Was man nicht sieht, weiß man nicht. Man läuft einfach dran vorbei, denkt sich: Ja, das ist ein schönes Haus hinter Bäumen. Welche Geschichte aber das Haus hat, wissen oft nur historisch Interessierte. Obwohl Geschichte nicht einfach verschwindet, wenn Zäune und Gitter abmontiert wurden. Denn in denen, die hier mal eingesperrt waren, wirkt das Erlebte fort. Und unser Nichtwissen hilft uns eben leider nicht, die Gefahren einer autoritären Vergangenheit im Hier und Jetzt zu begreifen. Ein Grünen-Antrag drängt jetzt auf Sichtbarmachung an zwei Leipziger Orten.

„Wenn du nicht gehorchst, kommst du ins Heim“

„Wenn du nicht gehorchst, dann kommst du ins Heim“, war einer dieser Drohsprüche in der DDR, mit denen ungebändigte Kinder nur zu gern zur Räson gerufen wurden. Auch wenn sich die meisten Kinder nicht wirklich vorstellen konnten, wie es in diesen Heimen zuging und wie Kinder dort tatsächlich zum Funktionieren gebracht wurden.

Zwei solcher Einrichtungen gab es auch in Leipzig, auch wenn im Straßenbild nichts an sie erinnert. Das macht jetzt die Grünen-Fraktion im Stadtrat mit einem Antrag zum Thema.

Zwei Orte mit Vergangenheit als sogenannte Durchgangsheime

Darin wird die Geschichte dieser beiden Orte geschildert: „In der Neudorfgasse 1 in Leipzig-Connewitz (bis 1977) und später in der Torgauer Straße 351 (ab 1977 im bzw. ab 1982 benachbart zum Spezialkinderheim) existierte ein Durchgangsheim der DDR. Die Durchgangsheime waren dem Heimsystem der DDR vorgelagert, mit der Funktion, als erste Anlaufstelle Kinder aufzunehmen, um sie dann an weitere Heime zu verweisen.

Dabei waren die Durchgangsheime, darunter das Durchgangsheim in der Neudorfgasse, später Torgauer Straße, nicht den Kreisen bzw. Jugendämtern, sondern den Spezialkinderheimen und damit gemeinsam mit den Jugendwerkhöfen als sogenannte Korrekturanstalten den Bezirken bzw. dem Volksbildungsministerium unterstellt.

Die Durchgangseinrichtungen unterlagen letztlich einer Zweckentfremdung durch die Sicherheitsorgane der DDR und bis zur Auflösung der großen D-Heime 1987 existierten keine pädagogischen Konzepte. Ihre Aufgabe bestand vorrangig darin, die Kinder und Jugendlichen fluchtsicher unterzubringen, entsprechend verschärfte Sicherheitsbestimmungen wurden im Zuge des Baus der innerdeutschen Mauer erlassen.“

So kann man es in Anke Dreier-Hornings „Die Durchgangseinrichtungen der DDR – der lange Arm der Erziehungsdiktatur“ (PDF) lesen.

Ein System der Gewalt

Mit behüteten Verhältnissen hatten diese Heime nichts zu tun. Im Gegenteil.

„Den Kindern und Jugendlichen wurde kaum Schulbildung zugestanden, die Privatsphäre und das Eigentum der Kinder waren nicht geschützt“, stellen die Grünen in ihrem Antrag fest.

„Oft trafen Untersuchungshäftlinge auf politisch Verfolgte, Kinder, die aufgrund familiärer Zwischenfälle eine Unterkunft brauchten und aus anderen Heimen geflohene Kinder. Zeugen berichten von Gewalt durch das Personal, welches für diese Aufgabe nicht entsprechend ausgebildet war. Auch die vergitterten Fenster und hohen Mauern unterstrichen den die Freiheit entziehenden Charakter für die Insass/-innen.“

Speziell zur Einrichtung in Connewitz verweisen sie auf Dr. Christian Sachses Arbeit „Informationen und historischer Kontext zum D-Heim Leipzig, Neudorfgasse“.

Dr. Christian Sachse: Informationen und historischer Kontext zum D-Heim Leipzig, Neudorfgasse.

„Schon zu DDR-Zeiten wurde versucht, die Zustände in den Durchgangsheimen zu verbessern, 1987 wurden diese dann offiziell geschlossen, in einigen Fällen lediglich umgewandelt in Jugendwerkhöfe oder Aufnahmeeinrichtungen der Jugendhilfe“, gehen die Grünen auf die Folgegeschichte ein.

„Die bedrückende Geschichte der betroffenen Kinder und Jugendlichen und des Unrechts, das ihnen widerfahren ist, ist bis heute noch wenig aufgearbeitet und kaum im öffentlichen Bewusstsein präsent. Ehemalige Insass/-innen von sogenannten ‚Durchgangsheimen‘ wurden 2010 zwar ins Bundesrehabilitationsgesetz aufgenommen, es wurden jedoch kaum Verfahren erfolgreich zum Abschluss gebracht. Unter anderem im Sächsischen Staatsarchiv gibt es umfangreiche Unterlagen, die eine weitere Aufarbeitung der Arbeit des Leipziger D-Heims ermöglichen würden.“

Höchste Zeit für die Forschung

Um alle noch verfügbaren Fakten zusammenzutragen, empfiehlt die Grünen-Fraktion eine Zusammenarbeit der Stadt mit den Leipziger Hochschulen und den schon bestehenden Gedenkstätten: „Es wäre angemessen, wenn diese durch interessierte wissenschaftliche Einrichtungen wie etwa die Universität oder HTWK Leipzig ggf. auch in Kooperation mit dem bereits aktiven Verband UOKG, bestehenden Gedenkstätten wie dem ehemaligen Jugendwerkhof Torgau und ehemaligen Betroffenen vorangetrieben werden würde.“

In gewisser Weise ist der Vorstoß auch ein Ergebnis der großen Leipziger Stadtchronik von 2015, die viele historische Forschungskomplexe überhaupt erst einmal erschlossen, aber auch sichtbar gemacht hat, wie viele weiße Flecken es in der Leipziger Geschichtsschreibung noch gibt.

Jüngst führte das ja erst zu verspäteten Diskussionen über Zwangsarbeit in Leipzig und das 100 Jahre regelrecht verdrängte Thema Kolonialismus. In beiden steckt ein altes autoritäres Denken, das eben auch weite Teile der Herrschaftsstruktur in der DDR geprägt hat – und das eben auch im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, die für die betroffenen Menschen eben eher keine Hilfe war, sondern ein ziemlich brutales Regiment, in dem die Kinder und Jugendlichen diszipliniert wurden – und das mit Gewalt.

Ein möglicher Ort des Gedenkens steht schon fest

„In Leipzig gibt es bislang keinen Ort, an dem Betroffene innehalten können, ihre Geschichten erzählt und die Erinnerung wachgehalten werden kann“, stellt der Antrag der Grünen fest. „Am heutigen Polizeirevier im brandenburgischen Bad Freienwalde hingegen, welches früher als Durchgangsheim genutzt wurde, erinnert heute eine Informationstafel an das ehemalige ‚Kindergefängnis.‘

Eine solche oder ähnliche Form des Gedenkens wäre für Leipzig wünschenswert. Hierfür käme in erster Linie der ehemalige Standort des D-Heims in Connewitz, zusätzlich aber auch der spätere Standort in Heiterblick infrage.“

Während freilich der Standort in Heiterblick eher ein leerer Ort an einer lauten Einfallstraße wäre, würde der Standort an der Neudorfgasse in einem sehr belebten Ortsteil liegen.

Hierzu beantragen die Grünen direkt: „Der Oberbürgermeister wird beauftragt, in unmittelbarer Nähe des ehemaligen Standortes Neudorfgasse 1 in Connewitz in angemessener Weise einen Ort des Gedenkens einzurichten und diesen in die in Erarbeitung befindliche ‚Konzeption zur Erinnerungskultur‘ aufzunehmen.“

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