Auch Dichtung ist politisch. War sie schon immer. Es gab sogar Zeiten, da füllte sie Stadien. Und Dichter wurden wie Rockstars empfangen. Da waren selbst Literaturnobelpreise noch politisch. Und die Worte der Dichter hatten Gewicht. Sie galten sogar als das Gewissen der Nation. Wie sehr sich Henry-Martin Klemt als Teil dieser engagierten Dichtung versteht, macht er auf seiner eigenen Homepage deutlich. Ganz groß ist sie mit „Poesie der Befreiung“ betitelt.

Und das erinnert nicht zufällig an die „Theologie der Befreiung“, die sich ab den 1960er Jahren als Stimme der armen und zumeist katholisch geprägten Bevölkerungsschichten in Lateinamerika etablierte.

Zeitlich parallel dazu wurden auch mehrere Dichter populär, die diesen „kleinen Leuten“ eine Stimme gaben, ihr Leben in Verse bannten und die Hoffnung auf eine bessere Welt lebendig machten. Zu ihnen gehörten die Dichter Pablo Neruda und Ernesto Cardenal. Ihre Dichtungen sind große Lieder auf die Freiheit. Und auf eine Revolution, die die die Dinge endlich zum Besseren wendet. Aber Revolutionen sind unberechenbar. Sie rufen auch die Konterrevolution auf den Plan. Oder schaffen neue Regime, die mit den ursprünglichen Hoffnungen auf Befreiung nichts zu tun haben.

Was tut man da als Dichter, der mit Neruda, Cardenal und Jewtuschenko aufgewachsen ist? Erstickt man dieses Hoffen auf eine bessere Welt? Oder hält man es wach? Auch mitten in einer zynisch gewordenen Gesellschaft, die keine Träume mehr träumt? Und die die Armen und Vergessenen verachtet? Gute Frage. Henry-Martin Klemt beantwortet diese Frage auf seine Weise.

Und in diesem neuen Gedichtband in vier Kapiteln, die sich alle um ein Gut drehen, das man sich in keinem Laden kaufen kann: das Glück. Ein Gut, das nur im Zwischenmenschlichen möglich ist, in Liebe und Geborgenheit. Oder: „Wieviel Schutz braucht ein Traum, wie viel Sicherheit / ist ihm sicher?“

Das Leuchten der Welt

Eine Frage, die er gleich im ersten Gedicht „Flaschen-Schiff“ stellt, in dem es um diese zerbrechlichen Träume geht, die die einen mit viel Fingerspitzengefühl in eine Glasflasche zaubern und andere mit Sehnsucht in den Augen bewundern, den Traum vom offenen Meer träumen, von aufregenden Reisen um die Welt und in die Welt. Ein Kinder-Traum. Den sich Erwachsene dann doch nicht erfüllen. Nicht erfüllen können. Oder dürfen. Oder glauben, sie dürften nicht mehr träumen.

Es ist ein traumwandlerischer Ton, den Klemt anschlägt. Von Anfang an. Ein bewährter Ton, der seine Leser daran erinnern wird, wie wir die Welt einmal mit Kinderaugen angeschaut haben, erwartungsvoll, jederzeit gewärtig, dass Dinge geschehen, die uns überraschen und bezaubern. Ein Ton, der ganz von allein zum Gedicht drängt. Und wer noch Zugang hat zu diesen Adern ganz tief unten in der Erinnerung, wird Vertrautes wahrnehmen: „Das war der andere Zauber: Wo / immer das Schiff war, rauschte / die See.“

Die Welt bekommt wieder Farbe, ein Leuchten, einen Klang. Eine Ahnung davon, dass Dasein vielleicht doch nicht heißt, immerzu nur wie eine Ratte im Laufrad zu laufen und in immer neuen teuren Dingen vielleicht mal Erfüllung zu finden. Aber das ist nicht neu. Die Enttäuschung ist auch in Klemts Gedichte eingeschrieben. Etwa wenn er auf die Monate nach dem Mauerfall schaut: „Aus / den Wahlurnen hüpften der Neid, / die Häme, die Gier, um uns / zu regieren.“

Das Ergebnis: Statt blühender Landschaften eine um sich greifende Ödnis: „Den Kornblumen nah. / Es rauschte die See. So viele / Ufer zum Greifen fern. Die alten / Straßen haben wir beinah für uns / allein.“ („Juniband“)

Das Naheliegende

Natürlich ändert sich der Blick. Wird irdischer, wendet sich all den kleinen Dingen zu, die tatsächlich unser Dasein ausmachen. Dort, wo wir berührt sind. Und die alten Bilder der Revolution sich in die nüchterne Wirklichkeit verwandeln.

So wie in „Fünfter Mai 2018“: „Revolutionen sind Lokomotiven / der Menschheitsgeschichte. Ich / fahre mit meiner Draisine / spazieren auf dem Abstellgleis ….“ So kommt man dann an in den Ebenen der Realität, wenn der Traum der großen Revolutionen ausgeträumt ist. Was bleibt, ist immer das Naheliegende: „Wenn es / dunkel wird, hältst du / auf die Lichter zu, die / dir am nächsten sind.“

Das darf ruhig doppeldeutig klingen. Denn was uns am nächsten ist, ist uns auch nah. Das ist das, was wir bewältigen, aushalten und gestalten können. Anders als es Politik und Medien in der Regel erzählen. Uns geradezu erschlagen mit der großen, blutigen Welt. Den Fokus immer drauf auf die Kriege, zu denen Klemt einiges ganz Menschliches zu sagen hat. Der auch daran erinnert, dass es Freiheit nicht zu kaufen gibt. Freiheit ist das Wagnis, das jeder selbst eingeht, wenn er sich traut zu leben: „Freiheit sagt: Wir / machen Zukunft. Du / kannst sie zeugen. Ich / bring sie zur Welt …“ („Freiheit“)

Das scheint laut und proklamatorisch zu werden. Wird es aber nicht. Denn Freiheit ist tatsächlich das Leise, das wir beginnen, das vorsichtige Wagnis, unser eigenes Leben zu leben. Oder es eben zu verpassen, wenn wir denken, es gäbe sie als Superangebot im Laden: „Freiheit schließt leise / von draußen / die Tür.“

Es sind stille Bilder, die scheinbar in Traum-Welten führen. Aber wer sie wirken lässt und auf das, was da steht, eingeht, merkt: Es geht um unseren Umgang mit unserem eigenen Leben. Um das, was wir zulassen. Und was wir vergessen, wenn wir uns nicht mehr um das kümmern, was wir wirklich wollen vom Leben. Was uns lebendig sein lässt. Die Gegenwelt: Eine Welt der zerstörten Landschaften, Spielplatz der Kriegsherren – so wie im Titelgedicht „Ausgewaschene Nacht“: „Geboren / im Zeichen des Kreises, wandern wir / auf den Spuren eines Märchens mit / Frau. Rudern von einem Jahrtausend / ins nächste …“ Wie Bilder aus einem Albtraum reihen sich dann die Nachrichtenbilder des Jahres 2021 aneinander: ein gestrandetes Containerschiff, Drohnen aus Ramstein, „deine Augen / glänzen wie dein Maschinengewehr …“

Auferstanden

Man gewöhnt sich so daran, dass alles immer nur noch mit Gewalt gelöst werden kann. Dass die Gewalt gewinnt. Selbst wenn sie nur Wüste hinterlässt. Albtraum-Landschaften. Während das Nachrichtengeknatter weitergeht. Imme weiter. Nachrichten, in denen es schon lange nicht mehr um das Glück der Menschen geht: „Auferstanden / aus dem Schrott nie beendeter Kriege / Überladen, brandheiß wie ein / Handy-Akku aus dem Hinterhof / der Diplomatie, in der es seltene / Erden noch im Plural gibt.“ („Europäischer Frühling“).

Es liest sich so weg und man stutzt erst später, schon in den nächsten Versen: War da nicht was? Eine anklingende Doppeldeutigkeit, an der unsere Sprache so reich ist, wenn wir nur sorgsam mit ihr umgehen und ihre Mitklänge noch wahrnehmen. Und Klemt zeigt eben – Gedicht für Gedicht – wie nah die Poesie unseren Worten immer ist, scheinbar ganz simplen Sätzen und Bildern, in denen mitschwingt, wie intensiv das Leben ist, das wir nicht (mehr) wahrnehmen.

Wie intensiv das ist, fängt Klemt etwa in „Ausritt“ ein, einem der Gedichte in dem Kapitel, in dem es letztlich um Glück geht, das ungreifbare. „In Traumgewittern suchst du Schutz / bei einem Wort erwachst / im Schrei, und die Geräusche / des Tags bedeuten dir: Du / hast nicht du zu sein …“ Muss man dazu Dichter sein, um das zu fassen? Möglicherweise schon. Denn wer sonst geht so achtsam mit Sprache um? Unserer Sprache, die so viel mehr kann und trägt als es uns die „Karriereclowns“, „Bonsaiphilosophen“ und „Arbeitsspeicherfetischsten“ jedes Tag weiß zu machen versuchen. Man merkt schon: An dieser Stelle ist Klemt dünnhäutig. Und recht hat er, wütend zu sein auf all jene, die unsere Sprache zum Abfalleimer machen. Ihr ihre Schönheit, Tiefe und Vieldeutigkeit nehmen. Und glauben, sie sprächen dann deutlich.

In Spiegeln

Es reden so viele Leute über die Verwendung von Sprache, die vom lebendigen Sprechen keine Ahnung haben. Wahrscheinlich lesen sie auch keine Gedichte, sonst würden sie ahnen, was sie unserer Sprache antun. Und damit unserem Erkennen unserer eigenen Lebendigkeit in der Welt – unsicher natürlich, uneindeutig, oft genug wie aus Träumen geworfen: „Ich wache auf, wenn du kommst / In den Wänden lebe ich, in der / Dämmerung vor den Fenstern / wie ein Flügeltier, das zum Licht / drängt, an dir vorbei.“ Es ist ein Gedicht, das keinen Titel hat, aber einen Leitspruch von Anna Achmatowa: „In Spiegeln hab’ ich oft gelebt.“

Denn die Poesie der Welt ist immer ganz nah. Zum Greifen nah. Wenn wir nur aufhören würden, die falschen Dinge für wichtig zu halten. Und alles mit einem Preis zu versehen, als wäre die Welt ein einziger Ramschladen, der zum Ausverkauf steht: „Was lieb uns ist, wird bald auch teuer, / und nach der Linie kommt der Strich …“ („Trostvers zwischen den Zeiten“).

Es geht, wie man sieht, immer ums wirkliche Leben, das, was uns wichtig sein sollte und eigentlich nicht zum Verramsch stehen sollte. Das letztlich Unfassbare, in dem Menschen einander tatsächlich begegnen. So wie in „Wie immer“: „Wie immer trugen wir / im Herzen eine Zeit, die es / nicht gab, nicht einmal, die wir / sahen, wie immer, mit eigenen / Augen, gab es. Aber wir sangen / bereit, uns zu werfen in die Waag- / schale …“

Das ungreifbare Glück

Das ist ein Ton, der in allen Gedichten anklingt. Mit einem ganz leichten Staunen, wie intensiv und verwirrend es sein kann, das Leben zu leben und Nähe und Liebe zu erfahren. Und darin dieses stets flüchtende Glück, das sich nicht greifen lässt. Aber träumen. Als Möglichkeit, es mit allen Sinnen auszuleben. Sicher, dass es ohne Kummer und Sorgen nie sein wird. „Gewöhnst du dich an die Liebe, / gewöhnt sich die Liebe an dich. / Sie öffnet die Fenster zur Welt. / Sie öffnet den Sorgen die Tür …“ („Gewöhnung“)

Oder so formuliert: Wer sich nicht sorgt, lebt nicht und liebt nicht. Liebe ist Sorge. Manchmal um die ganze Welt. Und um wildfremde Menschen, die einem unvermutet nah sein können. „Weil das Leben eine Einladung ist / auf dem herausgerissenen Blatt / aus einem Vokabelheft, von Hand / zu Hand gewandert, von Reihe zu / Reihe die geheimnisvolle Spur / aus Staub in der Stunde, die / dich erröten ließ und dabei zornig / tun.“ („Einladung“)

Auch so kann man das formulieren. Und wer es nie so erlebt hat, der hat es wirklich gründlich verpasst. Es ist ein Gedichtband, der einen wieder daran erinnert, wie nah uns das Glück manchmal auf die Pelle rückt. Und wir haben es wieder mal ganz knapp verpasst.

Henry-Martin Klemt „Ausgewaschene Nacht. Vier Kapitel über das Glück“, Morio-Verlag, Heidelberg 2025, 16 Euro.

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