Wenn wir nichts übersehen haben, dann umfasst die Reihe „Biblische Gestalten“ der Evangelischen Verlagsanstalt jetzt 32 Bände – von Nr. 1, „Josef. Der Auserwählte unter seinen Brüdern“, bis „Pontius Pilatus“, der jetzt mit 20-jähriger Verspätung erschienen ist. Es ist die wohl profundeste Reihe, die über die wichtigsten Gestalten aus der Bibel je aufgelegt wurde. Manche Bände – wie die über Jesus – wurden längst auch wieder überarbeitet und neu aufgelegt.

Und es sind nicht einfach nur wieder die gesammelten Geschichten über all jene Heldinnen und Helden aus dem Alten und dem Neuen Testament (ja, es sind auch fünf Frauen in der Reihe „Biblische Gestalten“ zu finden), sondern wissenschaftliche Spurensuchen. Die natürlich in Leipzig mit seinem Theologielehrstuhl an der Universität eine gute Ausgangsbasis haben.

Denn hier ist auch die historische Bibelforschung zu Hause, jener Zweig der Theologie, der sich unter anderem damit beschäftigt, die biblischen Erzählungen auch mit den realen Befunden aus der Archäologie und authentischen nichtbiblischen Quellen abzugleichen. Ein Feld, das sensationslüsterne Medien gern aufgreifen unter Schlagzeilen wie: „Und die Bibel hat doch recht!“

Als wenn je irgendjemand behauptet hätte, die Geschichten aus der Bibel seien allesamt nur erfunden. Dabei war es ja jahrhundertelang so, dass nur die Bibel selbst als authentische Quelle galt. Erst in den vergangenen 250 Jahren haben ja Forscher aus aller Welt mit berechtigter Neugier nach Spuren und Artefakten gesucht, die die Erzählungen aus dem Buch der Bücher in der realen Geschichte verankern.

Denn dass es da Diskrepanzen gibt – etwa zu den Überlieferungen der römischen Geschichtsschreibung – ist auch den Bibelkundigen bewusst. Umso akribischer hat man dann freilich nach Nachweisen gesucht, die die Existenz der Berühmten aus der Bibel auch in wissenschaftlich belastbaren Quellen bestätigen. Das Ergebnis frappiert oft genug.

Nicht nur, weil es eine doch etwas andere historische Wirklichkeit zeigt, in der sich die Maßstäbe verschieben. Sondern weil auf diese Weise auch der Entstehungsprozess dessen sichtbar wird, was dann im frühen Mittelalter als Bibel kanonisiert wurde.

Dabei flogen etliche Schriften, die noch in den frühen Jahrhunderten als authentisch galten, aus dem Kanon. Andere wirkten trotzdem weiter. Dazu gehörten auch etliche Legenden über das Leben und das Nachleben des Pontius Pilatus. In einigen Teilen der Kirche wurde der Mann, der Jesus zum Tod am Kreuz verurteilte, regelrecht zum Heiligen und sogar zum Märtyrer. Was verblüfft. Denn das Neue Testament gibt ja keinen Anlass dazu, diesen römischen Verwalter, Offizier und Präfekt in der Provinz Judäa in irgendeiner Weise zum Heiligen zu verklären oder gar zum Christen zu machen.

Auch wenn seine Darstellung in den Evangelien ihn zu einer Gestalt macht, über die sich nicht nur Gläubige bis heute den Kopf zerbrechen. Man denke nur an die Auseinandersetzung von Autoren wie Dostojewski und Bulgakow mit diesem Mann, der sich nach dem Urteil die Hände in Unschuld wäscht, den gepeinigten Christus mit dem Ruf „Ecce homo!“ vor die Menge führt und auch durchblicken lässt, dass er den Mann aus Nazaret für unschuldig hält.

Aber augenscheinlich steht er in diesem Moment unter Druck. Was man erst richtig versteht, wenn man mit dem Professor für Neues Testament an der Uni Leipzig Jens Herzer eintaucht in die historisch belastbare Quellenlage, die auch die Rahmenbedingungen für diesen römischen Verwaltungsbeamten deutlicher macht, der eben ganz und gar kein blutrünstiger Tyrann gewesen sein kann, aber auch kein Prokurator, als der er immer bezeichnet wurde.

Der Titel kam erst später auf. Tatsächlich war er dem Statthalter der Provinz Syrien untergeordnet und als Ritter nicht einmal Mitglied der römischen Elite. Ein Posten als Präfekt in einer Provinz war für ihn – so schätzt es Herzer ein – wohl schon der höchste aller Träume. Und er bekleidete das Amt augenscheinlich sehr umsichtig, sodass er für die Zeit erstaunlich lange auf seinem Posten blieb – zehn Jahre, wahrscheinlich sogar 18. Und abberufen wurde er wohl erst, als der Kaiser Tiberius im Sterben lag. Und mit ihm wurde auch der ebenso von den Römern eingesetzte Hohepriester Kaiphas abberufen.

Wie sein Leben darauf weiter verlief und wann und wie er starb, darüber gibt es keine Belege. Alle Pilatus-Legenden, die ihn dann gar zum christlichen Märtyrer machten, entstanden viele Jahrhunderte später.

Auch wenn sie sich in ihren Wurzeln auf einzelne Sätze und Szenen in den vier Evangelien berufen können. Die es in sich haben. Denn diese Evangelien entstanden ja nicht nur, um der sich gerade entwickelnden christlichen Gemeinde eine schriftliche Glaubensgrundlage zu geben, sondern auch, um sich stärker von der ursprünglichen Jerusalemer Gemeinde abzugrenzen.

Erst so kamen ja die deutlichen Differenzen in die Bibel, die in jener Szene gipfeln, als die Juden in Jerusalem statt der Freilassung des Jesus die Freigabe des Räubers Barnabas fordern und auf einmal der Satz auftaucht „Sein Blut komme über uns!“.

Als hätten die Menschen, die zum Sabbat-Fest nach Jerusalem gekommen waren, geradezu die Bestrafung für sich gefordert bis in alle Ewigkeit, Grundlagen jenes bis heute grassierenden Antisemitismus, der sich ja mittlerweile sogar von der Bibel gelöst hat.

Herzer geht bei der Quellenuntersuchung sehr gründlich darauf ein, dass man selbst im Verständnis der frühen Christengemeinden diesen Ausruf so nicht interpretieren darf, auch wenn er in der Formulierung schon eine Zuspitzung des zunehmenden Widerspruchs zwischen der außerhalb Jerusalems entstandenen Christengemeinde und der Ursprungsgemeinde in Jerusalem war bzw. der durchaus konservativen Haltung des Hohen Rates, dem ja Kaiphas vorstand und der ja in gewisser Weise das verlorene jüdische Königtum präsentierte und gleichzeitig eine Art jüdischer Selbstverwaltung neben der römischen, die Pontius Pilatus präsentierte.

Herzer arbeitet ebenso akribisch heraus, wie sehr auch Pontius Pilatus als Militärchef und oberster Beamter in der Region darauf bedacht sein musste, mit dem Hohen Rat in gutem Einvernehmen zu sein und damit über Jahre stabile Verhältnisse in Judäa zu gewährleisten. Die blutigen jüdischen Befreiungskriege brachen erst nach der Abberufung des Pilatus auf, auch wenn die Ereignisse in Jerusalem zu Zeiten Jesus durchaus auch davon erzählen, dass es schon Bewegungen gab, die die herrschenden Verhältnisse infrage stellten.

Was Herzer natürlich auch dazu zwingt, sich mit der Rechtmäßigkeit der Verhandlung gegen Jesus zu beschäftigen und mit der Frage, welche Spielräume Pontius Pilatus hatte, diesen Jesus zu begnadigen. War das überhaupt ein auch nach damaligen Maßstäben rechtmäßiger Prozess? Oder wollte der Hohe Rat hier nur einen Störenfried schnellstmöglich loswerden, der das labile Kräftegleichgewicht in Judäa in Gefahr brachte?

Oft bleiben dann nur noch die Spuren in der Bibel. Denn auch der wichtigste belastbare Historiker, der über diese Zeit in Judäa schrieb – Flavius Josephus –, schrieb ja nicht direkt über die in der Bibel erzählten Ereignisse. Dafür mehr über die politischen Rahmenbedingungen, innerhalb derer ein Pontius Pilatus handelte. Und augenscheinlich erfolgreich handelte, da ja seine Amtszeit sichtlich eine Zeit der Stabilität war. Während Josephus ja als römischer Offizier dann schon den ersten jüdischen Krieg miterlebte.

Und da das älteste Evangelium – das von Markus – auch erst Jahrzehnte nach den Ereignissen entstand, haben wir auch mit diesem Evangelium keine authentische Quellen über das, was um die Kreuzigung von Jesus herum geschah, die ja in der Bibelgeschichte deutlich überhöht dargestellt werden. Die Leidensgeschichte ja keine realen Ereignisse schildert, sondern in dramatischer Zuspitzung den Opfertod Jesu erzählt.

Und da ist jede Rolle ganz bewusst gesetzt – bis hin zu diesem heidnischen römischen Befehlshaber, der weder ein reales Verhör abhält noch einen nachvollziehbaren Prozess, in dem die Schuldgründe des Angeklagten abgewogen werden.

Eher, so interpretiert es auch Herzer, erzählt die Geschichte ja vom sensiblen Kräftegleichgewicht in einer römischen Provinz, in der ein kluger Verwaltungsbeamter jede Eskalation lieber vermeidet. Wofür die historisch verbürgten Ereignisse aus der Amtszeit des Pilatus – der Bau eines Aquädukts etwa oder die Unruhen um von ihm aufgestellte Feldzeichen in Jerusalem – stehen. Gut möglich, dass ein Präfekt wie Pilatus da lieber der Hinrichtung eines vom Hohen Rat angeklagten Wanderpredigers zustimmte als einen Aufruhr zu riskieren, bei dem es zwangsläufig zu blutigen Gemetzeln gekommen wäre.

So gesehen wird dieser Provinzbeamte auf einmal zu einer sehr modernen Gestalt. Man kann ja die heutigen Ereignisse in und um Israel gar nicht wegdenken, wenn man die Bibelgeschichte in ihrer konkreten historischen Verortung betrachtet. Und augenscheinlich gab es auch damals ab und zu solche zumindest vorsichtigen Amtswalter, die die Eskalation lieber vermieden und damit stabile Verhältnisse über Jahrzehnte herstellten und die Befindlichkeiten der örtlichen Bevölkerung möglichst respektierten.

Dass Pilatus dann schon in den vier Evangelien eine durchaus rätselhafte Rolle spielt und die Schuld an der Verurteilung Jesus’ so deutlich den Juden in Jerusalem, also letztlich dem Hohen Rat zugeschrieben wurde, hat auch mit der Entstehungszeit der Evangelien zu tun, als die christlichen Gemeinden längst in Rom Fuß gefasst hatten und natürlich kein Interesse daran hatten, das Misstrauen der römischen Exekutive zusätzlich zu befeuern, indem sie Pontius Pilatus (also die Römer) für den Tod des Jesus verantwortlich machten.

Dass vieles an der Verurteilung und Hinrichtung des Jesus von Nazaret so rätselhaft und symbolisch erscheint, hat auch mit dieser frühen Entstehungszeit der Evangelien und dem Gespür der Autoren für das politisch Opportune zu tun. Im Ergebnis kann Jens Herzer nicht nur eine vielschichtige Lebensgeschichte des Pontius Pilatus schreiben, sondern macht auch deutlich, wie die historisch nachweisbare Person sich im Lauf der biblischen Bearbeitung immer mehr veränderte. Eigentlich bis zur Unkenntlichkeit.

Auch wenn der reale Präfekt, der damals in der römischen Hafenstadt Cäsarea residierte, wohl des Öfteren tatsächlich vor solchen Entscheidungen stand, die ihn in tiefste moralische Zwickmühlen gebracht haben. So gesehen stellt die Pilatus-Geschichte in der Bibel auch ganz reale menschliche und politische Zwangslagen dar, die wir heute genauso kennen. Und nicht immer kann man dann wirklich sagen, wer hier wirklich der Gerechte war und wer nur einer Zwangslage nachgab, die noch ganz andere Implikationen nach sich gezogen hätte. Auch das diskutiert Herzer, und damit das bis heute gültige Dilemma menschlichen Wirkens, wenn es um Macht- und Friedensfragen geht.

Jens Herzer Pontius Pilatus, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2020, 20 Euro.

Die biblischste aller Bibelgestalten mal gründlich unter die Lupe genommen

Die biblischste aller Bibelgestalten mal gründlich unter die Lupe genommen

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