Es wird noch ein langer, zäher Kampf, bis unsere Städte wieder lebenswerte Orte werden. Das liegt nicht nur an den Denkbarrieren im Kopf. Das liegt auch – wie Leipzigs Baubürgermeister im Herbst bei einem Gespräch mit den „Scientists for Future“ sagte – daran, dass die deutsche Gesetzgebung seit über 60 Jahren die Vorfahrt fürs Auto festgeschrieben hat. Und so schlagen die Grünen jetzt wieder einen kleinen Schritt zur Verbesserung vor.

Das Denken in den großen europäischen Städten ist längst in Bewegung. Und zunehmend setzt sich das Wissen darum durch, dass das Automobil nicht die Lösung für die Mobilitätsprobleme der Zukunft ist. Im Gegenteil: Es macht die Straßen unserer Städte zu hochgefährlichen Orten, parkt öffentliche Räume zu, verursacht massive Umwelt- und Klimaschäden und behindert vor allem alle umweltfreundlichen Verkehrsarten.

Es ist ein wenig so wie noch vor gar nicht langer Zeit bei Zigarettenwerbung und Alkoholwerbung: Jahrzehntelange Programmierung über nette Clips mit schnittigen Fahrten auf leeren Straßen am Meer haben dem Auto ein Image gegeben, das tatsächlich das Gegenteil dessen ist, was es bewirkt. Die viel besungene Freiheit hat sich zu einer riesigen Unfreiheit entwickelt. Städte sind verstopft mit den fahrbaren Untersätzen. Wer auch nur einen Moment nicht aufpasst, kommt unter die Räder. Spielende Kinder auf der Straße sind mit dem großen „Wende“-Jahr 1990 verschwunden.

Das Automobil ist das Symbol für eine falsch verstandene Freiheit geworden, die das Denken über lebenswerte Städte massiv behindert. Und übrigens – daran sei an dieser Stelle erinnert – in den 1990 Jahren auch verhindert hat, dass der Stadtrat erste autofreie Wohngebiete beschließen konnte.

Nicht autoarm, sondern autofrei – nämlich für all jene, die kein Auto haben und auch nicht mit Autos zusammen wohnen wollen. Und es hat verhindert, dass die kostbare Innenstadt komplett autofrei wurde. Auch hier setzten sich die Verehrer des automobilen Überallhins durch und erzwangen einen faulen Kompromiss, der bis heute „autoarm“ heißt.

Was beantragen also die Grünen, nachdem der Stadtrat in den vergangenen Jahren immer wieder auf neu ausgewiesene Tempo-30-Zonen insbesondere vor Schulen, Kitas und Krankenhäusern gedrungen hat?

„Der Oberbürgermeister wird beauftragt, die Umsetzung von 3 Pilotprojekten zur Einführung von Tempo 30 Regelhöchstgeschwindigkeit innerorts auf Grundlage §45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 StVO (Erprobungsklausel) zu prüfen.“

Mehr darf der OBM derzeit gar nicht. Obwohl längst belegt ist, dass ein flächendeckendes Tempo 30 die Zahl der Verkehrsunfälle deutlich senkt. Die Grünen dazu: „Viele Untersuchungen belegen bereits die Vorteile von Tempo 30 innerorts nicht nur im Nebenstraßennetz. Eine Studie des Umweltbundesamts von Ende 2016 zu ,Wirkungen von Tempo 30 an Hauptverkehrsstraßen‘ fasst Erkenntnisse zusammen, die auch für eine Erprobung in Leipzig wegweisend sind und auf denen bei Auswahl, Umsetzung, Begleitprozess und Evaluierung von Bereichen mit Tempo 30 als Regelhöchstgeschwindigkeit in Leipzig auf- und angesetzt werden sollte. Insgesamt wird hier festgestellt: ,Den vorliegenden Begleituntersuchungen zufolge, gibt es in den meisten Fällen Gewinne bei Verkehrssicherheit, Lärm- und Luftschadstoffminderung und bei den Aufenthaltsqualitäten – gleichzeitig wird die Auto-Mobilität nicht übermäßig eingeschränkt.‘ In Leipzig lag die durchschnittliche Fahrgeschwindigkeit auf den Hauptverkehrsstraßen zur Hauptverkehrszeit im Jahr 2018 bei 27,6 km/h.“

Und weiter: „Das Ziel der Erprobung von Tempo 30 als innerörtliche Regelhöchstgeschwindigkeit soll die Schaffung von stadtverträglichen Geschwindigkeiten im Straßenverkehr in der wachsenden Stadt Leipzig sein, die die Belange der Mobilität aller Menschen berücksichtigen muss. Der Fokus liegt auf der Erprobung von Tempo 30 in zusammenhängenden Gebieten als Regelhöchstgeschwindigkeit. In Leipzig ist ohnehin in vielen Nebenstraßen bereits Tempo 30 angeordnet. Wichtig ist die Betrachtung der notwendigen Bedingungen, welche die Durchschnittsgeschwindigkeiten des ÖPNV erhalten oder verbessern.

– Auch die Zuverlässigkeit im Verkehr kann so verbessert werden, was vor allem dem Wirtschaftsverkehr hinsichtlich der Planbarkeit zugute kommt.

– Durch einen besseren Verkehrsfluss reduziert sich der Lärm und verbessert sich die Luftqualität, da weniger Schadstoffe ausgestoßen werden. Durch niedrigere Höchstgeschwindigkeit und geringere Geschwindigkeitsdifferenzen zwischen den Verkehrsteilnehmenden erhöht sich die Verkehrssicherheit (weniger Unfälle und weniger schwere Unfallfolgen). Die Aufenthaltsqualität und Nutzbarkeit der öffentlichen Räume gewinnt.

– Die Erprobung soll in einem integrierten Ansatz aus Verkehrsplanung, Verkehrssicherheit, Freiraumplanung und Wissenschaft erfolgen.

– Die Erprobung entspricht den Leipziger Zielen aus nachhaltiger Mobilitätsstrategie, Lärmaktionsplan, Luftreinhalteplan und Klimanotstand und leistet damit einen zukunftsweisenden Beitrag für Leipzigs Mobilitätswende.“

Und da OBM Burkhard Jung derzeit ganz zufällig auch Präsident des Deutschen Städtetages ist, sehen die Grünen für ihn noch eine Aufgabe vor: „Der Oberbürgermeister setzt sich auf Bundesebene dafür ein, dass Tempo 30 innerorts zur geltenden Regelhöchstgeschwindigkeit wird.“

Was wahrscheinlich mit dem derzeitigen Bundesverkehrsminister nicht zu machen geht. Aber im September wird die Bundesregierung ja neu gewählt.

Und auch in anderen europäischen Städten setzt sich zunehmend ein Umdenken durch. Bekanntestes Beispiel ist mittlerweile Paris, wo Bürgermeisterin Anne Hidalgo nicht nur für ihre konsequente Verkehrspolitik wiedergewählt wurde. Noch 2021 plant die Stadt ein das ganze Stadtgebiet umfassende Tempo 30.

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