Es gibt sie, diese Menschen, die in poetischen Stimmungen leben. Nicht immer. Aber meistens dann, wenn das Rumoren im Kopf einmal Pause macht, das Gehirn sich entspannt und das Kontrollzentrum einmal Ruhe gibt. Zum Beispiel, weil man endlich im Bett liegt und loslassen kann. Oder am Bahnsteig steht und weiß: Der Zug kommt erst in zehn Minuten. Aber er kommt. Alles ist gut. Und auf einmal fängt unser Kopfkino an zu träumen. Ein höchst produktiver Moment. Patrick Wilden, der sein Leben zwischen Leipzig und Dresden teilt, weiß das.

Und er hat er sich angewöhnt, diese zehn Minuten auch zu nutzen. Oder besser: zuzulassen. Denn sie sind ein Geschenk. Denn in diesen Momenten tauchen Bilder und Worte auf, was eben so gerade herumstreunt im Kopf. Irgendwie verbunden mit der Situation, in der man gerade steckt, so, wie eben Traumgebilde sich zusammenfinden. Und dann braucht man eigentlich nur noch Stift und Papier, um das, was sich da formt, einzufangen. Die „Rohheit des Moments“, nennt es Wilden.

Natürlich ist da nichts perfekt. Das ist ja das Besondere an diesen Momenten, in denen wir einmal aus dem straff Organisierten auftauchen und merken: Die Welt ist ein Raum des Möglichen. Voller Zusammenhänge, Ab- und Auswege. Und was in solchen Situationen entstehen kann, sind Notatgedichte. Vorbild für Wilden sind Elke Erbs „Fünf-Minuten-Notate“. Da hat ja die Dichterin gezeigt, wie das geht, wenn man in diesen unverbrauchten Momenten einfach festhält, was einem als Assoziation in den Kopf kommt.

Wie es denkt in uns

Nur dass Dichterinnen und Dichter gelernt haben, dieses flüchtige Gespinst sofort zu bändigen, in Form zu bringen, zur bildlichen Logik werden zu lassen. Und dann entsteht genau das, was Wilden in den letzten Jahren gesammelt hat, niedergeschrieben im Moment, nur da und dort später noch einmal nachgefeilt. Denn das eigentlich Poetische liegt im Moment. In manchmal irgendwie abwegigen Gedanken beim Zubettgehen wie gleich im ersten Gedicht „Welche Welt“: „Lies nicht in der Chronik von gestern …“

Ein eigentlich eher kleiner, verstörender Gedanke. Andere würden daraus einen Allerwelts-Aphorismus machen. Aber in Wildens Kopf spinnt sich das anders weiter: „…letzte Nacht warst du in deiner eigenen Welt / und noch nach dem Erwachen überzeugt / du hättest das alles erlebt …“

So wächst aus einem scheinbar ganz simplen Gedanken ein Stück Erkenntnis. Es wird etwas sichtbar, was in unserem Kopf sowieso die ganze Zeit passiert. Es denkt in uns, denkt immer schon ein bisschen weiter und dreimal um die Ecke. Wenn wir es zulassen und wahrnehmen, wirkt es skurril. Aber genau das kann unser Gehirn ja: Uns mit den ganze Seltsamkeiten unserer Welt-Wahrnehmung konfrontieren.

Eben noch war das banal und tendierte zu einem netten kleinen Naturgedicht: „Gegen Morgen / erwachten vom Gewitter die Vögel …“ Und dann meldet sich der kleine Tombola-Spieler, der in unserem Kopf die Assoziationen zum Sprudeln bringt. Und es geht ganz anders weiter: „… sie rieben sich die Augen und gähnten / steckten die Schäbel zusammen …“ („Verwundert“)

Zwischen erlaubt und verboten

Im Grunde zeigen geübte Dichter ihren Lesern nur, was sowieso ständig in unserem Gedanken-Kaufhaus passiert. Nur drücken es die Meisten weg, auch weil sie sich vor dieser irritierenden Zone zwischen Wachen und Traum fürchten. Da ist nichts wirklich geregelt (obwohl es bizarre und verführerische Regeln gibt), ist nichts markiert zwischen erlaubt und verboten. Die meisten Menschen halten diese Ungewissheit nicht aus. Und flüchten sich lieber ins fantasielose Missvergnügen. Und verschenken sich was. Sogar sehr viel.

Während poetisch begabte Menschen ihren Spaß haben, denn diese Gedanken hinter den Gedanken, die immer auf der Lauer liegen und sich fröhlich zu Wort melden, wenn man mal nicht aufpasst, sind das, was uns Dinge entdecken lässt. Manchmal steckt es einfach schon in den Worten, die uns da ins Bewusstsein sprudeln. Zum Beispiel in einer Kunstausstellung: „Bei den Alten Meistern / wo all die Sebastiane hängen / so seltsam unbeteiligt an ihrem Schicksal …“ („Bei den Alten Meistern“)

So macht auch der Rundgang durch eine Galerie wieder Spaß. Man muss nicht sehen, was von einem erwartet wird. Man darf das Ungewöhnliche wahrnehmen, das Verstörende. Wohl wissend: Unser ganzer Alltag ist eigentlich verstörend. Wir wollen es nur nicht wahrhaben, schließen Augen und Ohren. Und halten uns an die überall ausgeschilderten Regeln.

Nur nicht abschweifen. Oder träumen. Das wurde uns ja in der Schule schon aberzogen. Aber Leute wie Wilden halten sich – manchmal – nicht dran. Und lassen das Sprudeln zu. Etwa „Südlich Hassenort“, wo dem in Begleitung Wandernden auf einmal einfällt: „Ich hab dir Vineta versprochen / wir waten knöcheltief …“ Um am Ende zu fragen: „Was ist das für ein Ort / der seine Wiege / im Meer versenkt?“

Ungezähmte Gedanken

Es sind lauter Gedichte, die uns zeigen, wie das Verstörende und Seltsame eigentlich immer gegenwärtig ist, wenn wir unseren Gedanken nur das Schweifen erlauben, dem Schweifen folgen und Dinge bemerken, die unter der Oberfläche immer schon da waren. Nicht ganz greifbar, oft uneindeutig. Auch gern verwirrend am Rand. Wie der Koffer im Durchgang, der über die Tage zu wandern scheint („Reise“) oder die verwaschene Erinnerung an die Juri-Gagarin-Straße: „Der Tag taut auf / Hochhäuser werfen Fassaden ab …“

Die Poesie liegt ja in unserer Sprache. Viel dichter unter der Oberfläche, als es die meisten auch nur ahnen, die mit billig zusammengebastelten Romantik-Versen aufgewachsen sind und glauben, es ginge um Blümelein und Herzeleid. Die deutsche Romantik-Pflege hat viel Unheil angerichtet. Und den Blick auf die leise, allgegenwärtige Poesie verstellt.

Auf das wilde, betörende Leben in unseren ungezähmten Gedanken, wenn wir mal wieder völlig verträumt – wie Patrick Wilden – am Bahnsteig stehen. Oder im Zug sitzen, den Blick aus dem Fenster schweifen lassen: „Zehn Minuten Zugfahrt / bis Bautzen du zählst / die Bilder vorm Fenster zwingst / dich angesichts des Rapses / der zischenden Böschung nicht / zu verlöschen in deinem Sitz …“ („Zehn Minuten Zugfahrt“)

Das Sinnen ist immer auch ein Sich-Vergegenwärtigen. Sich selbst finden in einer Gegenwart, die wie eine Landschaft am Zugfenster vorbeirauscht. Nicht ganz real. In Bewegung, während man da sitzt und sich als stiller Betrachter wahrnimmt, als wäre man nicht ganz da.

Vor leeren Seiten

Jedes Gedicht ist wie eine Einladung zum Eintauchen in Momente, in denen man tatsächlich fühlen kann, dass unser Leben eigentlich ein Gedicht ist. Mit unerwarteten Ausgängen und überraschenden Einsichten. Entdeckungen, die wir nur machen, wenn wir dem Gewisper in unserem Kopf tatsächlich einmal Raum geben und zulassen, dass unser Leben ganz und gar kein langweiliger Fahrplan zwischen Anfang und Ende ist. „Zehn Minuten / oder länger / vor einer leeren Seite / sitzen/ die auf Erfüllung wartet …“

Ja, diese Ungeduld der leeren Seiten gibt es auch. Aber wer sagt denn, dass man ihr folgen muss? Dieses Gedicht („Arbeitsanweisung“) geht natürlich auch ganz anders aus. Wie eigentlich alles, was wir beginnen. Nur lassen das die Wenigsten so dicht an sich heran wie die Dichter. Obwohl wir alle diese zehn Minuten kennen. Zeit-Fenster ins Ungewisse, in denen wir uns fangen und finden können.

Einfangen, bevor der Zug einfährt und wir wieder ganz normale hektische Reisende werden. Und der Lärm und das Geschrei alles von der Tafel wischen, was uns eben noch durch den Kopf ging. Das Gefühl der Enttäuschung kennt jeder, der so aus seinen Gedanken gerissen wird. Und dann bitte zu funktionieren hat. Ohne poetische Abschweife.

In diesem Büchlein stecken jede Menge solcher Abschweife, Übungsmaterial für alle, die die kostbaren zehn Minuten auch einmal zu etwas anderem nutzen wollen, als zum Warten und Auf-die-Uhren-Starren.

Patrick Wilden „Zehn Minuten oder länger“, anderort – Verlag für Lyrik, Leipzig 2025, 14 Euro.

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