So einen Geschichtsverein hat nicht jede Stadt in Sachsen. Seit 2000 veröffentlicht der Torgauer Geschichtsverein Schriften zur Torgauer Geschichte. Was eine kleine Untertreibung ist, denn es sind handfeste Bücher, die professionell einzelne Kapitel der Torgauer Geschichte aufarbeiten. Mit diesem 600-Seiten-Werk hat Jürgen Herzog den 15. Band in der Reihe vorgelegt und erzählt darin ein Torgauer Jahrhundert, das in großem Glanz begann und mit einer geplünderten Stadt endete.

Jürgen Herzog hat sich akribisch durch die Ratsakten dieser Zeit gearbeitet, die in Torgau heute noch besichtigt werden können – nicht nur die alte Fürstenresidenz Schloss Hartenfels, sondern auch der alte Stadtkern, in dem sich die Bebauung der Renaissancezeit großenteils erhalten hat – mittendrin auch das eindrucksvolle Rathaus, das sich die Torgauer1563 bauten, und die großen Bürgerhäuser, die sich Bürgermeister und Kaufleute damals am Markt und in Marktnähe bauten – so wie die Wohnhäuser der Kaufleute Peltzig und Gadegast oder das Haus des damals reichsten Torgauers, des Bürgermeisters Paul Ringenhain.

Ein Nachglanz früherer Tage

Herzog greift sich nicht einfach nur die sogenannten geschichtsträchtigen Ereignisse heraus, die für gewöhnlich immer gern erzählt werden. Er wollte genau erkunden, wie die Bürgerstadt tatsächlich funktionierte und wie sie sich entwickelte, nachdem sie mit dem Ende des Schmalkaldischen Krieges ihre Rolle als Residenzstadt verloren hatte und nun zum albertinischen Familienzweig der Wettiner wechselte, die in Dresden residierten.

Eine politische Rolle spielte Torgau freilich noch gut 80 Jahre lang als Tagungsort der sächsischen Landtage. Denn die konnten hier auf all jene Strukturen zurückgreifen, die zuvor zur Unterbringung des sächsischen Hofstaates entstanden waren – mit einer gut ausgebauten Versorgung und Unterbringungsmöglichkeiten in der ganzen Stadt. Nur hin und wieder tauchten die sächsischen Kurfürsten auf, um hier eine große Hochzeit zu feiern oder zur Jagd in die Heide aufzubrechen.

Herzog räumt akribisch mit der immer wieder niedergeschriebenen Behauptung auf, Torgau sei in dieser Zeit so eine Art Nebenresidenz gewesen. Diesen Status hatte die Stadt nur kurze Zeit wieder, als für die noch minderjährigen Kinder von Kurfürst Christian I. Vormünder eingesetzt wurden. Einer von ihnen war der ernestinische Herzog Friedrich Wilhelm von Sachsen-Weimar, der 1591 nach Torgau kam und von hier aus zehn Jahre lang als Administrator die Regierungsgeschäfte in Kursachsen überwachte.

1601 gab es dann die Erbhuldigung für den 18-jährigen Christian II., der freilich schon 1611 starb. „Der Kurfürst ging in der Jagd und seiner Leidenschaft für Essen und Trinken auf. Aufgrund seiner mangelhaften Wirtschaftspolitik mehrten sich die Staatsschulden beträchtlich. Er starb kinderlos und bereits im Alter von 27 Jahren, nachdem er überhitzt eine große Menge kalten Bieres getrunken hatte, vermutlich an einem Schlaganfall“, fasst Wikipedia seinen Lebenswandel zusammen.

Exportgut: Torgauer Bier

Der wirtschaftliche Niedergang erfasste auch damals schon Torgau, wie Herzog den noch vorhandenen Ratsrechnungen entnehmen konnte. Er nimmt das Steuerwesen in dieser Zeit genau unter die Lupe, bilanziert Einnahmen und Ausgaben des Rates und des Gemeinen Kastens. Eingehend beschäftigt er sich mit den Braurechten in der Stadt, die an bestimmte Grundstücke gebunden waren.

Diese Rechte, Torgauer Bier zu brauen, zeugten nicht nur von Rang und Reichtum ihrer Inhaber, sie begründeten auch einen Teil des Reichtums, denn Torgauer Bier war bis zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges ein Exportschlager. Gerade Städte wie Leipzig und Halle nahmen es in gewaltigen Mengen ab. Aber Herzog nimmt auch alle anderen Wirtschaftszweige in der Stadt unter die Lupe, beschäftigt sich mit den Einkommen der Handwerker und Dienstleute, mit Landwirtschaft, Teichwirtschaft und Wasserversorgung.

Stück um Stück wird klarer, wie so eine damals noch reiche sächsische Stadt funktionierte, wie sie ihre Märkte organisierte, das Schulwesen und die Ratsarbeit. Herzog untersucht ihre Wehrhaftigkeit und er stellt sich die Frage, warum die Stadt in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf einmal so in wirtschaftliche Bedrängnis kam. Ein Thema, das in früheren Geschichtsdarstellungen ja selten einmal eine Rolle spielte. Aber unsere heutigen Erfahrungen mit einem heftiger werdenden Klimawandel haben auch den Blick geschärft für frühere klimatische Veränderungen. Und eine der gravierendsten war die sogenannte Kleine Eiszeit.

Ab den 1560er Jahren muss sie auch in Torgau verstärkt zu spüren gewesen sein, gab es heftige Elbehochwasser, mehrere extreme Kältejahre, die auch in Torgauer Chroniken verzeichnet wurden. Es gab extreme Regenjahre, aber auch Dürrejahre. Und das alles hatte Folgen für die Ernten, brachte massive Teuerungen und Nahrungsknappheit. Und damit auch Einnahmeausfälle und Handlungsnot für den Rat. Alles noch nicht zu vergleichen mit der Not, als Torgau ab 1631 mit dem Kurfürstentum Sachsen in den Krieg hineingezogen wurde und die vorher schon vereinzelt auftauchenden Seuchen sich in der kriegsgeschwächten Stadt zur Katastrophe auswuchsen.

Pest und Krieg

Als die Schweden 1650 abzogen, war die Stadt regelrecht ausgeplündert, hatten nicht nur die immer neuen schwedischen Besatzungen, sondern auch die rücksichtslosen Kontributionsforderungen von Kurfürst Johann Georg I. die Stadt verarmen lassen. Vor allem die heftigen Seuchen hatten auch die Stadtbevölkerung massiv zurückgehen lassen. Zum Kriegsende sollte Torgau nur noch 40 Prozent seiner Vorkriegsbevölkerung haben. Viele Grundstücke lagen wüst, weil ihre Bewohner der Pest zum Opfer gefallen waren.

Besonders hatte die arme Stadtbevölkerung und die Bevölkerung der verwüsteten Vorstädte gelitten. Aber auch unter den stationierten Soldaten wütete die Pest. Und sie verschonte auch die reichen Bürger der Stadt nicht.

Der große Abschnitt zum Dreißigjährigen Krieg macht den Irrsinn des Krieges sehr deutlich. Und mit Kritik an der Politik des Kurfürsten spart Herzog auch nicht. Denn der erwies sich in dieser schweren Zeit als völlig überfordert. Teilweise kommt auch die Stadt Leipzig mit ins Bild, die im Dreißigjährigen Krieg immer wieder die Begehrlichkeiten der marodierenden Heere erweckte. Denn hier konnten sie sich richtig gütlich halten und ihre Kriegskassen wieder füllen.

Man schaut auch auf die Schweden mit anderem Blick, wenn Herzog schildert, wie diese den einstigen Koalitionspartner Sachsen nach Strich und Faden ausnahmen. Vom brüderlichen Beistand im Glaubenskrieg, mit dem Gustav Adolf noch 1631 in den Krieg gezogen war, blieb nichts übrig. Schutz vor den plündernden Truppen gab es nirgendwo. Der Krieg ernährte sich, wie das so schön hieß, selbst – und verwüstete Dörfer und Landschaften.

Des Krieges überdrüssig

Das schlecht regierte Sachsen häufte dabei so große Schulden an, dass die Folgen tatsächlich erst 1799 abbezahlt waren. Die Einwohnerzahl, die Torgau noch zu Beginn des Krieges hatte, sollte die Stadt erst wieder im 19. Jahrhundert erreichen.

Gerade weil Herzog den Blick auf die wirtschaftliche Lage der Stadt richtet, auf die Einkommen und die Lebensbedingungen auch der einfachen Torgauer, wird deutlich, wie die Stadt unter Seuchen, Klimaextremen und Kriegsfolgen litt. Herzog hat sein Buch mit vielen ausgiebigen Zitaten aus Chroniken und Ratsprotokollen gespickt, sodass es nicht nur bei trockenen Zahlen und vielen anschaulichen Grafiken bleibt, sondern auch die Not und die Trauer der Betroffenen spürbar wird, wenn auch meist durch die Aufzeichnungen von Pastoren und Ratsschreibern gespiegelt.

Gerade das Jahr 1637 wurde zum Katastrophenjahr für Torgau. Hier starb auch Bürgermeister Paul Ringenhain und das Bürgermeisteramt blieb längere Zeit vakant, bis überhaupt wieder ein regulärer Wahlmodus stattfinden konnte. Was die Stadt nicht aus ihren Nöten erlöste, denn immer wieder standen die diversen Heerführer auf der Matte und forderten Kontributionen zum Unterhalt ihrer Truppen – gern begleitet von der Drohung, die Stadt ansonsten zur Plünderung freizugeben.

In diesen letzten Jahren des Krieges fragt man sich natürlich, wie da das Leben in dieser Stadt überhaupt noch weitergehen konnte, wie da noch Getreide vorhanden war und Brot gebacken werden konnte. Ganz abgesehen davon, dass gerade die jüngeren Männer zur Defension des Kurfürstentums und zur Wache an den Stadttoren befohlen wurden und auch der Kurfürst gern mal auftauchte, um seine Truppen zu mustern.

Unüberhörbar wird in den Ratsprotokollen, wie satt die Torgauer den Krieg hatten und die permanente Inanspruchnahme für den Wehrdienst. Ratsdiener und Bürgermeister konnten sich zeitweise nicht mehr durchsetzen. Druckmittel hatten sie auch keine mehr, denn die Bürger konnten oft nicht mal mehr die nötigsten Abgaben leisten. Geld für Strafzahlungen hatten sie erst recht nicht.

Grundstückbesitzer verließen sogar ihre Häuser, um der Abgabenlast zu entgehen. Andere wurden Opfer der Pest und starben so schnell, dass sie ihren Erben nicht einmal mehr verraten konnten, wo sie das vor den Soldaten in Sicherheit gebrachte Familienvermögen vergraben hatten. Das wurde dann Jahrhunderte später erst bei Ausgrabungen gefunden.

Armut und Reichtum in einer sächsischen Stadt

So umfassend hat – wenn man von den großen Jubiläumsschriften für Dresden und Leipzig absieht – wohl kaum eine andere sächsische Stadt ihre Geschichte im 16. und 17. Jahrhundert dargestellt. Bewusst hat Jürgen Herzog auch das Tafelbild „Salomonisches Urteil“ aufs Buchcover setzen lassen, das mit Dr. Johann Baumann, Paul Ringenhain und Wolf Merck drei wichtige Ratsmitglieder aus dem Jahr 1629 darstellt, aber auch daran erinnert, dass auch die Gerichtsbarkeit beim Rat der Stadt lag und sich die gewählten Ratsherren befleißigen sollten, gerecht zu urteilen.

Eine nicht ganz unwichtige Mahnung in einer Zeit, in der letztlich nur das betuchte Stadtbürgertum die Ratsherren und Viertelsmeister aus den eigenen Reihen wählte. Was ökonomische Gründe hatte, denn der Dienst für die Stadt musste ja neben der eigentlichen Geschäftstätigkeit absolviert werden, kostete Zeit und erforderte auch einen gewissen Aufwand.

Und was die Rechtsprechung betraf: Gerade viele Delikte, die eng mit der Armut der Delinquenten verbunden waren, wurden damals noch streng bestraft. Es gab einen fest bestallten Henker. Auf dem Markt war der Galgen aufgebaut. Es gab einen Pranger. Hinrichtungen fanden öffentlich statt.

Man lernt auch eine Stadt mit gewaltigen Ungleichheiten kennen, mit Innungszwängen und Streit um Verkaufsstände, Wasserrechte und Mühlenbesitz. Was in Torgau nicht nur Landmühlen betraf, sondern auch zwölf Schiffsmühlen auf der Elbe. Man schaut diese kleine sächsische Stadt mit anderen Augen an, wenn man ihr Werden in dieser von Glanz und Niedergang gezeichneten Zeit miterlebt. Eine Zeit, in der Torgau nach den heftigen Stadtbränden im 15. Jahrhundert längst zu einer größtenteils steinernen Stadt geworden ist. Die ihre Angst vor Bränden trotzdem nicht loswurde.

Im Anhang liefert Herzog dann noch ausführliche Dokumente zur Kleiderordnung von 1628, zur Besoldung der Ratsdiener, zum Inventar der Zeugkammer (Harnische, Schlagschwerter, lange Rohre …) oder zur Gerichtsordnung. Es ist ein Blick ins Innerste einer Stadtverwaltung, wie sie damals typisch war für sächsische Städte. Für eine der vier größten sächsischen Städte zumal. Auch wenn dieses eine Jahrhundert auch gleichzeitig das Ende des alten Glanzes war, den Torgau als Residenzstadt zur Lutherzeit noch hatte.

Jürgen Herzog „Die Stadt Torgau 1550 – 1650“, Sax Verlag, Beucha und Markkleeberg 2022, 39,80 Euro.

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