Als beim Weltjugendtag der katholischen Kirche in Rom im Jahr 2000 nach dem Hauptevent der Rasen des Hauptevents voller Kondome zurückblieb, sagte der spätere Papst Benedikt XVI dazu, dass die Kirche „solche Jugendliche“ nicht brauche. Zweifellos sah Joseph Aloisius Ratzinger in der Anwendung von Kondomen eine moralische Niedertracht, die ein eher düsteres Schlaglicht auf nur vermeintlich gute und schon deswegen auch sexuell enthaltsame Jungkatholiken warf.

Heute, zu Beginn des dritten Coronajahrs, tendiert der aufgeklärte Teil der Bevölkerung wohl eher dazu, den Kids in Rom für deren Umsicht zu gratulieren. Immerhin haben die durch ihre speziellen Hinterlassenschaften auf dem Festivalrasen bewiesen, dass sie während einem der Höhepunkte der AIDS-Epidemie die Veranstaltung nicht zu einem HIV-Superspreaderevent ausarten lassen wollten.Papst Benedikt XVI war auch später stolz darauf, dass die Kirche sich nicht den aktuellen Zeitläuften beugte. So passt seine Bemerkung durchaus ins Bild dieses Mannes, der sich in seiner rigiden Morallehre als Bollwerk gegen jegliche Modernisierungsversuche der Kurie und ihres Kirchenvolks verstand.

Wirklich froh wird der Papstpensionär in der Vatikanstadt daher nicht über eine aktuelle Studie des Zentrums für Ökonomie der Ludwig Maximilians Uni in München und des Ifo-Instituts sein, die im Januar 2022 veröffentlicht wurde. Sie heißt „Can Schools Change Religious Attitudes? Evidence from German State Reforms of Compulsory Religious Education“ und wurde von Benjamin W. Harold, Ludger Woessmann und Larissa Zierow verfasst.

In ihr werden nämlich einige der hartnäckigsten Moralvorstellungsmythen der Kirche widerlegt, die fundamentale religiöse Identifikationsfiguren vom Schlage eines Joseph A. Ratzinger weiterhin verbreiten wie Flöhe im Mittelalter einst die Beulenpest. Grundlage jener Studie waren Daten aus Deutschland. Aber sie lässt durchaus Schlüsse auf andere Nationen zu.

Zu den Moralvorstellungen, auf denen christliche (und islamische und jüdische!) Traditionalisten bestehen, zählt ja nicht nur, dass man weder morden, noch stehlen, ehebrechen oder sich vor Neid über das teurere Haus seines Nachbarn verzehren sollte. Darin sind und waren vor allem Geschlechterrollen vorgeschrieben. Die ganz klar die Frau im Heim und am Herd verorteten und mit dem Hauptteil der Brutaufzucht betraute, die gefälligst in demselben traditionell reaktionären Sinne erfolgen sollte wie ihre eigene.

Um sich die Dimension des Religionsunterrichts in der früheren Bundesrepublik zu verdeutlichen, hier ein Vergleich: Im Grundgesetz hatte man Religionsunterricht als ein Pflichtfach in den staatlichen Lehrplänen festgeschrieben. So erhielten bis zu dem Zeitpunkt, als der zwingende Religionsunterricht allmählich abgeschafft wurde, Abiturienten während ihrer Schullaufbahn rund 1.000 Stunden Religionsunterricht. Das war mehr als das Vierfache der Zeit, die man ihnen zum Beispiel Physikunterricht erteilte.

Das Titelblat der LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 98, Januar 2022. Foto: LZ

Schule wirkt und diese eintausend Stunden Religionsunterricht bildeten eine massive Prägung, die die Schüler in ihr späteres Leben mitnahmen. Nachdem jedoch ab 1972 der Religionsunterricht an bundesdeutschen Schulen zurückging, bzw. durch Ethikunterricht ersetzt wurde, der sich nicht ausschließlich auf religiöse Moralvorstellungen stützte, ging auch die Religionsausübung sowohl im privaten Bereich als auch in der Öffentlichkeit deutlich zurück.

Wobei der zu verzeichnende Effekt in traditionell katholisch geprägten Landstrichen am höchsten ausfiel. Der Niedergang der Konfessionen in Deutschland hatte weitreichende Auswirkungen für Wirtschaft und Gesellschaft.

Weniger Menschen, die von den religiösen Moralvorstellungen und Geschlechterrollen geprägt waren, bedeutete auch, dass weniger Bürger der Meinung sind, dass vor allem das Geschlecht den Ausschlag dafür geben sollte, wer welcher Art von Erwerbstätigkeit nachgeht oder dass Frauen technische Geräte weniger gut bedienen können als Männer.

Sank die Anzahl der Schüler, die durch Religionsunterricht geprägt wurden, stiegen die Erwerbsbeteiligung von Frauen und damit ihr Einkommen, während die Zahl der Eheschließungen und Kinder sank. Ein eigenes Einkommen machte sie unabhängiger von dem ihrer Ehepartner, verschaffte ihnen größere Freiheit in Bezug auf ihre Körper und sorgte dafür, dass immer mehr ganz und gar auf eine Ehe nach dem Versorgerprinzip verzichteten. Die für den weit überwiegenden Teil ihrer Mütter und Großmütter noch unausweichlich erschienen waren.

Verwunderlich finde ich, dass die Studie explosiven Inhalts bislang kaum ein Echo in der bundesdeutschen Medienlandschaft fand. Sicher sind die Erkenntnisse daraus nichts, was ein Tino Chrupalla in den Mittelpunkt seiner Parteitagsreden stellen würde. Das sind allerdings viele andere grundlegend wichtige Ereignisse oder Erkenntnisse auch nicht, die aktuell unser Land bestimmen.

Trotzdem hätte man erwarten sollen, dass einige der eher sozialkonservativen Medien und Leitfiguren in dieser nicht nur besten Berliner Republik Anstoß an der Studie nehmen sollten. Aber es herrscht Schweigen.

Was vielleicht damit zu erklären ist, dass aus ihr eben auch hervorgeht, dass es nach dem Verfall des Religionsunterrichts in Deutschland nicht nur zu einer allmählichen Liberalisierung des Abtreibungsparagrafen und des Familienbilds kam, sondern auch damit, was in der Folge von weniger Religion in den Schulen ausblieb. Die Säkularisierung führte nämlich weder zu einer viele Jahrzehnte anhaltenden überbordenden Verbrechenswelle noch zu einem gravierenden Einbruch der Lebenszufriedenheit unter der deutschen Bevölkerung.

Beides sind Parameter, die von Traditionalisten stets herangezogen werden, um gegen angeblichen in säkularen Gesellschaften herrschenden moralischen Verfall zu argumentieren. „Menschen ohne religiös moralisches Geländer sind unglücklicher, weil ihnen halt ein höherer Sinn und Halt in ihrer Existenz fehlt!“, hört man da oft und das wird auch gern entweder mit Donnerworten über Schwangerschaftsabbrüche als Massenmord garniert oder der Warnung vor Gewaltverbrechen, zu denen Menschen ohne Religiosität vermeintlich neigen.

Sicher war es andererseits auch richtig, den Religionsunterricht nicht ersatzlos abzuschaffen, sondern durch Ethikunterricht zu ersetzen. Der eben dieselben moralischen Lebensgeländer vermittelt, auf deren Vermittlung bis mindestens zur Mitte des 20. Jahrhunderts die Kirche und ihre Diener ein Monopol hielten.

Dass Religion Gesellschaften ebenso nachhaltig prägte wie die Säkularisierung, die ihren Niedergang einläutete, sollte auch niemanden verwundern. Dass Säkularisierung entscheidend zum Wirtschaftswachstum und so auch zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit beiträgt, darf man Rektionär/-innen allerdings gern noch etwas lauter als bisher unter die Nasen reiben. Es ist nicht so, dass an ihnen Mangel in Deutschland herrschen würde. Hier übrigens auch meine herzlichsten Grüße an alle Medienkollegen und Politiker, die aktuell wieder gegen die Abschaffung des § 219a wettern.

„Haltungsnote: Kondome im Kirchenschiff“ erschien erstmals am 28. Januar 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 98 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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