolff (1679-1754).
Philosoph, Mathematiker, Universitätsprofessor in Halle und Marburg und wieder in Halle, nachdem ihn erst ein preußischer König per Edikt aus Preußen verjagt hatte und sein Nachfolger ihn mit aller Mühe zurückgeholt hat. In Halle steht tatsächlich noch sein letztes Wohnhaus, ein Kleinod, wie es Leipzig für seine Aufklärer nicht (mehr) bieten kann. Vielleicht gäbe es dann in Leipzig auch mehr Diskussionen über Leute wie Gottsched. Ohne Haus kein Anstoß, könnte man meinen.
Und auch in Halle fanden sich die eigentlich zuständigen Historiker und Philosophen nicht zuständig, die Person eines Christian Wolff aus der Versenkung des Vergessens zu holen und eine Biografie zu schreiben, die den Nachgeborenen einmal erzählt, wer dieser Wolff eigentlich war und warum er zu Lebzeiten so berühmt war, dass allein seine Anwesenheit als Professor dazu führte, dass die Immatrikulationszahlen an der Uni in die Höhe schnellten. Wozu nicht nur das Vortragstalent des Mannes verhalf, das auch seine Zeitgenossen rühmten.
Es war auch nicht nur das selbstbewusste Auftreten, wie es die überlieferten Porträts zeigen. Eins davon ziert ja das Cover dieses Buches, das der Germanist Hans-Joachim Kertscher 2018 erstmals vorlegte und mit dem er eine eklatante Lücke schloss. Und im Grund zeigte er den so uninteressierten Kollegen aus der Historikerzunft, wie man so etwas trotzdem hinbekommt, ohne dem Porträtierten Gewalt anzutun.
Der Türöffner zur Aufklärung
Denn es gilt ja für Wolff genauso wie für seine berühmten Zeitgenossen Christian Thomasius und Gottfried Wilhelm Leibniz: Persönliche Dokumente sind kaum überliefert, sodass man über das Privat- und Familienleben der Berühmten fast nichts weiß. Aber gleichzeitig haben sie ein umfassendes wissenschaftliches Werk und Berge von Briefen hinterlassen, in denen auch ihre Gedanken und Ideen stecken.
Also quasi der halbe Mensch. Aber halt der, der auch 300 Jahre später noch interessiert. In einer Zeit, in der wieder diverse Leute ihre Verachtung gegenüber der Aufklärung ausbreiten und so tun, als wäre das, was diese frühen Aufklärer da vollbracht haben, heute obsolet. Abgehakt, erledigt.
Was natürlich Absicht ist. Denn wer die (deutsche) Aufklärung so abserviert, der zeigt auch, dass er gar nicht begriffen hat, wie sehr das damals gewonnene Denken über die Welt all unseren Wohlstand ausmacht. Denn ohne verändertes Denken kein Fortschritt. Keiner wusste das besser als Christian Wolff, der zwar gern mit Leibniz in einen Topf geschmissen wird, aber anders als dieser vor allem ein neues Denken in die Universitäten gebracht hat.
Mehrzahl. Denn seine Schüler trugen dieses Denken in ihre künftigen Lehrstühle überall im deutschsprachigen Raum. Was zur Tragik des Christian Wolff gehörte: Als er 1740 61-jährig nach Halle zurückkehrte und dort von den Studenten mit Triumph empfangen wurde, waren seine Schüler teilweise schon berühmter als er.
Die Tragik schildert Kertscher im letzten Kapitel dieses Buches. Und gerade sie zeigt, wie fruchtbare Ideen den Denkhorizont einer ganzen Gesellschaft binnen einer einzigen Generation umkrempeln können.
Ein Schlüssel zum Selber-Denken
„Ideenschmiede für Philosophen“ hat das Stadtmuseum Halle die Website zum Christian-Wolff-Haus überschrieben. Denn darum ging es diesem Mann, der im Breslau geboren wurde, in Jena studierte und in Leipzig seine Lehrbefugnis erlangte. Pech für Leipzig: Auch Christian Wolff hätte hier lehren können, wenn man denn nur weniger starr und stur gewesen wäre. Sie hätten alle drei hier lehren können, wenn das Kollegium der Universität Leipzig nicht so kurzsichtig gewesen wäre: Leibniz, Thomasius und Wolff.
So ist es Halle, das versucht, die Erinnerung an seine Aufklärer zu bewahren und eine Position zu diesem Christian Wolff zu finden, dessen viele und umfangreiche Druckwerke heute praktisch keiner mehr liest. Obwohl sie zu seinen Lebzeiten nachgefragt waren und Denker im ganzen Land zu Hosianna-Gesängen ermunterten.
Nicht weil Wolff sie mit neuen Entdeckungen überschüttete, sondern weil er ihnen eine neue Denkweise nahe brachte und damit ihre Sicht auf die Welt veränderte. Eine neue Didaktik, könnte man sagen. Wenn es nur das wäre. Aber es war vor allem die enge Verbindung von philosophischem und mathematischem Denken, die auf seine Zuhörer wie ein Aha-Erlebnis gewirkt haben muss.
Auf einmal stand einer da vorn, der nicht nur frei und eloquent reden konnte, was unter damaligen Professoren sowieso schon eine ruhmreiche Ausnahme war. Er brachte seinen Zuhörern auch bei, wie man die Welt mit (mathematisch) logischer Präzision begreifen kann. Und dabei auch zu neuen Erkenntnissen kommt. Oder mit den Worten Kertschers: „Wolffs Forderung, den Unterricht in allen Fächern nach der mathematisch-demonstrativischen Methode zu erteilen, revolutionierte den Unterricht an den deutschen Universitäten.“
Die mathematische Methode ersetzte die dogmatische. Den Zuhörern wurde also auch gleich noch das Instrument zum Selberdenken an die Hand gegeben.
Die Frommen wehren sich
Wer aber selber denkt, stellt natürlich Gewissheiten infrage. Dafür wurde schon Leibniz angegriffen. Aber Wolff erlebte es in Halle mit aller Wucht. Denn gleichzeitig war Halle eine Stadt, in der der Pietismus blühte, also jene Frömmigkeitsbewegung, die Glauben und biblische Botschaft in den Mittelpunkt des menschlichen Lebens rückte.
Und mit August Herrmann Franke und Joachim Lange hatte Halle zwei besonders fromme Pietisten zu bieten, die Wolff dann gar in öffentlichen Angriffen des Atheismus verdächtigten und dabei auch nicht vor Verfälschungen seiner Reden zurückschreckten. Lange schwärzte Wolff gar beim preußischen König an, was dann zu Wolffs Ausweisung aus Halle 1723 führte. Damals in der Gelehrtenwelt ein regelrechter Skandal.
Aber – wie das so ist bei Skandalen – auch ein Zündfunke für Wolffs Berühmtheit, denn er nutzte die Auseinandersetzung auch, um in eigenen Verteidigungsschriften seine Position deutlich zu machen.
Die Schriften „trugen enorm zur Ausbreitung des Wolffianismus im ganzen deutschen Sprachraum und darüber hinaus be“, schreibt Kertscher. „Wolffianerr agierten an allen bedeutetenden deutschen Universitäten. Der ‘Wolffianismus’ genoss, so würde man es heute sagen, Kultstatus.“
Was eigentlich untertrieben ist, denn damit, dass Wolffs Denk-Methode an deutschen Lehrstühlen Verbreitung fand, wurde auch seine Art des logischen Denkens zum Grundstandard der Aufklärung. Kaum ein Philosoph hat das später von Kant formulierte Aufklärungs-Ideal so früh und systematisch auf den Punkt gebracht. Ab jetzt konnte man nicht mehr dahinter zurück.
Und auch bildlich brachte es Wolff auf den Punkt, wenn etwa auf dem Frontispiz seiner Bücher ein Himmel abgebildet war, auf dem die Sonne durch die Wolken bricht, also das eingängige Bild für Aufklärung. Wobei sich die Bedeutung des Wortes im Deutschen seitdem sehr verschoben hat. Im englischen Enlightenment ist sie noch besser bewahrt.
Offene Türen
Es ging um Erhellung, Aufhellung, letztlich das, was Wolff als Wahrheit bezeichnete: „Denn ich suche nichts in der Welt als die Wahrheit auszubreiten, ohne welche die Glückseligkeit des menschlichen Geschlechtes nicht bestehen kann“, schrieb er 1748 in einem Brief. Er meinte das ernst. Und seine Briefpartner teilten diese Sicht auf die Welt. Und es gilt bis heute.
Die Angriffe auf die Aufklärung kommen fast alle aus einer Richtung, wo Wahrheit mit allen Mitteln verfälscht, verdreht, als überflüssig verkauft wird. Wobei bei Wolff eben deutlich wird, dass Wahrheit kein Absolutum ist, sondern das, was man mit logischem Denken erkennen kann. Denken als Prozess. Auch das ein Stein des Anstoßes für die Hüter der heiligen „Wahrheiten“ zu seiner Zeit.
Aber wie gesagt: Auch ein kluger Mann von Wolffschem Format musste miterleben, dass durch die Tür, die er und Leute wie Leibniz aufgestoßen hatten, nun ganz frivol neue Sichtweisen und Gedanken einströmten, die mit Christian Wolff nun auf einmal „wie von gestern“ aussehen ließen. Seien es die Ideen Newtons oder die eines Voltaire. Das ist die Tragik von Denkern, die die Dinge erst in Bewegung gebracht haben: Und genau dafür steht ja dieser Christian Wolff, dessen Grab die Hallenser bis heute suchen. Möglicherweise liegt es direkt unterm Universitätsgebäude der Universität Halle.
Aber mit dem Christian-Wolff-Haus hat Halle zumindest einen Ort, an dem die Lebenswelt eines Professors der Aufklärungszeit heute noch – in Teilen – besichtigt werden kann. Und man hat mit Kertschers Biografie auch ein Buch vorliegen, mit dem jeder, der will, die Persönlichkeit dieses Christian Wolff kennenlernen kann. Jetzt schon in einer zweiten, korrigierten Auflage, Zeichen dafür, dass es auch heute noch Leser gibt, die wissen wollen, was für Leute da vor 300 Jahren die Aufklärung eigentlich ins Rollen gebracht haben. Und welche Art Denken dahinter steckt.
Und dazu kommt ja im Grunde, dass die Aufklärung längst wieder Thema ist, gerade weil sie von Dunkelmännern aller Arg so vehement angegriffen wird. Denn das (mathematisch)-logische Selberdenken ist noch heute anstößig, weil es Heiligtümer und „empfundene Wahrheiten“ infrage stellt und Menschen herausfordert, sich zur Lösung der Probleme ihres eigenen Verstandes zu bedienen.
Hans-Joachim Kertscher „Er brachte Licht und Ordnung in die Welt“, Mitteldeutscher Verlag, 2., korrigierte Auflage, Halle 2025, 28 Euro.
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