Erst der schleichende Lehrermangel, dann pandemiebedingte Umstellungen und seit März 2022 arbeiten sächsische Lehrerinnen und Lehrer nun auch noch daran, über 9.000 ukrainische Schüler in die Schulen zu integrieren. Dabei war und ist viel Eigeninitiative und Eigenregie gefragt, es gibt Unterschiede zwischen städtischem und ländlichem Raum. Die Belastung ist allerorten hoch und am Rande des Zumutbaren. René Michel, stellvertretender Vorsitzender des Sächsischen Lehrerverbandes (SLV) gibt einen Einblick in die Integration der neuen Schüler in Sachsen.

Herr Michel, wieder einmal liegt ein turbulentes Kalenderjahr hinter den sächsischen Lehrerinnen und Lehrern. Eine Hauptaufgabe war die Integration von rund 9.000 ukrainischen Schülern an sächsische Schulen. Welchen Rahmen hat das Kultusministerium für die Integration geschaffen?

Es gibt sachsenweit eine unterschiedliche Handhabe der Integration. Der Regelfall sieht vor, dass nicht-muttersprachliche Kinder in sogenannten Vorbereitungsklassen zunächst die deutsche Sprache erlernen und dann schrittweise in Regelklassen integriert werden. Beispielsweise zunächst in weniger sprachintensive Fächer wie Kunst, Musik und Sport und dann allmählich in die Hauptfächer. Das ist das sogenannte DaZ-Konzept, also Deutsch als Zweitsprache.

Da dieses Konzept nicht genügend Kapazität für die mittlerweile über 9.000 zusätzlichen Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine bietet, wurde seit März dieses Jahres zusätzliches pädagogisches Personal hauptsächlich aus der Ukraine eingestellt, welches bis Ende des letzten Schuljahres eigene Klassen mit diesen geflüchteten Kindern gebildet hat.

Dazu kam, dass an vielen Schulen, oft im ländlichen Raum aufgrund des Lehrermangels, aber auch weil es zu wenige Kinder betraf, keine VKA existieren und keine VKU gebildet werden konnten. (DAZ-Vorbereitungsklassen für Ausländer beziehungsweise Ukrainer / Anm. des Autors). Diese Kinder wurden einfach in vorhandene Klassen gesetzt, oft ohne jegliche deutsche Sprachkenntnisse …

Ist dieser Rahmen aus Ihrer Sicht gemessen an dem, was in dieser Krisensituation zu erwarten ist, in einem akzeptablen zeitlichen Rahmen geschaffen worden?

Sachsen war hier Vorreiter im Vergleich zu anderen Bundesländern. Auch die Anzahl der Stellen für ukrainische Lehrkräfte und pädagogischem Personal wurde mehrfach erhöht. Sicherlich hilft dies aber nicht darüber hinweg, dass vielerorts die Schulen neue Kinder beschulen mussten – ohne im Vorfeld darüber informiert zu werden.

Die Schüler waren eben einfach da und dann sollte etwas mit ihnen geschehen. Die Bewältigung dieser Situation ist größtenteils den Lehrerinnen und Lehrern, den Schülerinnen und Schülern, vielen Eltern und den dortigen Schulleitungen zu bescheinigen, denn abseits der beiden großen Städte war Eigeninitiative und Engagement vor Ort gefragt, wie so oft in der Vergangenheit.

Wie beurteilen Sie die politische Unterstützung bei der Integration der ukrainischen Schüler insgesamt?

Der Grundgedanke der Integration über die Sprache wurde stets vermittelt und oft an das Mitgefühl appelliert. Jenes hat sich im Vergleich zu 2016 deutlicher gezeigt. Bereits 2016 hatte vieles nicht in der Realität funktioniert, auch dieses Mal wurde viel geredet und als beispielhaft verkauft, die wirklichen täglichen Sorgen und Hürden hatten erneut andere zu meistern.

Wenn Medien sogar über einen längeren Zeitraum über eine sogenannte „Ukraine-Schule“ berichten und das Sächsische Kultusministerium dies nicht sofort dementiert, sagt das doch alles. Als eine völlig unpädagogische Maßnahme seitens der sächsischen Schulpolitiker sei die Aufstockung der VKA und VKU genannt.

28 Kinder in einem Raum, dabei gab es sogar 15 unterschiedliche Sprachen und Nationalitäten. Der Grund ist klar, es gibt niemanden, der diese Aufgabe übernimmt. Aber so etwas entscheidet doch jemand, der nicht wirkliche Integration als Ziel hat.

Schauen wir auf konkrete Praxis bei der Integration. Welche Rückmeldungen erhalten Sie aus der Praxis zum Verlauf?

Mancherorts lief es so ab, dass die ukrainischen Kinder nicht mit dem Regelsystem in Kontakt kamen und in abgeschlossenen Gruppen für sich gelernt haben. Ein Parallelsystem hat sich aufgebaut. Allerdings lief das auch nur an den Schulen, die bereits mit ukrainischen Lehrkräften beziehungsweise pädagogischen Personal ausgestattet waren.

Titelblatt der November-Ausgabe der LEIPZIGER ZEITUNG, LZ 108
Titelblatt der November-Ausgabe der LEIPZIGER ZEITUNG, LZ 108. Foto: LZ

Zum Beginn des Schuljahres wurden dann diese Kleingruppen an zentrale Schulen zusammengelegt. Beispielhaft war allerdings auch der Fall in Dresden, dass für rund 200 Kinder kein Schulplatz zur Verfügung stand und diese zu Beginn des Schuljahres in der Luft hingen.

Integration sollte allerdings auch darin bestehen, dass die Chance zum gemeinsamen Lernen eröffnet wird. Erfolgte ein „Hineinwerfen“ der ukrainischen Schüler in Regelklassen, dann waren diese mit dem Unterricht überfordert. Ohne jegliche Sprachkenntnis einem Thema zu folgen, Aufgaben zu lösen – eben sich adäquat zu verständigen, fällt niemandem leicht.

In Pausengesprächen erfolgten Gespräche in der Schülerschaft, aber bei allem offenen Aufeinanderzugehen, bleibt eben doch eine Sprachbarriere. Auch zwischen den Pädagogen war dies bemerkbar. Ein weiterer widersprüchlicher Aspekt waren die Aussagen der ukrainischen Konsulin zur Integration sowie die des Botschafters in Deutschland.

Die Integration war erfolgreich, wo sie von allen gewollt und uneingeschränkt gelebt wird. Zahlreiche Voraussetzungen sprechen aber oft dagegen.

Wo bestehen Hindernisse bei der Integration?

Wie bereits erwähnt, hindert uns der akute Lehrermangel, übervolle Klassen und es gab kein einheitliches Konzept zur Integration, fehlender oder nicht ausreichender digitaler Zugang in Schulen für Lernprogramme, Sprache, genügend richtige Lehrkräfte mit der Muttersprache der geflüchteten Kinder

Ergaben sich dennoch sich positive Beispiele?

Die Schülerinnen und Schüler konnten voneinander lernen und sich aufeinander zubewegen. Das hat auch zur Folge, dass sie sich in Englisch üben oder einen offenen Umgang miteinander lernen. Auch für die Lehrkräfte ergibt sich ein Austausch – eben ein Blick über den Tellerrand.

Welche Perspektive sehen Sie für die ukrainischen Schüler?

Wir hoffen, dass alsbald Frieden in der Ukraine herrscht und dann wieder mehr Perspektiven offenstehen. Derzeit können ukrainische Schülerinnen und Schüler durch eine Ausnahmeregel ihren Schulabschluss per Digitalunterricht bei uns ablegen. Das ist ein guter Schritt.

Allerdings bleibt hier fraglich, wie lange die ganze Situation so tragbar ist. Denn wer an unserem Schulsystem teilnimmt, soll auch nach dessen Regeln lernen. Denn alle Schülerinnen und Schüler haben gleiche Bedingungen verdient.

Inwieweit wäre eine schulpsychologische Unterstützung bei der Integration aus Ihrer Sicht notwendig und sinnvoll?

Notwendig und sinnvoll wäre diese, denn Traumata durch die Kriegserfahrungen sind nicht wegzudenken. Allerdings sind die schulpsychologischen Dienste ebenso an der Kapazitätsgrenze, beziehungsweise fehlt das Personal. Bereits jetzt gibt es monatelange Wartelisten. Jetzt kommen weitere hunderte Schülerinnen und Schüler dazu.

Ohnehin schon aufgrund des Personalmangels und durch die pandemiebedingten Einschränkungen waren sächsische Lehrkräfte belastet. In welchem Maße stellt diese zusätzliche Aufgabe auch eine zusätzliche Belastung für die Lehrerkollegien dar?

Die Belastung besteht darin, dass eine zusätzliche Komponente, den ohnehin schon vielschichtigen Anforderungen des Unterrichts hinzugefügt wird. Übersetzungen sind notwendig, beispielsweise von Arbeitsblättern, damit die ukrainischen Schülerinnen und Schüler dem Unterricht unter gleichen Bedingungen folgen können.

Sprache im Unterricht muss natürlich verlangsamt werden, damit alles verstanden wird. Auch die Kommunikation unter den Kollegen verändert sich, Russischkenntnisse sind von Vorteil oder eine Übersetzungs-App. Das kostet Zeit und Nerven.

Unser Schulsystem war bereits vor dem Ausbruch des Ukrainekrieges am Limit, fehlende Lehrkräfte, geplanter Unterrichtsausfall, Kürzung von zahlreichen Fächern und ein Angleichen vom Niveau sind längst Tagesgeschäft. Der Großteil der Lehrkräfte ist 55 Jahre und älter, also weniger belastbar, mehr anfällig und oftmals bereits am Ende des Zumutbaren.

Das, was diese Lehrkräfte in den letzten Jahren aufgebaut und geschaffen und bis jetzt bewahrt haben, ist beispiellos. Auch jetzt leisten diese Lehrerinnen und Lehrer wieder Enormes, vieles davon zusätzlich nebenbei. Dazu kommen übervolle Klassen mit Integrationskindern, was zum Teil die Situation an Sachsens Schulen weiter verschärft.

Die meisten Aufgaben sind dabei in Eigenregie zu organisieren und zu leisten, die eigene Gesundheit wird dabei oft ausgeblendet.

„Integration in Zeiten des Ukraine-Krieges: ‚Die sächsischen Lehrerinnen und Lehrer leisten Enormes‘“ erschien erstmals am 25. November 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 108 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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