LEIPZIGER ZEITUNG/Ausgabe 85, seit 20. November im HandelIn den vergangenen Jahren war es stets ein Ereignis, wenn der sächsische Verfassungsschutz im Frühling seinen Jahresbericht vorstellte – zumindest für Klimaaktivist/-innen, antifaschistische Gruppen, Unterstützer/-innen von Geflüchteten und ähnliche Akteur/-innen. Denn im Verfassungsschutzbericht konnten sie alle nachlesen, wie gefährlich ihre Arbeit für den Staat sei, während hingegen beispielsweise Pegida, die AfD und andere Teil des rechtsradikalen Spektrums stets weitgehend unter dem Radar der Behörde blieben. Auf sozialen Medien wie Twitter amüsierte man sich gemeinsam über die „lustigsten“ Passagen der jährliche Berichte.

2020 ist in dieser Hinsicht – wie könnte es auch anders sein – anders. Das liegt einerseits daran, dass der Verfassungsschutz seinen Bericht diesmal erst im November präsentierte, und andererseits daran, dass rund um die Veröffentlichung die meisten Behördenkritiker/-innen wohl eher damit beschäftigt waren, sich über die „Querdenken“-Großdemonstration am 7. November zu informieren und den Protest dagegen zu organisieren.

„Querdenken“ und ähnliche Pandemie-Leugner/-innen spielen im diesjährigen Verfassungsschutzbericht keine Rolle. Das liegt daran, dass sich die Inhalte stets auf das vergangene Jahr beziehen – in diesem Fall also 2019. Dass diese neue Massenbewegung im kommenden Jahr erwähnt wird, ist aber wahrscheinlich.

Zwar hat es der sächsische Verfassungsschutz laut Leipzigs Ordnungsbürgermeister Heiko Rosenthal (Linke) versäumt, die Stadt im Vorfeld der Demonstration darüber zu informieren, dass Neonazis und andere Rechtsradikale massiv nach Leipzig mobilisieren – doch zumindest in der LVZ fand sich am Tag vor dem Großereignis eine entsprechende Warnung der Behörde, die sich im Nachhinein als berechtigt herausstellte.

Thüringens Verfassungsschutzchef Stephan Kramer äußerte zwei Tage nach der Eskalation in Leipzig, dass „Querdenken“ nicht nur „von Rechtsextremisten gekapert wird, sondern selbst extremistisch wird“. Ob sich die Landesbehörde in Sachsen einer solchen Wertung anschließen wird, ist offen. Für die Einschätzung des obersten Verfassungsschützers in Thüringen mehren sich jedoch die Indizien, nachdem sich Personen aus der obersten „Querdenken“-Riege im Anschluss an die Demonstration in Leipzig über die Teilnahme der NPD freuten und sich mit Reichsbürgern zum Strategiegespräch trafen.

Doch zurück zum Bericht für 2019.

Innenminister Roland Wöller. Foto: SMI/C. Reichelt
Innenminister Roland Wöller. Foto: SMI/C. Reichelt

„Der Rechtsextremismus im Freistaat Sachsen bleibt schon allein wegen der Entwicklung seines Personenpotenzials die größte Bedrohung und der Phänomenbereich, den unsere Verfassungsschützer am stärksten im Fokus haben“, erklärte Roland Wöller (CDU), der zum Redaktionsschluss noch amtierende sächsische Innenminister, bei der Präsentation des Berichts. In Sachsen gebe es mit 3.400 Personen so viele „Rechtsextremisten“ wie seit 1993 nicht mehr.

Die Zahl der gewaltbereiten „Rechtsextremisten“ stieg laut Behörde von 1.500 im Jahr 2018 auf 2.000 im Jahr 2019. „Sie gehörten im Berichtsjahr nicht mehr zwingend festen Strukturen an, sondern zählen größtenteils zum unstrukturierten, subkulturell geprägten Spektrum. Darüber hinaus versuchen Rechtsextremisten nach wie vor, beispielsweise auch bei Versammlungen in die gesellschaftliche Mitte hineinzuwirken.“

Vor allem für junge Akteure spielten die sozialen Medien eine wichtige Rolle, ergänzte Dirk-Martin Christian, der Präsident des sächsischen Landesamtes für Verfassungsschutz. „In den sozialen Medien heizt man sich untereinander an. Und genau dort bildet sich ein ernstzunehmender Nährboden, aus welchem Radikalisierungsprozesse und schließlich gefährliche Straftaten erwachsen können.“

Dass dies der Realität entsprechen dürfte, war unter anderem zuletzt bei den „Querdenkern“ zu sehen. Vor allem in Telegram-Gruppen und -Kanälen überbieten sich die Pandemie-Leugner/-innen mit Verschwörungstheorien, Aufrufen zu Aufständen und dem Gerede über eine angebliche „Corona-Diktatur“. All das dürfte dazu beigetragen haben, dass es in Berlin beim „Sturm auf den Reichstag“, in Leipzig beim Angriff auf Polizeiabsperrungen und in vielen anderen Städten bei Pöbeleien und Drohungen gegen Journalist/-innen zu Handgreiflichkeiten kam.

Hinter dem „Rechtsextremismus“ nennt der sächsische Verfassungsschutz den „Linksextremismus“ als zweitgrößte Gefahr im Freistaat. „Das Personenpotenzial bleibt zwar relativ konstant, wird gleichzeitig aber in Bezug auf die Anwendung von Gewalt durch Autonome immer enthemmter“, so Innenminister Wöller. „Richtete diese sich bislang vorrangig gegen Sachen, werden bei Versammlungen oder Aktionen im Verborgenen inzwischen auch Personenschäden billigend in Kauf genommen.“ Leipzig sei dabei eine „bundesweite Schwerpunktregion“ in der autonomen Szene – insbesondere Connewitz.

Im Verfassungsschutzbericht selbst ist von angeblich stärker werdenden Konflikten in der autonomen Szene in Leipzig zu lesen, unter anderem zwischen älteren und jüngeren Aktivist/-innen und jene, die bei militanten Aktionen auf Vermittelbarkeit und die Sicherheit unbeteiligter Personen achten, und jenen, die das nicht tun. Als Beispiel nennt der Verfassungsschutz den Angriff auf die Mitarbeiterin einer Immobilienfirma in deren Wohnung und die angezündeten Baukräne an der Prager Straße. Ob für letzteres wirklich „Linksextremisten“ verantwortlich sind, ist allerdings unklar.

Titelblatt der LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 85. Ab Freitag 20. November 2020 im Handel. Screen Titel
Titelblatt der LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 85. Ab Freitag 20. November 2020 im Handel. Screen Titel

Schwerpunktthemen sind laut Verfassungsschutz neben Klassikern wie Antifaschismus, Antirassismus und Antirepression auch Klima, Gentrifizierung und Kurdistan. Die Beschreibungen der Aktivitäten angeblich „linksextremer“ Gruppen wirken nach wie vor etwas beliebig. So erwähnt der Verfassungsschutz beispielsweise eine öffentliche Vortragsreihe und eine Demonstration gegen die AfD in Naunhof nahe Leipzig, an der sich etwa 20 Personen beteiligten.

Auch einige Zitate, die teilweise mehrere Jahre alt sind, finden sich wieder in dem Bericht, beispielsweise jenes der Gruppe „Prisma“, die in Anbetracht des staatlichen Versagens beim Schutz von Connewitz im Januar 2016 umgehend dazu aufrief, militanten Selbstschutz zu organisieren, weil auf die Staatsapparate kein Verlass sei.

Die Landtagsabgeordnete Kerstin Köditz (Linke) bezeichnete den aktuellen Verfassungsschutzbericht als „veraltet“ und „mager“. Wenn die Behörde erst am Ende des Folgejahres ihre Einschätzung zum Berichtsjahr abgebe, könne sie nicht als „Frühwarnsystem“ funktionieren. „Das Landesamt in Sachsen gehört außerdem zu einer Minderheit von sechs Landesämtern, die immer noch so tun, als gäbe es über die AfD und verfassungsfeindliche Strukturen innerhalb dieser Partei nichts zu sagen.“

Die Grünen übten ebenfalls Kritik. „Dass nun bereits zum vierten Mal in Folge unter dem Titel ‚Umwelt und Klima‘ die sächsische Umwelt- und Anti-Kohle-Bewegung diskreditiert wird, ist weiterhin nicht akzeptabel“, beklagt Valentin Lippmann. „Gerade in dem Bereich wird nochmal deutlich, warum wir den Verfassungsschutz grundlegend neu aufstellen wollen.“ Auch die SPD forderte erneute Reformen, unter anderem, um die „Analysefähigkeit“ zu verbessern. Zudem wünscht sich die Partei mehr Transparenz gegenüber Parlament und Öffentlichkeit. Die CDU betonte, dass jeder „Extremist einer zu viel“ sei.

Unterdessen geht die Kritik am Verfassungsschutz über den Jahresbericht hinaus. Der linke Bundestagesabgeordnete Sören Pellmann – zugleich Stadtrat in Leipzig – machte öffentlich, dass die Behörde mehrere Aktivitäten von ihm gespeichert hat, unter anderem sein Verhalten bei Abstimmungen und die Teilnahme an einer antifaschistischen Demonstration. „Ganz offenkundig gerät man als linker Bundestagsabgeordneter bereits beim Einsatz für das Grundgesetz ins Visier der sächsischen Schlapphüte“, so Pellmann.

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