Wer Gerichtsberichte, Prozessreportagen und Vorberichte zu schweren Straftaten in seriösen Medien genauer verfolgt, kennt das Prozedere. Vor einem Verfahren wird von „Beschuldigten“ gesprochen, ihre Namen werden nicht ausgeschrieben, um ihre Rechte zu wahren und erst bei Prozesseröffnung heißen sie „Angeklagte“. Werden sie hierbei fotografiert, dürfen ihre Gesichter normalerweise nicht gezeigt werden, sie werden verfremdet oder verdeckt.

Von „Tätern“ spricht man medial erst, wenn nach den meist durch mehrere Instanzen gehenden Prozessen ermittelnde Polizeibeamte, Staatsanwaltschaft und Verteidigung ihre Argumente vorbringen konnten, Zeugen gehört und womöglich unabhängige Gutachten zu Teilaspekten wie psychologischen Begleiterscheinungen zur Tat beigezogen wurden. Und der oder die Richterinnen ein abschließendes Urteil gefällt haben.Ein über Jahrhunderte erarbeitetes und austariertes Verfahren im Rechtsstaat, welches neben der möglichst gerechten Urteilsfindung die mediale Beeinflussung von Richtern begrenzen und gleichzeitig die Würde von Angeklagten wie Opfern von Taten unabhängig von Herkunft und Stand schützen soll.

Eine Errungenschaft der Aufklärung, der sich heutige, seriöse Medien ohne Ansehens der Person ebenso verpflichtet fühlen, wie Juristen und Strafverfolgungsbehörden. Sie gelten gemeinhin als der Weg, welcher neben dem Opferschutz statt Rache auch verurteilten Straftätern nach Verbüßung von Haft und Bewährung idealerweise den Weg zurück in die Gesellschaft ermöglichen soll.

Vorverurteilung, Vergeltung und Gewaltphantasien

Anfang Juni veröffentlichte das „Compact Magazin“ einen Text auf seiner Homepage, in dem es sich damit brüstete, Lina E. „exklusiv ein Gesicht“ zu geben. Ob es sich bei der Abgebildeten tatsächlich um die Angeklagte handelt, ist unklar. Zudem nennt „Compact“ stets den kompletten Nachnamen der jungen Frau und macht sie damit aktuell und zukünftig zur Zielscheibe anderer Akteure aus dem rechtsextremistischen Spektrum.

So stellte sich beispielsweise der ehemalige „Blood & Honour“-Aktivist Sven Liebich vor das Chemnitzer Frauengefängnis, in dem sich Lina E. befindet, rief ihren vollständigen Namen in ein Megafon und schickte zahlreiche Aufrufe zu übelsten sexuellen Gewalttaten gegen Lina E. hinterher. All das verbreitete der mehrfach vorbestrafte Liebich anschließend als Video im Netz, um möglichst breite Wirkung des menschenverachtenden Treibens zu erzielen.

Gleiches versucht das rechtsradikale Szeneheft auf seiner Onlinepräsenz auch im Fall Henry A., bekannt durch die LZ-Serie „Unschuldig verfolgt“ vom Mai 2021. Zuletzt erschien bei „Compact“ auf Grundlage von Unterlagen, die bei der Hausdurchsuchung bei A. am 28. März 2021 sichergestellt wurden, ein Artikel mit Auszügen aus Ermittlungsakten der Jahre 2013 bis 2021. Darunter ein Observierungsfoto und Originalzitate als Screenshots aus Ermittlungen der Jahre 2013 bis 2016, die nie zu einer Anklage reichten.

Und von denen unklar ist, ob sie je abgeschlossen wurden, nachdem die damalige teils rechtswidrige Massenüberwachung des LKA Sachsen gegenüber bis zu 250 Menschen zum öffentlichen Skandal geworden war.

Dennoch wird so im Fall Lina E. und auch im Fall Henry A. versucht, Menschen vor einer Gerichtsverhandlung (sofern diese, wie bei A. überhaupt je kommen wird) öffentlich den Prozess und Stimmung gegen sie zu machen, ohne dass sich die Betroffenen dagegen wehren können. Ein Vorgehen, welches nicht grundlos gegen mehrere rechtliche und ethische Grundsätze verstößt und der Presse teils sogar strafbewehrt normalerweise untersagt ist.

Jonas Kahl, Fachanwalt für Urheber- und Medienrecht in Leipzig, weist auf LZ-Anfrage darauf hin, dass es nur in „ganz wenigen Ausnahmefällen“ zulässig sei, den vollen Namen und ein Foto der Beschuldigten zu veröffentlichen. „Die Frage, ob jemand eine Person des öffentlichen Lebens ist, kann dabei genauso maßgeblich sein, wie die Schwere der angeblichen Tat und ein Interesse an den dahinterstehenden Personen.“

Im vorliegenden Fall von Lina E. sei für ihn „nicht ersichtlich“, dass eine der Voraussetzungen gegeben ist.

Muss „Compact“ mit juristischen Schritten rechnen?

Björn Elberling, neben Erkan Zünbül einer der beiden Anwälte von Lina E., teilte auf Anfrage mit: „Wir haben die ‚Berichterstattung‘ der ‚Compact‘ natürlich im Auge und prüfen rechtliche Schritte dagegen sehr genau.“ Woher das rechtsradikale Magazin seine Informationen über Lina E. sowie weitere Angeklagte und Aktivist/-innen aus der linken Szene bezieht, steht für die beiden Rechtsanwälte nahezu außer Frage: vom LKA Sachsen.

„Dies zum einen, weil die Nebenklägervertreter in unserem Verfahren nur recht eingeschränkte Akteneinsicht hatten, und zum anderen, weil sich eben aus anderen ‚Compact‘-Berichten ebenfalls ein gezieltes Durchstechen von Informationen durch die Ermittlungsbehörden ergibt.“

Gemeint ist dabei der Fall Henry A., der sich zufälligerweise zeitlich parallel zum Fall Lina E. abspielt. Hierbei sind die Wege der Informationen zwischen den Ermittlungsergebnissen und den Artikeln eines vorher unbekannten Autors namens „Sascha Neuschäfer“ so kurz, dass bereits vier Anzeigen gegen Unbekannt wegen Datenhehlerei, Geheimnisverrat im Dienst und unzulässige Ausspähung von Daten vorliegen.

Die Vermutung steht bei diesem Fall im Raum, dass hier sogar ein sächsischer LKA-Beamter selbst Informationen aus fast einem Jahrzehnt erfolgloser Ermittlungen gegen Henry A. nun wenigstens medial präsentieren will. Denn vor Gericht sind sie nie gelandet, weil die Vorwürfe durch die Ermittler nicht erhärtet werden konnten.

Das Ergebnis: Unschuldige, weil nicht rechtskräftig angeklagte und verurteilte Menschen werden mutmaßlich durch Polizeibeamte des Freistaates Sachsen öffentlich diffamiert und Teile ihres Privatlebens ohne Möglichkeiten der Verteidigung bloßgestellt. Auf LZ-Nachfrage erklärt Henry A. beispielsweise, dass er von „Compact“ vor der Publikation nicht um eine Stellungnahme gebeten wurde.

Fehlende Ermittlerstrukturen gegen Ermittler

Viel befürchten müssen die mutmaßlichen Täter aus LKA-Kreisen nicht. Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hat den Fall mittlerweile zur Staatsanwaltschaft Chemnitz abgeschoben. Ein Zeichen dafür, dass niemand gern gegen das LKA ermittelt, mit dem man bei nächster Gelegenheit wieder zusammenarbeiten muss. Dies darf nun die Staatsanwaltschaft Chemnitz sogar noch eine Hierarchie-Stufe darunter übernehmen, ohne dabei wirklich frei in ihrem Vorgehen zu sein.

Denn eine unabhängige Ermittlungsinstanz wie in anderen Ländern existiert in Deutschland nicht. Hier müssen nun Staatsanwälte mit Ermittlern der Polizei gegen Ermittler der Polizei im gleichen Bundesland ermitteln. Und dabei einkalkulieren, dass sogar die im Fall Henry A. ermittelnden Staatsanwälte involviert sein könnten. Denn selbst eine Abgabe des Falles in ein anderes Bundesland ist ihnen untersagt.

Erst Strafanzeigen, welche in anderen Bundesländern außerhalb Sachsens aufgegeben werden, könnten das LKA Sachsen, den anonymen Schreiber bei „Compact“ und durchaus auch den vom Verfassungsschutz beobachteten „Compact“-Verlag mit Sitz in Werder an der Havel selbst wirklich in Bedrängnis bringen.

Neues Ausmaß, wenn Behörden medialen Einfluss nehmen

Luisa Dietrich vom Kampagnenbündnis „Wir sind alle LinX“ sieht in diesen Vorfällen ein neues Ausmaß: „Dabei geht es uns weniger um die konkreten Informationen, die durch ‚Compact‘ verbreitet werden, sondern vielmehr um deren Quellen. Natürlich kann alles erlogen sein. Aber zumindest die Fotos deuten an, dass rechtsextreme Autoren Zugang zu internen Polizeiakten haben.“

Die Leipziger Zeitung, Ausgabe 92. Seit 25. Juni 2021 im Handel. Foto: LZ
Die Leipziger Zeitung, Ausgabe 92. Seit 25. Juni 2021 im Handel. Foto: LZ

Behörden würden so Einfluss auf den medialen Diskurs nehmen. Sich gegen diese Form der Berichterstattung zu wehren, sei schwierig, da sie „Ausdruck eines tieferen Problems“ sei. Dazu zähle, dass Behörden wie die Bundesanwaltschaft als neutral gelten, obwohl sie das nicht seien. Das müsse stärker kommuniziert werden. „Gleichzeitig muss die Entnazifizierung in den Sicherheitsbehörden endlich konsequent vorangetrieben werden, gerade in den sächsischen“, fordert Dietrich.

Lina E.s Rechtsanwalt Elberling hält noch ein weiteres Motiv für die mögliche Weitergabe von Informationen an „Compact“ für denkbar: „Wir vermuten dahinter allgemein das Bedürfnis, die – vermeintlichen – Erfolge der eigenen Arbeit darzustellen, nachdem gerade die ,Soko LinX‘ in der Vergangenheit ja mehrfach öffentlichkeitswirksame Misserfolge erzielt hat.“

Dass solche Informationen nicht nur in eher bürgerlichen Medien wie der „Welt“ landen, sondern auch in einer rechtsradikalen Publikation, lässt sich aus Sicht der Anwälte „nur damit erklären, dass die entsprechenden Beamt/-innen die politische Ausrichtung von ‚Compact‘ teilen oder zumindest gutheißen“.

Oder – so die Vermutung der LZ – gleich selbst die „Compact“-Texte verfassen, die teils offen den Frust über Jahre der Fehlschläge der heutigen „Soko LinX“ spiegeln. In einem der mittlerweile drei Artikel zum Fall Henry A. beklagt sich Autor „Sascha Neuschäfer“ in einem längeren Schlussabsatz offensiv darüber, dass sich nunmehr Ermittlungen gegen die Behörden selbst richten könnten. Stattdessen wäre es aus seiner Sicht wichtiger, die überlasteten Beamten mehr zu unterstützen, damit sie ihre Arbeit machen könnten.

Eine Tonart, die entgegen der sonst schon eher rachedurstigen Passagen der „Neuschäfer“-Texte nach einem überlasteten Beamten klingt, der aufgrund mangelnder Erfolge seinen inneren Kompass zwischen Strafverfolgung, Beschuldigung und Unschuldsvermutung verloren hat.

Und nun stramm rechtsaußen als Ankläger und Richter in einem am Rechtsstaat vorbeisegelt.

„Kläger und Richter: Wie das „Compact Magazin“ eine Hexenjagd veranstaltet“ erschien erstmals am 25. Juni 2021 in der aktuellen Printausgabe der LEIPZIGER ZEITUNG.

Unsere Nummer 92 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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Es gibt 2 Kommentare

Die B.ld-Zeitung kann aber auch ganz klasse Bilder und abgekürzte Realnamen von Personen veröffentlichen, die sich aber noch gar nicht gerichtlich verantwortet haben. Diese Zeitung ist jetzt aber nicht linksextrem, oder?

Nun, es ist wirklich kritikwürdig, aber beim bekannten Onlineportal Indymedia, werden auch regelmäßig Fotos mit Adresse von Personen veröffentlicht…Da hört man aber nix.

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