Zur letzten Ratsversammlung berichtete auch die Verkehrsunfallkommission – zwar nicht zum zurückliegenden Jahr 2021, sondern erst zum Jahr 2020. Den Bericht musste der Stadtrat nur zur Kenntnis nehmen. Er wurde auch nicht diskutiert. Aber der Blick in den Bericht zeigt, wie schwer sich Leipzig tut, die wirklich gefährlichen Stellen im Straßennetz zu beseitigen. Und die Unfallbrisanz im Radverkehr bekam eine eigene Würdigung. Oder sollte man besser schreiben: ein eigenes Mahnschreiben?

Im Grunde spricht der Teil zum Radverkehr für sich. Er bestätigt vonseiten der Verkehrsbehörde, dass die Leipziger Radfahrer/-innen sich zu Recht gefährdet fühlen im Leipziger Stadtverkehr. Die größten Gefahren lauern genau da, wo Radfahrer mit dem motorisierten Verkehr ins Gezerre kommen – vor allem an Kreuzungen, auf denen Aufstellflächen und ausgewiesene Fahrstreifen für Radfahrer meistens noch fehlen. Oder an all den gefährlichen Abbiegepunkten, wo Kraftfahrer beim Rechtsabbiegen die parallel fahrenden Radfahrer einfach übersehen.„Als derzeit problematisch für Radfahrende können die nachfolgenden Kreuzungen und Einmündungen bezeichnet werden, da sie als Unfallhäufungsstellen mit auffälliger Beteiligung Radfahrender erkannt wurden und derzeit in der Verkehrsunfallkommission untersucht werden“, kann man im Bericht der Unfallkommission lesen. Und dann kommt eine ellenlange Liste, die den dort mit dem Radfahrenden nur zu vertraut sein dürfte:

Theresienstraße/Schönefelder Straße
Eisenbahnstraße zwischen Bussestraße und Einertstraße (Besonderheit: „dooring”-Unfälle, d. h. Kollisionen zwischen Radfahrenden und haltenden/parkenden Fahrzeugen)
Tauchaer Straße/Wodanstraße
Zschochersche Straße/Industriestraße
Ranstädter Steinweg/Jacobstraße
Dieskaustraße/Windorfer Straße
Gohliser Straße/Nordplatz
Paunsdorfer Straße/Am Sommerfeld
Arno-Nitzsche-Straße/Meusdorfer Straße
Pfaffendorfer Straße/Ernst-Pinkert-Straße
Torgauer Straße/Dornberger Straße
Chemnitzer Straße/Höltystraße
Georgiring/Schützenstraße
Lyoner Straße/Schönauer Straße
Miltitzer Straße/Ausfahrt Löwencenter
Tröndlinring/Gerberstraße
Koburger Straße/Prinz-Eugen-Straße
Johnnisplatz/Nürnberger Straße
Windmühlenstraße/Emilienstraße
Ossietzkystraße/Zeumerstraße
Brandenburger Straße/Mecklenburger Straße
Täubchenweg/Gutenbergplatz
Pfaffendorfer Straße/Humboldtstraße

Trügerische Sicherheit

Und dann stellt die Verkehrsunfallkommission etwas fest, was bei vielen der tragischen Radfahrerunfälle in den letzten Jahren immer wieder thematisiert wurde:

„Es fällt auf, dass dies vielfach Stellen sind, die gemeinhin gar nicht als unsicher empfunden werden und wo auch längst eigene Fahrräume für Radfahrende vorhanden sind. Mit steigendem Umfang gesonderter Radverkehrsanlagen steigt der Radverkehrsanteil, da Radfahren dadurch attraktiver wird. Der Radverkehr konzentriert sich entsprechend auf den eingerichteten Radverkehrsanlagen und das führt zu potenziell mehr Konflikten, die sich in den Unfallzahlen niederschlagen können.“

Das mit den „gesonderter Radverkehrsanlagen“ stimmt für die meisten der oben aufgelisteten Konfliktstellen nur bedingt. Oft fehlen nämlich die Anlagen genau da, wo die Unfälle passieren. Radfahrstreifen enden weit vor der Kreuzung, an der Kreuzung selbst gibt es keine Extra-Aufstellfläche. Und meist wird durch geparkte Autos auch noch die Sicht nach beiden Seiten verstellt.

Das Ergebnis aus Sicht der Verkehrsunfallkommission: „Bei allen genannten UHS mit Beteiligung Radfahrender fallen die folgenden drei Gemeinsamkeiten auf:

  • Radfahrende werden aufgrund ihrer schmalen Silhouette übersehen bzw. im Rückspiegel nicht erkannt,
  • Radfahrende fahren dort, wo sie nicht erwartet werden oder in falscher Richtung,
  • es gibt Sichtbehinderungen vielfältigster Art zwischen den Unfallbeteiligten

Ein wesentliches Kriterium ist auch, ob Radverkehrsanlagen bedarfs- und regelgerecht hergestellt sind. Wichtig ist z. B., dass der Radverkehr auf der Fahrbahn oder fahrbahnnah, d. h. permanent im Sichtfeld des übrigen Verkehrs, geführt wird. Ältere Radverkehrsanlagen erfüllen diesen Anspruch oft nicht.“

Wenn das Radwegenetz veraltet ist

Mal von den Falschfahrern abgesehen (die übrigens vor allem andere Radfahrer gefährden), weisen all die aufgezählten Unfallursachen auf ein Radwegenetz hin, dass in diese Form längst überarbeitet und modernisiert hätte werden müssen.

Etwas, was vor zehn Jahren schon einmal begonnen wurde und dann einfach über Jahre in der Nicht-Wahrnehmung verschwand. Im Grunde bestätigt der Bericht, dass Leipzig seine Herausforderungen beim Ausbau des Radnetzes sträflichst vernachlässigt hat. Das Entschärfen einzelner Unfallschwerpunkte beseitigt die Grundprobleme nicht.

Und selbst die wichtigsten Unfalltypen erzählen davon, dass Leipzigs Radfahrende immer wieder in einem nicht für sie gebauten System mit dem motorisierten Verkehr kollidieren.

So gab es 2020 mit Radfahrenden 439 Vorfahrtunfälle in Leipzig, 252 Abbiegeunfälle (davon 112 zwischen Rechtsabbiegern und längs verkehrendem Radverkehr) und 149 im Längsverkehr (davon 11 im Zusammenhang mit Überholvorgängen durch Kfz).

Was die Verkehrsunfallkommission zu dem Schluss bringt: „Im Hinblick auf die Gewährleistung der Verkehrssicherheit des Radverkehrs kann daraus geschlussfolgert werden, dass die Reduzierung der Vorfahrtunfälle allerhöchste Priorität genießen sollte, darüber hinaus dann die der Abbiegeunfälle.“

Und das geschieht nun einmal nur durch den Ausbau eines für alle Autofahrer sichtbaren und eindeutigen Radwegesystems. Und natürlich mit Investitionen genau in diese gut sichtbaren Radverkehrsanlagen. Natürlich fühlt man sich da an das Jahr 2012 erinnert, als der letzte Radverkehrsentwicklungsplan verabschiedet wurde und schon die gleichen Probleme bestanden – nur nicht ganz so brisant, denn das Zuparken der Kreuzungen, das den Verkehr dort besonders gefährlich macht, ist erst danach zu einem flächendeckenden Problem in Leipzig geworden.

Was jetzt passieren müsste

Was getan werden müsste, fasst die Verkehrsunfallkommission so zusammen: „Radfahrstreifen sind überwiegend ein Instrument der Förderung des Radverkehrs, weil sich die Radfahrenden auf ihnen sicherer fühlen, die Schwerpunkte des Unfallgeschehens mit Radfahrenden sind aber an Kreuzungen und Einmündungen und falschem Verhalten an diesen Stellen zu finden. – Insbesondere rechtsabbiegender Kfz-Verkehr führt bei geradeausfahrenden Radverkehr zu zusätzlichen Konflikten. Deshalb müssen dort, wo verstärkt Rechtsabbieger auftreten, ggf. zusätzliche Maßnahmen zur Sicherung des Radverkehrs auf Radfahrstreifen oder Radwegen getroffen werden.

An LSA erfordert das meist eine konfliktfreie Signalisierung der Rechtsabbieger, was wiederum nur bei Vorhandensein einer separaten Rechtsabbiegespur umsetzbar ist. Bei Neuplanungen sollte das berücksichtigt werden, steht aber ggf. im Konflikt mit dem vorhandenen Platz und der Flächenbegrenzung von Verkehrsanlagen. Die möglichen Lösungen zur Konfliktreduzierung sind jedoch von den örtlichen und baulichen Gegebenheiten abhängig und werden für jeden Knotenpunkt einzeln betrachtet und geprüft.“

Man merkt schon, dass sich die Verkehrsunfallkommission um die Beantwortung der eigentlichen Frage herumdrückt. Denn Ampelschaltungen und „bauliche Gegebenheiten“ sind nur Ausreden. Dazu genügt schon der simple Blick nach Kopenhagen, Amsterdam oder Utrecht. Radfahrer brauchen gut sichtbare Wege und Aufstellflächen auch auf den Kreuzungen und müssen dort Priorität haben.

An einigen wenigen Stellen, gerade in neugebauten Straßenabschnitten, ist das schon so. Aber Leipzig kann es sich nicht leisten, abzuwarten, bis alle Straßen so umgebaut sind. Denn das dauert noch Jahrzehnte. Die Herausforderungen für den neuen Radverkehrsentwicklungsplan sind hoch. Und im Grunde skizziert die Verkehrsunfallkommission hier, was da alles drin stehen müsste als dringliche Arbeitsaufgabe für die nächsten Jahre.

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