Es ist Sommer. Manch einer war so vernünftig, den Urlaubsflug nach Mallorca oder in die Türkei, nach Italien oder Griechenland lieber zu streichen. Wo kein Corona-Hochinzidenzgebiet ist, wüten Waldbrände und Temperaturen über 40 Grad. Urlaub wäre das nur noch für völlige Ignoranten. Warum da die schönen Sommertage nicht nutzen, um einen der neuesten Stadtspaziergänge aus dem Lehmstedt Verlag nachzuspazieren – diesmal durch Leutzsch?

2016 hat der Lehmstedt Verlag den ersten Testballon gestartet und Heinz Peter Brogiatos Spaziergang durch Plagwitz vorgelegt. Denn auch der Stadtführer „Leipzig an einem Tag“ beschränkt sich ja logischerweise auf die Innenstadt. Mehr ist auch als durchtrainierter Städtereisender nicht an einem Tag zu bewältigen. Aber längst erfreuen sich auch die Touren durch die historischen Leipziger Stadtquartiere größter Beliebtheit.Jedes hat einen völlig eigenen Charakter, was oft selbst die hier Wohnenden nicht wissen. Wer sich aber mal auf den Weg macht und in Ortsteile fährt, in denen er sonst nie unterwegs ist, merkt es meist sofort: Es wirkt wie eine völlig andere Stadt.

Was ja bekanntlich auch einigen Leipziger Zeitungen enorme Interpretationsprobleme macht: Sie kommen einfach nicht damit zurecht, dass selbst diese 10, 20 Minuten vom Zentrum entfernten Ortsteile ihre völlig eigene Atmosphäre, ihr Flair und ihre Bewohnerschaft haben, die sich immer wieder heftig vom Peterssteinwegschen „Goldstandard“ unterscheiden – und trotzdem machen sie ein wichtiges Element im Leipziger Kosmos aus. Ohne sie wäre Leipzig nicht nur amputiert, sondern würde völlig alle Reize verlieren.

Das machten nach Plagwitz auch die Spaziergänge durch Gohlis (2017), die Südvorstadt (2018), die Ostvorstadt (2020) und auch der durch Connewitz (2021) deutlich. Den Spaziergang durch Leutzsch hat diesmal nicht Heinz Peter Briogiato ausgetüftelt, sondern Sabine Knopf. LZ-Leser/-innen kennen sie als Autorin von „Katharina Kippenberg – Herrin der Insel“, erschienen 2010.

Logisch, dass sie auch beim Spaziergang durch Leutzsch einen aufmerksamen Blick auf die Künstler hat. Das überrascht durchaus, hat man doch bei Leutzsch so ungefähr die schematische Teilung im Kopf, die sie in der Einführung auch anspricht: das Villenviertel der Reichen im Norden, das alte Industriegebiet im Süden und dazwischen irgendwie der alte Dorfkern mit Kirche, Rathaus und dem Park, auf dem die Herren von Leutzsch einst ihre Burg hatten und wo bis in die DDR-Zeit die Reste des Wasserschlosses standen.

Die Dreiteilung – Sabine Knopf kommt sogar auf vier Teile – spiegelt sich auch in ihrem Spaziergang, der sich letztlich in einer Spirale durch den Ortsteil arbeitet. Fast vermisst man so etwas wie einen Schrittzähler, denn spätestens, wenn es ab Nr. 37 durch das alte Industriegebiet geht, dürften einem die Füße ordentlich wehtun.

Wirklich ins alte Dorf führen nur die ersten neun Stationen des Rundgangs, die es natürlich schon in sich haben, denn hier begegnet man dem Schriftsteller Fritz Rudolf Fries, um den sich seit drei Jahren auch ein eigener Verein kümmert, dem Widerstandskämpfer Georg Schwarz, für den die Leutzscher 1945 extra eine Petition schreiben mussten, damit die alte Hauptstraße seinen Namen bekam, und dem widerständigen Pfarrer Martin Lösche, außerdem in der Junghanßstraße dem Treffpunkt der dissidentischen Leipziger Autor/-innen mit Gerd Neumann, Heidemarie Härtl, Siegmar Faust, Kristian Pech, Wolgfgang Hilbig und Andreas Reimann. Und das in Leutzsch! Aber leider in einem Haus (Junghanßstraße 4), das inzwischen abgerissen wurde.

Dass dieses Leutzsch nie wirklich so brav und bieder war, wie es aus innerstädtischer und Verwaltungsperspektive oft wirkt, das kann man ja schon in Fries’ 1966 bei Suhrkamp im Westen erschienenen Roman „Der Weg nach Oobliadooh“ nachlesen. Und die Erinnerungen an Leutzsch spielen ja auch noch einmal in seinem 2010 bei Faber & Faber erschienenen Roman „Alles eines Irrsinns Spiel“ eine Rolle.

Den größten Teil dieses Spaziergangs nimmt freilich die Besichtigung der Villen im Norden ein, Villen, die einst genau von jenen Industriellen gebaut wurden, die auf der anderen Seite die großen, weltberühmten Fabriken besaßen, in denen Klaviere, Straßenlampen, Pianomechaniken, Motorenteile, Farben, Schrauben und Nägel hergestellt wurden.

Bis Anfang der 1990er Jahre lärmten hier die Maschinen, rußten die Schornsteine, quollen zum Schichtwechsel tausende Arbeiter/-innen aus den Straßenbahnen, um an die Werkbänke zu eilen. Heute ist all das nicht mehr vorstellbar, weil ein Großteil der alten Fabrikanlagen abgerissen wurde.

Was noch stehen geblieben ist, wartet entweder noch auf einen Investor, der endlich loslegt und neue Nutzungen einbaut. Oder Künstler/-innen haben sich hier angesiedelt. Denn die Spinnerei in Lindenau kann die Absolventen der HGB, die in Leipzig bleiben wollen, weil sie hier ihre Netzwerke geschaffen haben, schon lange nicht mehr fassen. Deswegen ist hier längst ein zweites Kunstviertel entstanden, das regelmäßig zu Gemeinschaftsausstellungen und Atelierbesuchen einlädt.

Es wäre vielleicht gar nicht schlecht, da lieber vorher eine Pause zur Stärkung einzulegen, bevor man sich auf den dritten Teil des Spaziergangs macht.

An der Stelle ist man eh schon vollgestopft mit Leipziger Geschichte, die man so in diesem eigentlich sehr stillen Villenviertel im Norden von Leutzsch, durch das auch schon lange keine Straßenbahn mehr fährt, nicht vermutet hätte.

Natürlich war die Einkürzung der Straßenbahn hier ein Fehler, nicht nur wegen des Alfred-Kunze-Sportparks, der ja in den nächsten Jahren kräftig modernisiert werden soll. Denn hier hätte man von einer neuen Endschleife den besten Zugang auch zum Auwald (den Sabine Knopf sogar als märchenhaft beschreibt) und zur Villa Hasenholz.

Aber sie nimmt uns ja mit zu einer Villenerkundung, die von einem dieser stolzen Kleinode zum andern führt, mit denen die Bauherren seinerzeit die besten Architekten der Stadt beauftragten. Und wir lernen nicht nur die Bauherren kennen, die vor 100 Jahren zum namhaften Unternehmertum Leipzigs gehörten. Wir lernen auch viele der späteren Bewohner kennen, unter denen Carl Friedrich Goerdeler und Kurt Masur lediglich die berühmtesten waren. Und nicht alle haben eine entsprechende Plakette am Zaun hängen, die auf die einstigen Bewohner verweist.

Man erhascht einen Blick auf das einstige Atelier von Bernhard Heisig, erinnert sich an den seinerzeit überraschenden Fund der Landschaftsbilder von Max Loose auf dem Dachboden der 157. Schule, stolpert über das Haus, in dem der Nobelpreisträger Gustav Hertz lebte, solange er an der Universität Leipzig experimentelle Physik lehrte, erinnert sich an den nun schon fast legendären Gewandhauskapellmeister Franz Konwitschny und erfährt auch, wo der berühmte Kofferfabrikant Anton Mädler wohnte, der Leipzig ja die berühmte Mädler-Passage gebaut hat.

Und natürlich bleiben auch die berühmten Architekten nicht unerwähnt, die ja – wie Paul Möbius oder Hubert Ritter – Leipzig damals auch mit ihren repräsentativen Großbauten prägten. Weshalb viele der Leutzscher Villen auch in einschlägigen Leipziger Architekturführern zu Jugendstil und Reformstil auftauchen, heute fast alle liebevoll restauriert, sodass auch Besucher von außerhalb ins Schwärmen kommen.

Geradezu typisch ist freilich auch das Cover-Bild mit dem Leutzscher Rathaus, eigentlich der ganze Stolz der Leutzscher, gebaut, als Leutzsch noch eigenständig war, 20 Jahre vor der Eingemeindung nach Leipzig. Aber egal, wo man sich hinstellt mit dem Fotoapparat – man kann die völlig undurchdachte, rein auf Kraftfahrzeuge fixierte Straßenplanung nicht ausblenden, die ausgerechnet das Herz von Leutzsch laut, ungemütlich und gefährlich macht. Attraktiv sieht anders aus.

Dabei ist Leutzsch – das weiß man nach diesem Spaziergang – ein echtes Dornröschen, ein Ortsteil, der nur deshalb zwei Jahrzehnte fast völlig aus dem Blick der Öffentlichkeit geraten ist, weil auch die umweltfreundlichen Verkehrsbeziehungen eher „ausbaufähig“ sind, angefangen mit einer Straßenbahn, die hier wie ein Aschenputtel durch eine immer wieder von Falschparkern versperrte Straße geführt wird, und ganz zu schweigen von den Radwegeverbindungen, die ja mit den Plänen zum Neubau der Georg-Schwarz-Brücken endlich mal thematisiert wurden.

Aber nach den Reaktionen der Verwaltung zu urteilen, wird sich hier auf Jahrzehnte hin nichts verbessern. Aber wie komme ich ausgerechnet jetzt auf dieses Thema? Weil genau das dafür sorgt, dass sich auch viele andere Leipziger/-innen den Weg nach Leutzsch lieber sparen – weil: zu umständlich, irgendwie ein unbewältigtes Provisorium, das auch in der Verkehrsplanung den Zustand suggeriert, dass Leutzsch irgendwie nicht dazugehört. Womit es ja nicht allein ist unter den Leipziger Ortsteilen, die dummerweise etwas weiter weg liegen, jenseits der innerstädtischen Wahrnehmungshorizonte.

Also eigentlich doch wieder ein guter Treffpunkt, wenn man sich als subversiver Autor wieder mit Gleichgesinnten treffen möchte. Da draußen sieht man ein bisschen besser, wie Leipzig mit seinen Stiefkindern umgeht. Aber für diesen Spaziergang sollte man sich den Weg schon einmal zumuten. Es gibt wirklich etwas zu entdecken.

Sabine Knopf Leipziger Spaziergänge. Leutzsch, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2021, 6 Euro.

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