Wolfgang Engler ist einer der wenigen Ostdeutschen, die ihre berufliche Karriere auch nach 1990 in einer Spitzenposition fortsetzen konnten. Der Soziologe war Dozent an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin, wurde 2005 sogar deren Rektor. Und er veröffentlichte mehrere Bücher, in denen er die Probleme der deutschen Zweiheit thematisierte. Eine Zweiheit, die auch die Möglichkeit für völlig neue Wege in sich geborgen hat. Die aber sträflichst ignoriert wurden. Mit seinem neuen Buch knüpft er daran an.

Und Wolfgang Engler weiß aus eigener Lebenserfahrung, dass das im Osten mal ein bisschen anders war. Gewollt sogar, auch wenn es ebenfalls seine seltsamen Blüten trieb. Aber systematisch wurden Arbeiterkinder bevorzugt, erhielten nicht nur die Chance auf der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät (ABF) ihr Abitur nachzuholen und zu studieren. Sie bekamen die begehrten Studienplätze auch bevorzugt.

Hier kann man jetzt die ganzen Aber einfügen, die ebenfalls nur zu berechtigt sind. Aber das System ermöglichte erstmals in größerem Maßstab, dass Kinder aus Arbeiterfamilien tatsächlich Karriere machen und hohe Studienabschlüsse erreichen konnten. Dass sich dadurch auch in der DDR binnen 20 Jahre eine eigene Elite ausbildete, die dann ebenfalls wieder ihre eigenen Kinder bevorzugte, merkt Engler natürlich auch an.

Der Trend von Eliten zur Abschottung

Engler glorifiziert die DDR nicht. Und hat sehr wohl auch kritisch beobachtet, wie sich die neue DDR-Funktionärselite etablierte und abschottete. Und damit letztlich auch geistig den Stillstand des Landes ab den späten 1970er Jahren mitbewirkte. Bei Engler findet man viele nachvollziehbare soziologische Ansätze, die das absehbare Ende der DDR erklären, die sich aber nicht als alles erklärende Thesen anbieten. Dazu weiß auch Engler zu genau, wie viele Bedingungen erfüllt sein mussten, damit die Friedliche Revolution 1989 erfolgreich sein konnte.

Aber mit dem Blick des Ostdeutschen, der in einer „arbeiterlichen Gesellschaft“ (wie Engler es nennt) groß geworden ist, die am Ende auch Kommunikation, Kultur und Selbstverständnis der Ostdeutschen prägte, hat er auch den Blick für Unterschiede, die gleich 1990 lärmend und schleichend zugleich Einzug hielten, sich breit machten, ohne dass es wirklich offen diskutiert wurde.

Eine Gastprofessur an der Universität Sankt Gallen in der Ostschweiz machte ihm dann offensichtlich, wie Elitenbildung in unserer heutigen Welt tatsächlich funktioniert. Wohl wissend, dass auch an der Schauspielschule „Ernst Busch“ heute keine Arbeiterkinder (mehr) studieren, sondern vor allem Kinder aus dem gehobenen Mittelstand, deren Familien es sich leisten können, dass sich die Kinder einen künstlerischen Traum erfüllen.

An der HSG in Sankt Gallen wird der Nachwuchs für Wirtschaft und Management ausgebildet. Denn das ist die tatsächliche Elite von heute. Wer einen Führungsposten in einem deutschen Unternehmen, einem Versicherungskonzern, einer Bank, einer Beratungsgesellschaft oder einer etablierten Rechtsanwaltskanzlei ergattert, hat nicht nur für die Zukunft ausgesorgt, sondern hat auch ein Einkommen sicher, das um ein Vielfaches über dem der gewöhnlichen Angestellten und Arbeiter liegt.

Und er (oder sie) landet in einer Welt, in der man mit dem Leben, den Sorgen, dem Alltag der gewöhnlichen Menschen nichts mehr zu tun hat. Die Einladung Englers war ein Versuch der HSG, die Abgeschlossenheit der Managementstudiengänge aufzubrechen und den Studierenden auch einen Seitenblick in eine Welt zu ermöglichen, mit der sie im normalen Studium gar nicht in Berührung kommen.

Unter „Leistungsträgern“

Was Engler schildert, der seine Zuhörer/-innen durchaus auch zu eigenen Reflexionen aufforderte, macht sehr anschaulich, wie die jungen Menschen hier die Normen jener Welt lernen und antrainieren, in der sie sich künftig aufhalten werden. Übrigens auch jene Normen der „Leistungsträger“, die konservative und neoliberale Politiker so gern vor sich hertragen, wenn sie den Malochern im Land Faulheit und fehlende Leistungsbereitschaft unterstellen.

Hier spricht das Leistungsethos einer Elite, deren Mitglieder am Ende nur noch mit Ihresgleichen auf Augenhöhe verkehren. Und dann solche Katastrophen anrichten wie die Finanzkrise von 2008/2009, über die Joris Luyendijk in seinem Buch „Unter Bankern“ so genau schrieb.

Dort hatte er es genau mit solchen Absolventen von Eliteuniversitäten zu tun, die gelernt hatten, wie man alles der wilden Hatz nach Prestige und Profit unterordnet. Was diese wilde Jagd dann mit der realen Welt und den Schicksalen der ärmeren Menschen anrichtet, ist in dieser Welt egal, spielt keine Rolle.

Und das hat natürlich Folgen für den Blick auf die ganz „einfachen“ Menschen. Denn wer an solchen Hochschulen studiert, ist am Ende überzeugt, dass er das alles aus eigener Kraft geschafft hat – auch wenn er es ohne das Geld seiner Eltern nie dorthin geschafft hätte. Und es bildet sich ein „Leistungs“-Ethos heraus, das diesen Erfolg geradezu mit Selbstgerechtigkeit verknüpft. Denn warum studieren nicht auch die ganzen Leute da draußen in ihren mies bezahlten Jobs?

Sollen sie sich doch nur anstrengen. Oder wie Engler aus Selbstaussagen der Studierenden zitiert: „Nur dem, der sich bemüht und dafür arbeitet, wird in unserer Gesellschaft Anerkennung entgegengebracht. Wäre Anerkennung etwas von Geburt an Selbstverständliches und würde jedem zustehen, wofür stände ich, provokativ gefragt, morgens denn noch auf?“

So ticken sie. Und so lassen sie, wenn sie denn mal in der Politik auftauchen, ihre Verachtung für die Nicht-Erfolgreichen auch immerfort spüren, kübeln ihre Verachtung über Arbeitslose und Bürgergeldempfänger aus. Und verschreiben dem Land neoliberale Rosskuren, mit denen es mit „Schuldenbremsen“ künstlich heruntergespart wird.

Clash of cultures

Dass auch die Leute in den „billigen“ Jobs Anerkennung vredient haben, und zwar ganz selbstverständlich, das ist aus der Höhenperspektive dieser Elite nicht denkbar. Denn sie assoziieren erfolgreiche Anstrengung mit dem Lebensstil, den sie selbst pflegen, den Leuten, mit denen sie Umgang haben, den Luxusgütern, die man auf ihrer Etage unbedingt haben muss. Oder mit Englers Worten: „Was in diese Sphäre zählt, sind Reputation im Unternehmen, Zugehörigkeit in exklusiven Zirkeln und nicht zuletzt geldwerte Äquivalente für die Aufopferung im Beruf.“

Es ist geradezu die entgegengesetzte Welt zu der, in der die meisten Ostdeutschen sozialisiert wurden. Ein schönes Wort, das auch viel zu selten genutzt wird, wenn man die nur scheinbar so ungreifbaren Unterschiede zwischen West und Ost zeichnen will. Denn Menschen werden in ihren „Peergroups“ sozialisiert, lernen dort nicht nur die (jeweils) richtigen Umgangsformen, das Sprachverhalten, die kulturellen Zeichen für ihr Klasse. Sie verinnerlichen diese Haltungen auch. Und das führt zum „clash of cultures“, wenn völlig anders sozialisierte Ostdeutsche auf westdeutsche Eliten treffen.

Denn Ostdeutsche wurden jahrzehntelang zum Konformismus erzogen, zur Einordnung ins Kollektiv, zu Bescheidenheit und einer Gleichheit, in der auch Akademiker, Ingenieure und Betriebsleiter moralisch auf derselben Stufe agierten wie die Arbeiter, Angestellten und Putzfrauen. Jeder hatte das Recht, stolz auf seine geleistete Arbeit zu sein. Wer auffiel, scherte aus und erntete dafür nicht nur Disziplinierung, sondern auch eine Tüte voll anerzogener Scham.

Denn das war unerwünscht. Und ist es heute ganz offensichtlich immer noch. Man drängt sich nicht nach vorn, stellt sich nicht mit Selbstlob über andere, und wenn man mal Lob erfährt, bleibt man bescheiden und tritt dann lieber schnell zurück ins Glied.

Scham und Beschämung

1990 aber krachte die ostdeutsche Wir-Gesellschaft mit aller Macht auf die westdeutsche Ich-Gesellschaft. Und während Ostdeutsche – selbst dann, wenn sie das Zeug dazu hatten – schambehaftet auf mögliche Positionen und Beförderungen verzichteten, griffen westdeutsche Akteure ohne jegliche Scham zu. Das Thema Scham und Beschämung behandelt Engler natürlich auch. Denn auch die Beschämung wurde ab 1990 in Funktion gesetzt – gerade wenn es darum ging, ostdeutsche Konkurrenzen auszuschalten oder zu diffamieren. Dafür stehen auch die Kampagnen gegen ostdeutsche Schriftsteller/-innen und Künstler/-innen.

Aber das a selbst für Engler nicht sofort erkennbar, wie er im Rückblick auf seine 1999 und 2002 erschienenen Bücher „Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land“ und „Die Ostdeutschen als Avantgarde“ reflektiert. „Ich zeigte, wie das gewohnte Leben, um Arbeit gebaut, jählings zerbrach, unterschätzte jedoch die massiven Abwertungs- und Ausschlusserfahrungen der Ostdeutschen und deren Langfristfolgen. Sah auch nicht klar genug, wie viele Ostdeutsche verdrängten, was mit dem Vollzug der Einheit sozial und ökonomisch auf sie zukam, und welch enormes Konfliktpotenzial in dieser Verdrängung lag.“

Dazu musste er – mithilfe französischer Autoren wie Édouard Louis und Didier Eribon – erst einmal selbst verstehen, was eigentlich mit einem jungen Menschen aus der Unterklasse passiert, wenn er den Weg durch die Eliteuniversitäten ganz nach oben antritt, wie er schon auf diesem Weg mit allen seinen angelernten Sozialisationen in Konflikt gerät und regelrecht gezwungen ist, seine Herkunft zu verraten.

Familienbeziehungen werden gekappt, weil man sich der „armen Alten“ zu schämen beginnt, man legt sich völlig neue „Freunde“ zu, die einem Türen in die gehobenen Schichten öffnen, bewegt sich in anderen Kreisen, besucht andere Restaurants und Kulturveranstaltungen, legt sich einen völlig neuen Habitus zu und damit auch völlig neue moralische Standards.

In akademischen Höhen

Louis und Éribon haben darüber wenigstens geschrieben. Denn das hat sie nicht losgelassen, was da mit ihnen passiert ist. Aber sie machten damit eben auch deutlich, wie radikal dieser Bruch ist und dass jeder, der so eine Karriere absolviert, letztlich seine Herkunftsklasse tatsächlich verrät. Er kann nicht anders. Während gleichzeitig sichtbar wird, wie abgeschottet die Eliten – nicht nur in Frankreich – sind.

Dass es selbst innerhalb dieser Eliten auch noch gnadenlos praktizierte Unterschiede zwischen Reichen und Superreichen gibt, merkt Engler natürlich auch an. Für den es aber viel wichtiger war, für sich selbst zu erkennen, dass er im eigenen Leben ja einen ähnlichen Weg eingeschlagen hat.

Ein Weg, der auch in der scheinbar so gleichmachenden DDR und der folgenden Transformationszeit seine Tücke hatte. Denn auch der Eintritt in eine akademische Denk- und Lebenswelt schafft Unterschiede und Distanzen, verändert das eigene Denken und den Blick auf die „einfachen Leute“, die ihre Erklärungen für all das, was in der Welt schiefläuft, eben nicht aus den Werken von berühmten Philosophen und Soziologen ziehen.

Engler bemerkt es bei sich dann doch sehr kritisch, dass er auf die Entwicklungen in Osten viel zu lange immer nur aus der erhobenen Position des Akademikers geschaut hat und deshalb gar nicht wahrnahm, wie heftig die Verwerfungen ab 1990 die meisten „einfachen“ Ostdeutschen trafen.

Die akademische Draufsicht scheint zwar die Welt theoretisch sehr gut zu erklären. Aber mit der erlebten Wirklichkeit hat sie nichts zu tun, nicht mit Frust, Zorn, Verlust und Abwertung, wie sie Millionen Ostdeutsche erlebten. So ganz am Rande taucht dabei auch ein Aspekt auf, der mit der Frage zusammenhängt, wo sich Menschen eigentlich verorten.

Denn wer seine Klasse verlässt und sich selbst regelrecht umdefiniert, um in den angestrebten elitären Höhen bestehen zu können, der verliert auch etwas: nämlich die Zugehörigkeit zu seiner Herkunft, seinen Altersgenossen, seinen einstigen Freunden, oft auch zur Familie. Etwas, was auch Engler erlebte, als seine Familie aus Sachsen nach Berlin umzog. „Ich hatte keinen existenziellen Grund, ein anderer werden zu wollen wie er (Édouard Louis, d. Red.), und wurde es doch.“

Der Tunnelblick der Eliten

Der Verlust des sächsischen Dialekts war, so schreibt er, wohl der Anfang. Aber wie weit das geht, merkt man oft erst viel später, wenn man so ernsthaft wie Engler daran geht, die eigenen Irrtümer aufzuarbeiten, die letztlich zu lauter Blindheiten wurden gegenüber dem, was die nicht privilegierten Menschen um einen herum tatsächlich erlebten. Nicht erst nach 1990, aber dann mit aller Wucht.

Was letztlich unausweichlich erscheint, wenn man auf die deutsch-deutsche Geschichte immer nur aus der Perspektive einer Elite schaut, die ihr elitäres Abgehobensein überhaupt nicht mehr wahrnimmt. Und den Geprügelten und Bedrückten immer wieder dasselbe Märchen von „Jeder ist seines Glückes Schmied“ erzählt, während alle Strukturen der auch in Deutschland längst erstarrten Gesellschaft für lauter Gläserne Decken zwischen den Klassen und Schichten sorgen.

Und damit auch dafür, dass der Weg von unten nach oben den Kindern aus armen Familien fast unmöglich gemacht wird. Während die Kinder aus den privilegierten Familien ihre Privilegien nicht einmal mehr wahrnehmen. Sie sind regelrecht ausgeblendet. Und damit auch unsichtbar für die meisten Politiker.

Es ist eher ein ernüchterndes Buch, wenn man dabei an die mögliche Veränderungsbereitschaft der deutschen Gesellschaft denkt. Denn warum sollten Eliten ihr Verhalten ändern, wenn sie ihren Status als selbstverdient und selbsterarbeitet begreifen und in den Unzufriedenen weiter unten nur unliebsame Konkurrenz sehen? Ein großes Ganzes, um das man sich verständnisvoll kümmern könnte, entsteht so nicht.

Im Gegenteil: Eliten neigen dazu, sich zu verfestigen und abzuschotten nach unten. Und sich gegen jeden politischen Versuch zu wehren, der diese Verfestigung von Privilegien infrage stellen könnte.

Auch Engler kommt zu keinem wirklich optimistischen Fazit: „Es stimmt mich traurig, dass das Leben all derer, die nach uns kommen, in noch höherem Grade vom Zufall der Geburt bestimmt sein wird, als das heute schon der Fall ist.“

Es scheint wohl an der Zeit, einmal gründlicher über das Fatale am Entstehen in sich geschlossener Eliten nachzudenken.

Wolfgang Engler „Brüche. Ein ostdeutsches Leben“, Aufbau Verlag, Berlin 2025, 22 Euro.

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