Hätten so bald alle Städte im Osten ausgesehen? Die Frage kann man sich durchaus stellen, wen man heute durch Grünau fährt. In seinem Vorwort erinnert der Fotograf Harald Kirschner daran, wie die riesigen Plattenbaugebiete in der DDR aus der Not heraus entstanden. Um dem enormen Wohnungsmangel abzuhelfen, wurden sie auf freiem Feld aus dem Boden gestampft. Zehn Jahre lang hat es Kirschner aus eigener Anschauung dokumentiert.

Er gehört zu jener Handvoll Leipziger Fotografen, die das Leben und den Alltag in Leipzig in den 1980er Jahren mit professioneller Leidenschaft auf Film festhielten. Praktisch immer im Eigenauftrag, denn Publikationsmöglichkeiten für solche Bilder, die die ungeschminkte Wirklichkeit im Land zeigten, gab es praktisch nicht. Obwohl wahrscheinlich alle Menschen, die es damals selbst erlebt haben, heute beim Betrachten dieser Fotos sagen würden: Ja, genau so war es.Und das wäre weder abwertend noch vorwurfsvoll gesagt. Denn so völlig aus der Luft gegriffen ist der Titel „Abenteuer Platte“ ja nicht, auch wenn er nicht vom Abenteuer jener Glücklichen erzählt, die damals einen Zuweisungsschein für eine Wohnung im Neubaugebiet bekamen und den Umzug aus zumeist engen, unsanierten und oft eigentlich unbewohnbaren Altbauwohnungen in der Leipziger Innenstadt (oder aus der Tagesbaulandschaft rund um Leipzig) nach Grünau organisieren durften.

Denn eine Wohnung mit Bad und Fernwärme war damals ein Glückstreffer, auch wenn zwar die Wohnblocks schon standen, aber Straßen, Wiesen und Spielplätze noch fehlten.

Das Abenteuer, das Kirschner in den Fotos dieses Buches abgelichtet hat, ist das Abenteuer, das die Kinder in dieser „neuen Stadt“ erleben. Einer neuen Stadt, in der selbst die geplanten Kaufhallen, Jugendtreffs, Polikliniken meist erst Jahre nach den fertigen Wohnblocks gebaut wurden. Vieles, was einst von den Leipziger Architekten geplant war, wurde nie gebaut. Die Grünauer wussten sehr genau, was es heißt, wenn Ausgaben „priorisiert“ werden.

Dann entsteht wirklich erst einmal nur das Allernötigste und am dringendsten Benötigte – und das war Wohnraum, gefolgt von Schulen und Kindertagesstätten. Kultureinrichtungen, Kinos, Sport- und Schwimmhallen fielen dann in der Regel dem Rotstift zum Opfer. Denn Leipzigs Bautrupps waren ja auch noch in Berlin eingesetzt, wo manches von dem dann aus Prestigegründen gebaut wurde, was in Grünau lange fehlte oder auch bis heute fehlt.

Denn 1990 gab es ja in diesem einst für 90.000 Menschen geplanten Stadtteil den großen Bruch, verlor Grünau deutlich mehr Einwohner als die inneren Ortsteile Leipzigs. Denn viele der jungen Familien, deren Kinder man in den Fotos spielen sieht, waren bestens ausgebildete Facharbeiter, die nicht lange fackelten, als die Industrie in Leipzig abgewickelt und abgewrackt wurde. Sie luden, was sie hatten, in ihr neu erworbenes Auto und zogen in den Westen Deutschlands.

Und Grünau entwickelte sich zu einem Stadtteil, für den Leipzigs Stadtplaner völlig neu denken lernen mussten, im Spagat zwischen Aufwertung und „Rückbau“.

Die Freiheit des Unfertigen

Das zeigen Kirschners Fotos hier natürlich nicht. Die Fotos zu dieser Epoche nach 1990 sind schon in anderen Fotobänden – etwa denen von Pro Leipzig – veröffentlicht. Dieser Band hier versammelt ausschließlich Fotos mit spielenden, feiernden, abenteuerlustigen Kindern. Kinder, für die gerade das Unfertige des neuen Stadtteils ein einziges Abenteuer war.

Eben das, was ältere Grünauer heute noch mit einer gewissen Wehmut „Schlammhausen“ nennen. Denn auch in den 1980er Jahren, als Kirschner fotografierte, waren große Teile Grünaus noch eine Baustelle. Die riesigen Flächen zwischen den Wohnblocks waren ungestaltet. Oft lagen hier noch die riesigen Berge an Kies und Aushub, Rohre, Betonplatten, Bauholz, standen die Baugeräte ohne Absperrung, lagen Haufen von Abfällen.

Und außerdem war noch immer DDR-Zeit. Autos waren noch rar und man sieht entsprechend auch nur wenige auf Kirschners Bildern, irgendwie vorsichtig geparkt auf einigen trocken gebliebenen Stellen zwischen Schlamm und riesigen Pfützen. Und es gab mehr Kinder. Viel mehr Kinder als heute. Und sie spielten draußen. Es war völlig normal, dass Kinder damals draußen spielten und dass Hauseingänge nicht abgeschlossen waren.

Und auch, dass Eltern darauf vertrauten, dass ihren Lausbuben da draußen nichts geschah. Und wenn was geschah, dann gehörte das zum normalen Lernen fürs Leben. Dann mussten eben Hosen wieder geflickt werden oder die verdreckte Kleidung kam in die Wäsche. Gummistiefel gehörten sowieso zur Normalausstattung in jedem Haushalt.

Und deshalb wirken Kirschners Bilder auch so verblüffend, weil man all das heute weder in Grünau noch in anderen Straßen Leipzigs noch so zu sehen bekommt. Man spürt regelrecht, wie gefährlich das Leben auf Leipzigs Straßen geworden ist, als die Stadt von Autos regelrecht geflutet wurde. Damit verschwanden die spielenden und unbeaufsichtigten Kinder von der Straße.

Was für ein Abenteuer das war, mit den Freundinnen und Freunden aus der Nachbarschaft gleich draußen in der Schlammwildnis vor dem Wohnblock zu spielen, das erzählt in einem eigenen Beitrag im Buch die Kulturwissenschaftlerin Katja Kirsche, die einen Großteil ihrer Kindheit in genau jenem Grünau zugebracht hat, das Harald Kirschner fotografiert hat.

Die ungebändigte Wildnis abseits der Normen

Es sind natürlich auch Bilder, die den damaligen Vorstellungen der Staats- und Parteiführung völlig widersprachen, wie Kindheit zu sein hatte, auch wenn Kirschner mit gerade ironischem Blick auch einen ersten Schultag mit strammstehenden Pionieren und eine FDJ-Blaskapelle beim Subotnik fotografiert hat. Aber die Mienen der beteiligen Jugendlichen sagen alles: Sie waren eher unfreiwillig und ungern dabei.

Aber wer nicht antanzte zum gesellschaftlichen Einsatz, der riskierte Tadel, Ermahnungen, vielleicht auch Strafe. So etwas im Zeugnis ersparte man sich lieber und ging dann hinterher lieber mit den Kumpels abhängen hinter der Baubude oder auf den riesigen Betonplattenstapeln oder knatterte eine Runde mit dem Moped über Stock und Stein.

Tatsächlich gab es – Kirschners Bilder beweisen es ja – ein ausgelassenes Leben jenseits der Reglements. Die Bauwüste war auch Freiheit und Tobeplatz. Und hier konnten die Kinder so ausgelassen toben, wie das auf unseren heutigen gepflegten Spielplätzen schlicht nicht möglich ist. So, wie Kinder aber toben können müssen, sonst ist Kindheit keine richtige Kindheit.

Das so viel zitierte ADHS-Syndrom war damals praktisch kein Problem. Und solange der sozialistisch karge Spielplatz noch nicht gebaut war, boten sich die wild im Gelände liegenden Betonteile geradezu an als Kletterturm. Und Pfützen und Abraumberge waren selbst für Roller- und Fahrradfahrer ein Abenteuer, das unsere heutigen Mountainbiker verzweifelt suchen.

Natürlich schildert Katja Kirsche auch die Veränderungen, die irgendwann zwangsläufig eintraten. Denn natürlich wurden auch im WK 4 irgendwann die Böden planiert und grüner Rasen angelegt, die Straßen asphaltiert und große Parkplätze gebaut. Aus einer Landschaft, die einmal ganz allein den Kindern gehörte (zumindest wenn die Bauarbeiter weg waren), wurden gesäuberte und parzellierte Räume.

Die Mülltonnen bekamen ihre Einhegung. Und die Räume schienen zu schrumpfen, je älter die Kinder wurden. Und so verwandelten sich auch die vielen Fenster: Auf einmal fühlten sich die Heranwachsenden immerfort überwacht. Hunderte Augen konnten ja von überall aus den Fenstern herabschauen. Und beim späteren Besuch wirkte diese Wohnlandschaft erst recht fremd. „Auf dem Hof spielten keine Kinder“, heißt es in Kirsches Text.

Eine Welt, die Kinder ausschließt

Und das hat nicht nur mit der älter gewordenen Einwohnerschaft zu tun, sondern auch mit einem Denken über Kindheit und Stadt, das sich nicht unbedingt zum Besseren gewandelt hat. Heute werden andere Prioritäten gesetzt und die Stadt bemüht sich durchaus, immer wieder neue Spielplätze zu bauen.

Aber das erzählt im Grunde von etwas, was den Planern meist gar nicht bewusst ist: wie man Orte für Kinder ganz bewusst als Inseln schafft in einer Stadt, in der andere den Vorrang und die Vorfahrt haben – die Besitzer von Automobilen. „Das kindliche Gefühl der Freiheit wich dem Gefühl des Eingesperrtseins“, schreibt Katja Kirsche. Auch wenn es erst einmal nur das Gefühl der erwachsen Gewordenen war, die „andere und neue Erfahrungen“ machen wollten.

Stimmt schon: Auch ein Grünau wird irgendwann zu klein, wenn man die Welt kennenlernen möchte. Aber die Bilder erzählen eben auch davon, dass man sich die Welt mit Händen und Füßen erobern muss. Mit Schlammburgen, Kletterabenteuern, ausgelassenem Toben und Matschen und jeder Menge anderer Kinder, mit denen man das Abenteuer Leben angehen kann. Und gerade in diesem unfertigen Stück Grünau war dafür zehn Jahre lang jede Menge Platz.

Noch fehlten all die Zäune und Absperrgitter. Und auch Schilder mit der unheilvollen Drohung „Eltern haften für ihre Kinder“ sieht man nirgends. Denn in diesem Spruch steckt im Grunde fast alles, was Höchstbesorgte den Eltern aller Zeiten immerfort einzureden versuchen: dass das Leben da draußen viel zu gefährlich ist und sie ihre Kinder bitteschön am Gängelband zu führen haben, sonst – passiert vielleicht was. Und dann werden Kinder zur Haftungsfrage. Zum Schuldgrund.

Die Ungezähmten

So tickt unsere Gesellschaft heute. Das kann niemand verleugnen. Und Eltern wissen und spüren das. Auch das ist ein Grund dafür, dass es immer weniger Kinder gibt. Denn wenn man es richtig beschaut, sind das ziemlich wilde, schwer zu zähmende Geschöpfe, die immerfort herumtoben und Unfug treiben. Und das ist höchst gefährlich. So gefährlich, dass man mit dem Behüten eines Einzelexemplars schon vollauf genug hat und genug peinliche Situationen erlebt, in denen einem alle möglichen empörten Leute erklären, was für ein schreckliches Exemplar man da hat und warum man nicht als Elternteil …

Sie merken schon: Diese Bilder mit dem aufmerksamen Blick für die ungezähmten, wild und ernsthaft in der Freiheit der Schlammwüste spielenden Kinder erwecken Emotionen, die man als gezähmter Erwachsener kaum noch zulassen mag. Und wenn sie dann doch mal aufkommen, bleibt nur das frisch geputzte Mountainbike im Keller: „Na komm schon, lass die Sau raus!“ – „Darf man doch nicht. Ist verboten.“

Eltern haften für ihre Kinder. Und Kinder sowieso für alles. So kam die Sünde in die Welt. Mit sauberen Zäunen und Verbotsschildern. Aber das führt uns aus dieser Geschichte schon wieder heraus. Und aus der Welt, die Harald Kirschner mit soviel Mitgefühl fotografiert hat, was nun die Reihe der Bücher erweitert, in denen er im Mitteldeutschen Verlag seine Fotoschätze thematisch aufbereitet – sei es aus dem religiösen Alltag der späten DDR oder dem Leben rund um die ebenso legendäre Eisenbahnstraße. Es gab immer auch ein richtiges Leben neben dem falschen und plakatierten. Und siehe da: Kinder gab es auch, jede Menge, so wild wie Tom und Huckleberry, mit Wildwest gleich vor der Haustür.

Harald Kirschner Abenteuer Platte, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2021, 18 Euro.

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