Seit 2008 gibt es die Salzburger Stefan Zweig Poetikvorlesung, zu der Autorinnen und Autoren als Dozenten eingeladen werden, „für die die Vermittlung zwischen den Kulturen ein zentraler Aspekt ihrer künstlerischen Arbeit“ ist. 2021 war Jaroslav Rudiš für eine Woche zu Gast im Germanistikseminar und hielt drei Vorlesungen, die zeigen, dass Vorträge durch und durch literarisch und sehr unterhaltsam sein können.

Und dass Autoren Brückenbauer und Schienenleger sind. Jedenfalls dann, wenn sie wirklich neugierig sind auf das Leben, die Menschen, ihre Geschichten, die Orte und die große weite Welt. So wie Jaroslav Rudiš, den LZ-Leser schon von seinen großen Graphic Novel über Alois Nebel her kennen, die er zusammen mit Jaromir99 geschaffen hat.

Natürlich kommt Alois Nebel in den drei Vorlesungen ebenfalls vor, die in diesem Bändchen versammelt sind. Denn es geht darin auch um das Reisen, das Er-Fahren der Welt.

Gern auch mit einem Baedeker von 1913 in der Tasche und einem der Kursbücher, die Alois Nebel auf dem stillen Örtchen aufbewahrt, wo er lesend durch die Welt reist, auch wenn er als Bahnhofsvorsteher in Bily Potok kaum einmal wirklich auf all den Kursstrecken unterwegs ist, die aus dem kleinen Nest im Böhmischen Paradies bis nach Triest, Wien, Paris führen.

Alles gleich um die Ecke

Wenn man nur einfach mal losfährt. Das Staunen ist allgegenwärtig in den Vorlesungen von Jaroslav Rudiš: Wie klein dieses Europa eigentlich ist, wie nah alles beieinanderliegt, wie schnell man an die sagenhaftesten Orte kommt, wenn man nur mal den Fahrplan studiert.

Denn Jaroslav Rudiš erreist sich sein Europa mit der Bahn. Auf Bahnhöfen fühlt er sich geradezu zu Hause. Auf manchen besonders, weil sie noch etwas haben, was er aus seiner tschechischen Heimat kennt: Bahnhofsrestaurants, Lokale mit Bahnblick, wie das „Perronnord“ in St. Gallen in der Schweiz, in dem er seine erste Vorlesung handeln lässt.

Hier erzählt er, wie ihn – möglicherweise – Gerhart Hauptmanns Novelle „Bahnwärter Thiel“ zu seiner Alois-Nebel-Geschichte angeregt hat. Und zur intensiven Beschäftigung mit der deutschen Literatur, die in der Kindheit und Jugend von Jaroslav Rudiš in Turov ja sowieso schon allgegenwärtig war.

Mal als hintere Buchreihe im Regal seines Vaters, wo all die Bücher standen, die nach der Niederschlagung des Prager Frühlings auf dem Index standen.

Aber auch durch die Präsenz weltbekannter deutschsprachiger Schriftsteller wie Franz Kafka und Karl Kraus, letzterer in Jičín geboren, zu deutsch Gitschin. In Berlin gibt es noch heute eine Gitschiner Straße, benannt nach einem der Schauplätze der Schlacht von Königgrätz (Hradec Králové), während die Königgrätzer Straße verschwunden ist.

Dabei ist die Schlacht von Königgrätz ein Knotenpunkt in der deutsch-österreichisch-tschechischen Geschichte. In der zweiten Vorlesung betritt Rudiš „the beautiful landscape of battlefields, cemeteries and ruins“, besucht auch den Friedhof in Lomnice, auf dem einige der 1866 ums Leben gekommenen Soldaten begraben liegen.

Preußen in diesem Fall. Dabei waren auch die Sachsen, die damals noch – mit den Österreichern – gegen die Preußen kämpften. Eine Schlacht mit Folgen, über die aber die meisten Jüngeren nichts wissen.

Kafkas Humor

Geradezu spielerisch breitet Rudiš seine Sicht auf die Welt vor den Lesern aus, sein Bild vom Herzen Europas, in dem all die Länder und Städte verortet sind, in denen er sich heimisch fühlt. Hauptsache, es fährt auch ein Zug hin.

Denn nichts verbindet Europa stärker als Schienenstränge. Da darf auch der Leipziger Hauptbahnhof ein bisschen an St. Pancras und den Gare de Lyon erinnern.

Dabei lebt Rudiš heute hauptsächlich in Berlin, hat seinen letzten Roman „Winterbergs letzte Reise“ gleich auf Deutsch geschrieben. Auch der kommt in seinen Vorlesungen vor, auch weil es ein Roman über einen Bahnreisenden ist. Wer mit der Bahn reist, sieht mehr von der Landschaft.

Unbekannte Stationen laden zum Aussteigen ein. Und zum Verfolgen der Spuren anderer. So wie in Lomnice, wo Rudiš den Spuren Theodor Fontanes folgt, der 1866 hier war, kurz nach der für Österreich so dramatisch verlorenen Schlacht.

Fontane, wie er das Schlachtfeld erkundet, Lazarette besucht, mit Verwundeten spricht. Fontane als Kriegs-Nachberichterstatter. Was er 1871 nach dem Deutsch-Französischen Krieg ja wieder machen würde. Neugierig auch auf all das, was in den Militärdepeschen und Zeitungsjubelberichten nie steht.

Man sieht eine Menge, wenn man Fontanes Spuren folgt. Und findet, wie Rudiš feststellt, die Schlacht von Königgrätz sogar in „Effi Briest“. Auch so kann man Brücken bauen – indem man den gemeinsamen Geschichten folgt.

Dem, was Menschen verbindet, selbst wenn sie davon gar nichts wissen. Die Atmosphäre von Bahnhofslokalen zum Beispiel, die europaweit vom Aussterben bedroht sind. Wer reist, merkt, dass sich der Humor verändert, wenn man Grenzen überschreitet.

Da staunen nicht nur polnische Freundinnen, dass die Tschechen selbst Kafka als Humoristen betrachten. Beim braven Soldaten Schwejk ist alles klar – den kann man sich auch schwerkrank als Arzenei ans Bett bringen lasen. Aber Kafka?

Ein Mädchen aus Sachsen

Rudiš lädt ein, auch den scheinbar so todernsten Franz Kafka in seinem hintergründigen Humor zu entdecken. Und als Liebhaber von Kneipen und Lokalen, so wie im „Schloss“. In den Kneipen lernt man die Leute kennen.

Und spätestens nach zwei, drei Bier ist man angekommen, wollen die Leute wissen, woher man kommt und warum man ausgerechnet hier gelandet ist. Es sei denn, man ist so menschenscheu wie der Landvermesser. Oder so misstrauisch.

Auf einmal wird Literatur als Brücke über die Unverständnisse sichtbar. Dürrenmatt, der im Regal von Jaroslav Rudiš’ Vater in zweiter Reihe stand und dem Jungen schon früh eine – literarische – Reise in die Schweiz ermöglichte. Oder der tschechische Schriftstelle Bohumil Hrabal, den die Polen besonders verehren.

Schiller erwähnt er zwar nicht. Aber Schillers Dramenheld Wallenstein spielt sogar in der Familiengeschichte von Jaroslav Rudiš eine Rolle. Und damit möglicherweise als frühe Ursache seiner doppelten Liebe zum Tschechischen und zum Deutschen.

Die dann – wer hätte das gedacht – durch ein Mädchen aus Sachsen noch befeuert wurde: „Sicher hat auch mit geholfen, dass wir oft in der DDR waren, denn viel mehr Reisemöglichkeiten gab es nicht. So lernte ich die Sprache sehr schnell. Noch schneller, als ich mich eines Sommers an einem Teich im Böhmischen Paradies in ein deutsches Mädchen aus Sachsen verliebte.“

Wie kann man da nur lachen?

Dass im Nachnamen seines Buchhelden Alois Nebel auch – wenn man ihn rückwärts liest – das Leben steckt, thematisiert Jaroslav Rudiš in seinen Vorlesungen mehrmals. Auch, weil es ein Schreibmotiv ist, das ihn leitet.

Denn was auf uns zukommt, liegt im Nebel. Das Leben ist nicht berechenbar und schon gar kein Kursbuch. Und oft kommt das Entsetzen erst nachher auf, wenn wir – wie Alois Nebel – begreifen, wohin die Züge fahren. Gerade in finsteren Zeiten, die in der Alois-Nebel-Geschichte noch gar nicht so lange zurückliegen.

Wir kommen von unserer Geschichte nicht los. Erst recht nicht, wenn die meisten Leute so tun, als wäre das alles vergessen, vorbei und abgehakt. Aus der gemeinsamen Geschichte aber kann man nur lernen, wenn man offen dafür ist und die Wendepunkte kennt, an denen sie auf ein neues Gleis kam.

Manchmal mit Gewalt. Viel zu oft mit Gewalt, wovon die Tschechen ein Lied singen können. Ihr Humor hat ja Ursachen, der Schwejksche Humor genauso wie der von Hrabal und Hasek. Es ist auch ein Lachen über Dinge, über die die Nachbarn entsetzt sind. Wie kann man da lachen?

Aber wer lacht, lebt. Und wer offenen Auges durch die Landschaft streift, sieht die Geschichten, die in scheinbar nebensächlichsten Details stecken. Geschichten, die sich manchmal im Nebel verlieren.

Aber so ist das Leben: Keiner weiß, was kommt. Nur auf die Züge ist Verlass. Meistens zumindest. Solange sie fahren und nicht aus fahrlässigen Gründen eingespart wurden.

Träumer, Verrückte, Nachtgestalten

Wer zuhört, erfährt Geschichten, auch wenn es nur Fetzen sind, Fragmente. Die Phantasie und die Neugier erzählen sie weiter. Geschichten über: „Die Träumer. Die Verrückten. Die Ganoven. Die Nachtgestalten.“ Die Randgestalten, die Rudiš immer wieder ins Zentrum seiner Geschichten holt.

Denn sie sind es, die Geschichten zu erzählen haben. Geschichten über das Leben hier unten, wo man sich als Hundefänger, Kneipenwirt, Bahnhofsvorsteher durchschlägt. Und froh ist, wenn mal kein General eine Mobilmachung befiehlt. Oder die Besetzung des kleinen Landes nebenan.

Wäre die Schlacht von Königgrätz anders ausgegangen, wäre alles ganz anders gekommen. Oder nur ein bisschen anders. Das weiß vorher keiner. Und hinterher bleiben die Lazarette, die Friedhöfe und die Ruinen, die auch davon erzählen, dass Geschichte immer im Nebel stattfindet und ganz bestimmt nichts so klar ist, wie es die Pressesprecher des Generalstabs immer behaupten.

Davon lebt Literatur. Das macht auch die Bücher von Rudiš so lebendig und vertraut. Da findet man sich wieder. „… denn sie wissen, dass das Erzählen vielleicht ihre einzige Rettung ist. Das Erzählen und auch der Humor. Die Ironie. Und auch die Selbstironie. Wer sich in Böhmen zu ernst nimmt, ist erledigt.“

Das klingt vertraut. So durfte man sich auch mal im kleinen Osten von Deutschland fühlen. Damals, als der dem kleinen Nachbarland im Süden noch viel ähnlicher war als heute und eine Reise nach Prag oder Liberec ein Abenteuer. Mit der Bahn natürlich, was denn sonst?

Jaroslav Rudiš Durch den Nebel Sonderzahl, Wien 2022, 16 Euro.

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