Es ist eine Annäherung. Praktisch vom Altar her und in diversen faszinierenden Kirchenräumen Mitteldeutschlands, in denen sich Olaf Wisch wie zu Hause fühlt. Er ist studierter Theologe, hat an mehreren Orten Ostthüringens als Pfarrer gearbeitet. Einigen dieser Kirchen begegnet man in den in diesem Bändchen gesammelten Gedichten, in denen nicht nur Maria eine Rolle spielt. Denn sie ist nicht die einzige Frau, die in Kirchenräumen Gestalt annimmt. Und in literarischen Werken. Eine Reise als Annäherung.
Eine durchaus eigensinnige Annäherung, mit der sich Wisch, der auch dem hallischen Dichterkreis angehört, hier vornimmt, Maria Gestalt nehmen zu lassen. Denn er sucht die Frauen nicht dort, wo sie waschen, bügeln, Kindern den Hintern abwischen, Busse fahren, Patienten versorgen und was sie der tausend Tätigkeiten mehr ausüben. Er sucht sie in Bildern und Büchern. Und versucht dabei, die alten, patriarchalen Sichtweisen auf die dargestellten Frauen zu durchbrechen. Was nicht einfach ist.
Aber auch wenn die Bilder in den Kirchen biblische Geschichten zeigen, stellen sie in der Regel reale Frauen und Mädchen dar, wie sie die Künstler zu ihrer Zeit fanden. Frauen, die durchaus auch Eigensinn und Selbstbewusstsein ausstrahlen. Im Grunde könnte man diesen Gedichtband mit den Vor-Bildern bebildern.
Die also Frauen auch zeigen – als eigensinnige Wesen, die sich den Ansprüchen der Betrachter und Anbeter auch verweigern können, so wie in „Maybe Mary“: „sie ist die Himmelskönigin / und schert sich nicht darum / wer den Platz beansprucht / zu ihrer Rechten / sie legt das blaue Kleid ab die Krone / verjagt die süßen Engel …“, und landet als Frau aus Fleisch und Blut in Jerusalems Straßen.
… mit Lieb und Lust …
Ganz ähnlich passiert es der Uta im Naumburger Dom: „starr bis zur Dämmerung / kommt sie / sie kommt / mit Willen, Schöpferin / voller Lieb und Lust …“ („Advent“)
Was Männer so i Frauen hineinsehen. Und auch dürfen: Dass sie zum Beispiel eben nicht nur die keuschen, braven, angebeteten Madonnen sind. Sondern Frauen, die ihr Leben selbst anpacken – mit Lust und Liebe.
Da kann es dem mit der Tram reisenden Pfarrer schon mal passieren, dass sich Maria selbst auf dem nächsten Plastiksitz manifestiert („Manifestiert“): „aus Furcht und Zittern kristallisiert deine / Gestalt, verschmilzt ionenschnell heiliges / und sehnsuchtsvolles Fleisch, gekleidet / unwiderstehlich in deiner Schönheit …“
Ach, die Fantasien der Männer. Manchmal sind sie ganz unheilig. Dabei taucht Maria immerzu auf. Am Regleraltar in Erfurt („Unter der Morgensonne“), in der Predigerkirche Rottweil („An die Madonna von der Augenwende“) und auf dem Marienretabel Lippersdorf („Andernorts“). Hier ist sie nicht mehr jung und verführerisch, sondern „wäre lieber allein / mit der Leiche auf dem Schoß …“
Ist es der Betrachter, der hier „Fluchtgedanken“ hat, oder die Trauernde? Auch in den Fenstern der Weißenfelser Lutherkirche leuchtet das Marienblau – neben Passionsviolett und Morgenröte. Hier werden die Arbeiten der Künstlerin Ina Hosfeld zum Gedicht-Thema. Es geht immer wieder um Sichtbarkeit – die Sichtbarkeit der Frau im Bild und die der Künstlerin.
Aber auch die Schriftstellerin, der oft genug nur ein kleiner Platz hinten im Schiffchen des Ruhmes bleibt. Denn auch in der Literatur stehen vor allem die Männer auf dem Podest. Aber Wisch liest sie und wird sehr persönlich, wenn er Sibylla Schwarz würdigt („Wider den Neid“), Marianne von Willemer, Karoline von Günderode oder gar Friederike Kempner („Gedichte verkaufen“).
Denn was gerühmt wird auf dem Markt, wird auch gekauft. Das aber ist selten die Domäne der Frauen. Sie erzählen ja meistens von sich, dem, dessen sie sich nicht entziehen können wie Annette von Droste-Hülshoff („Von oben herab“).
Sichtbar werden
So werden es eher vorsichtige Begegnungen des Dichters mit den Worten, Gesten und Blicken der benannten Frauen. Eine Annäherung. Oszillierend zwischen Öffentlichkeit und Behütung. So wie in „Offenbar öffentlich“: „was ich schreibe / bleibt bei mir / in zehn Exemplaren / getippt und genäht …“
Ganz so privat bleiben die Gedichte hier nicht, auch wenn sie die Distanz immer wahren, die man auch als Respekt lesen kann vor den unnahbar nahbaren Frauen, die nicht alle Maria heißen. Und auch keine Marien sind. Und erst Gestalt annehmen, wenn sie als eigensinnig Handelnde die Szenerie betreten – so wie Maria selbst in „Maria nimmt Gestalt an“: „sie wirft sich ein Dornenkleid über / sie will keine Pfingtsrose mehr sein …“
Wann nimmt man sie wirklich wahr, all diese angehimmelten Frauen, die nur zu oft auf Mutterbrust und Geburtskanal reduziert werden? Es geht auch um die Selbstbestimmung der angebeteten Fau. Dann ist sie zwar nicht mehr anbetungswürdig, dafür wahrnehmbar. In ihrem ganzen Eigensinn, als ganz reale Person.
„in deiner Jugend/ erkennst du deine Geschöpflichkeit / im Anfang hat sich nichts verändert / du leuchtest im trüben Licht / in der Küche im Krankenzimmer auf dem Standesamt / Wort für Wort / kommst du / zur Welt …“ („Weihnachtsgesang“)
Zeit also für die Herren Betrachter, sie auch so wahrzunehmen. Als Frau mit einem Namen, einer Geschichte und dem nur zu berechtigten Wunsch, auch gesehen zu werden. Was etwas anderes ist als anhimmeln.
Olaf Wisch „Maria nimmt Gestalt an“ anderort – verlag für Lyrik, Leipzig 2025, 14 Euro.
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