Mit Milliarden-Steuersenkungen für die Gutverdiener und knallharter Politik gegen Migranten und Bürgergeldempfänger hat Friedrich Merz Wahlkampf gemacht und ist er am Ende Bundeskanzler geworden. Ein mehr als durchschaubarer Versuch, gegen die AfD Punkte zu sammeln. Nur mit den tatsächlichen Rahmenbedingungen des in der Krise steckenden Landes hatte das alles nichts zu tun. Auch nicht, wenn Friedrich Merz und seine Parteikollegen immer wieder gegen Bürgergeldempfänger polemisieren.
Ihre Pläne sind sogar sinnlos, attestierte DIW-Präsident Marcel Fratzscher am 7. Juli in seiner Kolumne auf „ZEIT online“.
Die Kürzung der Leistungen aber wäre ein großer Fehler, stellt Fratzscher fest: „Solche Maßnahmen steigern die Armut, mindern die Teilhabe, verschlechtern die Arbeitsmarktchancen und rauben vielen Bürgergeldempfänger/-innen ihre Würde. Diese Reformen bringen nur Verlierer hervor. Der Schaden für die Betroffenen, unsere Demokratie und den Sozialstaat wäre beträchtlich.“
Schon jetzt zwingen die Bürgergeldsätze dazu, dass Betroffene auf Dinge verzichten, auf die sie eigentlich nicht verzichten sollten.
„Eine neue Studie im Auftrag des Vereins Sanktionsfrei, die ich aus wissenschaftlicher Perspektive mit vorgestellt habe, bestätigt, was viele andere Untersuchungen bereits zeigen: Die Leistungen des Bürgergelds – aktuell 563 Euro für Alleinstehende – sind zu niedrig und führen zu erheblichem materiellem Verzicht“, stellt Fratzscher fest.
„Es geht längst nicht mehr nur um Einkommensarmut – fast alle Bürgergeldempfänger leben mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens. Es geht vielmehr um die Folgen. Denn: Über die Hälfte der befragten Eltern gibt an, auf Essen zu verzichten, damit die eigenen Kinder genug zu essen haben. Nur jede zweite Familie kann sich mit dem Bürgergeld ausreichend ernähren.“
Ein Angriff auf Selbstwertgefühl und Würde
Aber das Herumgetrete auf den Menschen, die gezwungen sind, Bürgergeld zu beantragen, hat noch weitere Folgen.
„Diese Lebensrealität nimmt vielen Menschen ihr Selbstwertgefühl und ihre Würde. Drei von vier Bürgergeldempfängern empfinden, dass sie kein würdevolles Dasein führen können. Nur einer von zehn sieht sich noch als Teil der Gesellschaft. Fast die Hälfte empfindet Scham, auf Bürgergeld angewiesen zu sein“, zählt Fratzscher auf. „Die Folge ist der Rückzug aus sozialer, gesellschaftlicher und politischer Teilhabe. Wer ausgegrenzt wird, findet schwer zurück – in die Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt.“
Das Ergebnis ist ein völlig dysfunktionales System, das ausgerechnet das nicht bewirkt, was sich die Befürworter eines härteren Umgangs mit Bürgergeldempfängern erwarten: Die fehlende Unterstützung führt dazu, dass es vielen Menschen nahezu unmöglich ist, wirtschaftlich wieder Fuß zu fassen.
„Über die Hälfte der Bürgergeldempfänger/-innen glaubt nicht mehr daran, aus eigener Kraft den Weg in Arbeit und in ein selbstbestimmtes Leben zu schaffen.“
Statt also – wie das mal bei der Hartz-IV-Reform angedacht war – die Bedürftigen zu stärken und zu ermutigen, wieder eine vollwertige Arbeit aufzunehmen, sorgt das System für Frustration und Entmutigung. Die Umbenennung in „Bürgergeld“ hat nur ein wenig Druck herausgenommen.
Mit den neu entfesselten Kampagnen gegen die – „faulen“ – Bürgergeldempfänger hat sich die Lage schon jetzt wieder verschlimmert. Aber man ahnt ja, worum es geht: Tatsächlich schüren diese Kampagnen die Angst bei jenen schlecht bezahlten Arbeitnehmern, die bei einem Verlust ihres Arbeitsplatzes wieder sofort zu Jobcenter-Kunden werden würden. Sie sollen eingeschüchtert und dienstwillig gemacht werden, auch wenn sie nur wenig über den Bürgergeldsätzen verdienen.
Für Fratzscher wäre eigentlich zentral: „Die Politik muss zunächst zuhören, die Perspektiven und Sorgen der Betroffenen ernst nehmen, statt sie pauschal als faul zu stigmatisieren. Mit der Anhebung des Mindestlohns ist auch eine Erhöhung des Bürgergelds notwendig und gerechtfertigt. Zudem braucht es eine ernsthafte Investition in die Arbeitsmarktintegration.“
Die blanken Zahlen
Und während die Unionspolitiker nicht müde werden, eine härtere Gangart gegen Bürgergeldempfänger zu fordern, sprechen die blanken Zahlen eine völlig andere Sprache, die das gemalte Bild der Arbeitsverweigerer schlicht nicht unterstützen.
„5,4 Millionen Menschen leben in Deutschland vom Bürgergeld. Ein Drittel davon sind Kinder. Die Mehrheit der erwerbsfähigen Bürgergeldempfänger/-innen hat keinen oder keinen passenden Berufsabschluss, viele keinen Schulabschluss. Einige leiden unter gesundheitlichen Problemen. Rund 800.000 aber – überwiegend alleinerziehende Mütter – sind erwerbstätig. Sie verdienen jedoch zu wenig und müssen daher aufstockend Bürgergeld beziehen. Ein häufiger Grund ist, dass sie wegen fehlender oder unzureichender Kinderbetreuung nur in Teilzeit arbeiten“, geht Fratzscher auf diese simplen, leicht nachschlagbaren Zahlen ein.
„Die überwältigende Mehrheit der Bürgergeld-Bezieher will arbeiten und ein Leben in Würde führen. Dem gegenüber stehen im Jahr 2023 rund 16.000 Totalverweigerer, deren Verweigerungshaltung geahndet werden muss. Doch diese Minderheit darf nicht als Rechtfertigung für eine Politik herhalten, die Millionen Menschen pauschal unter Verdacht stellt.“
Und auch die immer wieder beschworenen Sanktionen bringen nichts, wie eine Studie von Joachim Wolff vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit zeigte: Kurzfristig erhöhen sie die Beschäftigungswahrscheinlichkeit zwar, reduzieren sie aber langfristig sogar leicht.
Und das hat einen ganz simplen Grund, so Fratzscher: „Der kurzfristige Beschäftigungseffekt beruht vor allem auf schlechter bezahlten Jobs. Die Chance, eine besser bezahlte oder qualifikationsgerechte Arbeit zu finden, ist für Sanktionierte dauerhaft geringer. Frauen nehmen häufiger Minijobs an. Zudem steigt das Risiko, erneut arbeitslos zu werden: Im ersten Jahr beträgt es bei Männern um 16 Prozent bei Männern, 28 Prozent bei Frauen; der Einkommensverlust liegt bei 1.521 Euro (Männer) bzw. 845 Euro (Frauen).“
Das ist blanker Populismus
Von dauerhafter Arbeit kann da also keine Rede sein. Weshalb Fratzscher all die schäumenden Vorstöße zur Verschärfung der Bedingungen im Bürgergeld für reinen Populismus hält. „Dieser Populismus grenzt aus, stigmatisiert und verschlechtert die Chancen auf Wiedereingliederung. Die langfristigen Konsequenzen sind katastrophal – besonders für Kinder, die von klein auf ausgegrenzt und geprägt werden und später als Erwachsene häufig selbst im Leistungsbezug bleiben.
Auch unsere Demokratie leidet, wenn große Teile der Bevölkerung keine Teilhabe mehr erleben. Die Lösungen liegen auf dem Tisch: ein Ende des Populismus – und stattdessen Investitionen in Teilhabe, Würde und Arbeitsmarktintegration.“
Aber ob die zuständigen Unionspolitiker das überhaupt gelesen haben? Und auch verstanden? Und auch verstanden, wie sie mit ihrer Polemik einmal mehr die Argumente der Rechtsextremen bedienen und verstärken? Es steht zu befürchten, dass die Antwort „Nein“ lautet. Und dass mit verbalen Attacken gegen die Menschen in Bürgergeld-Bezug weiter Wahlkampf betrieben wird.
Und eins dabei von vornherein negiert wird: Die kleine, aber wichtige Würde des Bürgers, der in seiner Not auf die staatliche Hilfe angewiesen ist. Der eigentlich nur respektiert werden möchte und bestmöglich unterstützt auf der Suche nach einer menschenwürdigen Arbeit.
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