Ar-Ar ist ein Esel, Bobo eine Krähe. Beide sind befreundet und Ar-Ar hat eine verrückte Idee: Er will ein Buch lesen. Bücher bringen Leute auf komische Gedanken. Weiß jeder, der Bücher liest. Auch die von SAID, dem vor einem Jahr in München verstorbenen Dichter, der die scheinbar so einfache Disziplin der Fabel meisterhaft beherrschte.

Tierfiguren – und doch geht es am Ende immer um uns

Und es ist eine ganz einfache Geschichte, die SAID hier erzählt, so einfach, dass sie anrührt und Mut macht. Denn natürlich stecken in sprechenden Tierfiguren immer wir selbst, wir Menschen, mit unseren Illusionen und Masken und Vorurteilen. Fabeln erzählen ja auch davon, wie falsch wir einander meist sehen. Wir lassen uns von Äußerlichkeiten blenden – im Gutem wie im Schlechten. Wir schätzen einander falsch ein. Und uns selbst auch.

Darum geht es in dieser kleinen Geschichte auch. Ar-Ar – das könnte so mancher von uns sein, aber nicht der Schöne und Selbstbewusste, dem alles in den Schoß fällt, der sich wie selbstverständlich alles nimmt, der die schönsten Frauen bekommt und die attraktiven Posten sowieso. Den sowieso alle anhimmeln, auch dann, wenn es ein Windbeutel vor dem Herrn ist.

Was wir uns wünschen dürfen

Die meisten von uns aber sind wie Ar-Ar und wundern sich eher, dass Typen wie Bobo zu einem halten und einen ernst nehmen und gar nicht sagen, dass man gerade mal wieder Blödsinn erzählt hat. Oder sich etwas gewünscht hat, was einem nicht zusteht.

SAID muss das gar nicht extra ausführen. Es schwingt mit, ganz leicht angetupft. Denn wir leben alle in einer Welt, in der uns früh schon beigebracht wurde, „wo unser Platz ist“, „was uns zusteht“, wo wir hingehören. Das haben wir alle verinnerlicht, die meisten so sehr, dass sie die Botschaft gar nicht mehr hören. Sie verhalten sich einfach danach. Sie ziehen den Kopf ein und bescheiden sich.

Der größte Teil der Menschheitsgeschichte hat mit solchen Botschaften zu tun. Deswegen zensieren die Mächtigen so gern. Und lassen die schärferen Töne hören, wenn die Esel beginnen, etwas mutiger zu fragen, ob das so sein muss.

Bücher sind Weltöffner

Ar-Ar und Bobo aber proben nicht den Aufstand. Bobo besorgt Ar-Ar tatsächlich nur ein Buch, damit Ar-Ar sich seinen Wunsch, ein Buch zu lesen, erfüllen kann. Ein Buch mit vielen Bildern.

Mit dem Ergebnis, dass Ar-Ar tatsächlich auf einen Gedanken kommt, den er sich bis jetzt nicht getraut hat zu haben: Jetzt möchte er nämlich eine Frau haben – eine mit grünen Augen, schmaler Taille und zwei Zöpfen. Die zwei Zöpfe sind das bestimmt das Wichtigste, auch wenn Bobo gern wissen will, warum.

„Ich bin ein Esel – ich muss keinen Grund haben.“

Das klingt, als werte sich Ar-Ar damit ab. Aber wenn man dem nachlauscht, merkt man, dass darin die ganze wichtige Botschaft steckt. Eine Botschaft, die SAIDs Geschichten durchzieht. Nämlich dass wir uns alle nicht dafür entschuldigen müssen, dass wir nicht als Prinz geboren wurden, mit goldenem Löffel im Mund. Dass auch die Nicht-Hochwohlgeborenen ein Recht darauf haben, ein Leben voller erfüllter Wünsche zu leben. Und Wünsche zu haben. So wie jeder Mensch und jeder Esel. Was übrigens in SAIDs Fabel tatsächlich in Erfüllung geht. Eben, weil nicht alle in Ar-Ar nur den Esel sehen.

Die Welt wird größer, wenn man sich traut

Mit jedem Schritt, mit dem Ar-Ar sich selbst ermutigt, etwas zu wünschen, weitet sich sein Horizont. Oder die Welt, egal, wie man es nennen will. Denn wenn Menschen sich klein fühlen und in eine Rolle gesteckt, in der sie akzeptieren, dass ihnen nicht zustehen soll, was den Anderen zusteht, dann verengt sich auch ihr Horizont. Dann wird ihre Welt ganz klein.

Größer wird sie erst, wenn sie selbst anfangen, die hingestellten Zäune und Mauern niederzureißen. Oder eben ein Buch lesen. Damit beginnt ja die Geschichte – und so hat es Christina Röckl auch gemalt: Das Buch öffnet dem langohrigen Leser eine Welt. Eine Welt, in die er einfach hineingehen kann.

Und mit jedem Schritt verändert sie sich, wird heller und farbenfroher. Sodass die fast nur aus Farben und Licht bestehenden Grafiken von Christina Röckl zeigen, was im Kopf von Ar-Ar ja tatsächlich passiert, wie sich vor seinen Augen immer neue Welten und Wahrnehmungen auftun. Auf einmal hört die Welt auf, klein, schwarz und abgesperrt zu sein. Da staunt sogar Bobo, die Krähe, was sich ihr grauer Freund da traut.

Und zwar ganz eselig. Das ist ja das Schöne daran. Er jammert nicht, zaudert nicht, hält kleine langen Monologe darüber, ob er das darf. Das Buch hat ihm einfach gezeigt: Es geht – wenn du einfach losgehst und zeigst, was du willst. Und es auch sagst. Oder eben singst, wie es Ar-Ar dann tut. Das muss man sich erst mal trauen. Da rausgehen, mit dem Gefühl, dass man vielleicht doch nur blöken und nicht singen kann.

Wenn man sein Da-Sein immerzu erklären muss

Aber eins hat dieser Ar-Ar schon begriffen: Man muss nicht alles erklären. Schon gar nicht das, was einem wichtig ist. Das wollen immer nur die Leute, die einem nichts gönnen, bei denen man Anträge stellen muss, wenn man was will, und lauter Begründungen dafür finden, dass man einen Antrag stellt.

Man merkt schon: Die Situation von Menschen in Deutschland, die immerzu erklären müssen, warum sie da sind, hat SAID auch bis zuletzt bewegt.

Nicht nur, weil dieses Erklären-Müssen so verletzend und abwertend ist. Sondern, weil es Erklärungen für etwas verlangt, was eigentlich menschlich und normal ist – in einem Land zu Hause sein zu dürfen, in dem man Frieden und Sicherheit findet. Und leben und lieben zu dürfen. Also sein zu dürfen, wie die anderen auch.

Und auch nicht erklären zu müssen, warum man nicht nur an den Ohren gestreichelt werden möchte.

Aber: Es ist eben nicht nur eine Zuwanderer-Geschichte. SAID erzählt eine Geschichte, die vielen so passiert. Aber eben anders. Denn die meisten der vielen bleiben in ihrer Rolle, trauen sich nicht heraus. Die Botschaft, wenn man Leuten klarmacht, dass sie nicht zu viel erwarten dürfen (oder eigentlich gar nichts), ist wirkmächtig. Dass sie doch bitte mit den Brosamen schön zufrieden sein sollen. Doch, genau in so einer Gesellschaft leben wir.

Die Ar-Ars wissen, wie sich das anfühlt. Und wie die Enge aufreißt, wenn sie sich was zu trauen wagt und die gestreifte Krawatte anlegt.

Ein Buch – logischerweise mit ganz wenig Text und großen Bildern, die sichtbar machen, wie sich die Welt öffnet, wenn man sich traut.

Christina Röckl „Ar-Ar und Bobo“, Kunstanstifter, Mannheim 2022, 24 Euro.

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