Das Problem der rechtskonservativen Populisten ist natürlich, dass sie zwar ein Phänomen richtig wahrnehmen – es sind deutlich mehr Menschen auf Wanderung als noch vor wenigen Jahren. Aber sie glauben, das Problem mit einer uralten Lösung aus dem Museumsreservoir des 19. Jahrhunderts lösen zu können: dem guten alten Nationalstaat mit seinen strengen Grenzwächtern und Zollbeamten. Aber sie begreifen den Motor dahinter nicht. Deswegen ist ihre Lösung so dumm.

Der Motor dahinter ist eigentlich ein uralter. Und wer seine Arbeitspause am Meer mal dazu nutzt, sich über die eigenen Antriebskräfte im Leben zu vergewissern, der weiß, was das für ein starker Motor ist. Und niemand kann ihn ausschalten – außer durch solche depperten Mauerideen, wie Walter Ulbricht mal eine hatte. Denn die legendäre Berliner Mauer wird zwar gern politisch verbrämt und erklärt.

In Wirklichkeit hatte sie dieselbe Funktion wie die Zäune und Mauern, die Israel zum Palästinensergebiet gebaut hat, Trump nach Mexiko haben will oder Ungarn an seiner Grenze errichtet hat: Sie sollen Menschen daran hindern, aus der Armut und Perspektivlosigkeit in ein Land mit wirtschaftlich besseren Chancen zu wandern. Die Wanderung von Millionen aus Ostdeutschland in den Westen war zu 99 Prozent nicht ansatzweise politisch konnotiert. Es war eine Wanderung aus Arbeitslosigkeit und prekären Verhältnissen in die wirtschaftlich stärkste Region Europas.

Der Westen war immer vor allem wegen seiner Arbeitsplätze und dem Versprechen auf Wohlstand attraktiv. Das war auch 1989 und 1990 so.

Und bei all den Diskussionen über „Flüchtlinge“ verlieren die Debattierenden immer aus dem Blick, dass es selbst innerhalb der EU starke Wanderungsbewegungen gibt. Sie haben dieselben Ursachen: Junge Menschen wandern der Arbeit und dem besseren Leben hinterher. Und da innerhalb der EU Arbeitnehmerfreizügigkeit besteht, macht niemand mehr ein großes Trara daraus. Im Gegenteil: Westeuropäische Firmen freuen sich, wenn sie Arbeitskräfte aus Polen, Ungarn oder Bulgarien gewinnen können.

Natürlich sind es vor allem die jungen Menschen, die auf Wanderschaft gehen und dann oft die Daheimgebliebenen finanziell unterstützen.

Und wie stark das Gefälle ist, haben jetzt Dr. Michael Dauderstädt und Cem Keltek einmal für die WISO-Reihe der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung berechnet. Dabei haben sie auch gleich noch die Berechnungsart der EU für die Armutsquoten kritisiert. Denn die EU versucht das Thema Armut und Einkommen irgendwie immer noch über nationale Quoten zu ermitteln, was bei einer EU ohne Arbeitsgrenzen reichlich Quatsch ist. Und es führt in die Irre. Es zeigt ein geschöntes Bild, mit dem auch die EU-Kommission eigentlich nicht arbeiten kann.

So nebenbei erklärt das, was die beiden Autoren ermittelt haben, auch die besonderen Probleme, die die osteuropäischen Länder mit der Zuwanderung haben.

Reiche Länder wie die Bundesrepublik haben ganz andere Handlungsspielräume als Länder mit einem deutlich niedrigeren Bruttoinlandsprodukt und entsprechend viel geringeren Einkommen. Das ist eines der Hauptprobleme der EU, dass immer wieder alle Länder in einen Topf geworfen werden und ein völlig verwirrter deutscher Innenminister glaubt, er müsse aus purer Not genauso agieren wie der ungarische Staatspräsident.

Ausgangsbasis war die EU-Methode zur Berechnung der Armutsquoten: „Die nationalen Armutsquoten bewegen sich in der EU zwischen mehr als 25 Prozent in Rumänien und weniger als zehn Prozent in der Tschechischen Republik. Für Deutschland liegt der Wert bei 16,5 Prozent (2016). Der offizielle Wert von Eurostat für die EU als Ganzes ist 17,3 Prozent, womit sich die Armut in der EU nur leicht über dem deutschen Niveau befände. Berechnet man nach der im Kasten erklärten Methode jedoch eine EU-weite Armutsgrenze, so ergibt sich ein deutlich höherer Wert.“

Wenn das so wäre, könnte man ja wirklich Sonnenscheinpolitik à la Brüssel machen.

Aber wer so rechnet, hat in Mathematik schlicht geschlafen. Denn eine Armutsquote in Rumänien ist schon aufgrund der viel niedrigeren Durchschnittseinkommen in keiner Weise mit Armutsquoten in Deutschland oder Frankreich vergleichbar.

Deswegen haben Dr. Michael Dauderstädt und Cem Keltek Quintile gebildet – also jeweils ein Fünftel der rund 500 Millionen Europäer mit einer gemeinsamen Einkommensspanne. Und dann: „Zur Abschätzung der europäischen Armutsquote wird im ersten Schritt das mittlere europäische Einkommen bestimmt, wozu die nationalen Quintile so lange aufsummiert werden, bis das resultierende europäische Bevölkerungssegment die Hälfte der Gesamtbevölkerung ausmacht. Das Grenzeinkommen, bei dem die Hälfte erreicht wird, ist das mittlere Einkommen. Dann werden alle nationalen Quintile ermittelt, deren Durchschnittseinkommen weniger als 60 Prozent dieses mittleren Einkommens beträgt, die Anzahl der darin enthaltenen Personen summiert und ins Verhältnis zur gesamten EU-Bevölkerung gesetzt.“

Das Ergebnis ist einleuchtend: Auf einmal wird sichtbar, wie viele Quintile in welchen Ländern unter der europäischen Armutsgrenze liegen.

Das Ergebnis ist natürlich eine andere, nicht mehr geschönte Armutsquote, die deutlich höher liegt als die von Eurostat ermittelte Schönwetterzahl.

„Damit liegt die EU-weite Armutsquote nach unserer Schätzung zu Wechselkursen bei 28,2 Prozent (das sind ca. 142 Millionen von insgesamt ca. 500 Millionen Einwohner_innen), ist also höher als in jedem Mitgliedstaat. Zu Kaufkraftstärken sinkt der Wert auf 23,2 Prozent (das sind ca. 117 Millionen Einwohner_innen), ist also höher als das Niveau Bulgariens. Der offizielle Eurostat-Wert mit einer Quote von 17,3 Prozent liefert eine Anzahl von knapp 87 Millionen armutsgefährdeten Menschen in der EU. Er unterschlägt also – je nach Messung zu Wechselkursen oder zu Kaufkraftstärken – 30 bzw. 55 Millionen Armutsgefährdete.“

Die Karte zeigt, wie sich Armut wirklich in der EU verteilt und dass vor allem die osteuropäischen Länder hohe Bevölkerungsanteile mit prekären Einkommen haben. In Bulgarien und Rumänien sind es sogar fünf Quintile. Dass heißt: Selbst die höchsten Einkommensgruppen liegen unter der EU-Armutsquote. Auch wenn es darunter auch die üblichen einzelnen Millionäre gibt. Aber nicht Millionäre bestimmen ja die Wanderungsströme in der EU, sondern die Menschen, die von ihrem täglichen Einkommen abhängig sind.

Da hat man zwar diese wichtigen Staaten im Osten in die EU aufgenommen – man hat aber keine Programme aufgelegt, um die extremen Einkommensgefälle zu reduzieren. Man agiert immer noch so, als müsste sich jedes Land einzeln am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Und wenn das nicht gelingt, werden die Schuldnerländer behandelt, als müssten sie nur ihr Meißner Porzellan verkaufen und würden es noch schaffen.

Da lohnt sich der Blick auf die Mittelmeerländer, wo eben nicht nur das gebeutelte Griechenland zu den wirklich armen Ländern gehört, sondern auch Spanien und Portugal. Und mit Griechenland und Spanien sind zwei Länder hier sichtbar, die besonders stark von Flüchtlingen angesteuert werden und die im Dublin-Sprech deswegen immer als Ankunftsländer gelten. Dass man ausgerechnet ihnen die Hauptlast der Flüchtlingsaufnahme zuweist, gehört schon zu den sarkastischen Seltsamkeiten der EU.

Und der Blick auf die Karte zeigt auch, dass auch in der reichen Bundesrepublik ein ganzes Quintil (also über 20 Prozent der Bürger) arm ist. Nicht armutsgefährdet, sondern wirklich arm. Und die Autoren betonen nicht ohne Grund, dass erst die Einführung des Mindestlohnes 2015 dieses stetige Wachstum der Armut in Deutschland gebremst hat.

Und natürlich betonen sie, dass solche gravierenden Unterschiede in der EU natürlich dazu führen, dass Millionen Menschen auf Wanderschaft gehen.

Wie eingangs schon bemerkt, ist Ungleichheit einer der wichtigsten Faktoren, die Migration und dadurch auch Gefährdungsängste und Populismus auslösen. Migration war ein zentrales Motiv für den Brexit und ist Leitthema vieler populistischer Parteien von Skandinavien über Frankreich, die Niederlande, Deutschland, Italien bis nach Mittelosteuropa. Hohe Einkommensunterschiede zwischen Ländern mit engen Wirtschaftsbeziehungen tragen auch zur Verlagerung arbeitsintensiver Produktionsschritte bei, die ihrerseits Löhne und Beschäftigung an den bis dahin besser gestellten Standorten gefährdet. All dies sind Gründe, der Verringerung von Ungleichheit mehr Aufmerksamkeit zu schenken.“

Es ist derselbe Mechanismus, der Ostdeutschland zum Abwanderungsgebiet gemacht hat – und den Populisten hier Auftrieb gegeben hat. Und es ist derselbe Mechanismus, der auch weltweit Motor der Fluchtbewegungen ist. Denn verglichen mit Afrika oder dem Nahen Osten ist Europa ein reicher und attraktiver Kontinent. Weltweit steht dieselbe Aufgabe, die die EU in ihrem Gebiet auch noch nicht gelöst hat: die Verringerung der Ungleichheit. Das ist eine echte Herausforderung.

Aber sie ist mit Nationalpopulisten nicht zu lösen.

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