Für FreikäuferLZ/Auszug aus Ausgabe 57Es ist der 20. Juli vor 100 Jahren. Das Kriegsgeschehen an der Westfront spielt sich dort ab, wo schon 1914 Geschichte geschrieben wurde. „Das Wunder von der Marne“, wie es die Franzosen nannten, verhinderte das Gelingen des deutschen Schlieffen-Plans. Die erste deutsche Großoffensive war gescheitert. Fast vier Jahre später kämpfen die Kriegsparteien im Westen immer noch. Zu Hause, in Leipzig, schreiben die Zeitungen nun von einer "Sommerdefensive".

Russland ist nach dem Diktatfrieden von Brest-Litowsk am 3. März 1918 aus dem Krieg ausgeschieden. Das gab dem Deutschen Reich die Möglichkeit, die freigewordenen Truppen gen Westen zu schicken, wo vor der vollen Entfaltung der US-amerikanischen Stärke eine endgültige Entscheidung herbeigeführt werden sollte.

Aufmerksam von den heimischen Zeitungen beobachtet, ist aus der Frühjahrsoffensive nun eine „Sommerdefensive“ geworden. Seit ein paar Tagen haben die Alliierten die Initiative ergriffen. Bei der Schlacht an der Marne werden fast 300.000 Menschen sterben. Über eine viertel Million Tote, um danach festzustellen, dass sich die Front letztlich nicht groß verändert hat.

Die Heeresberichte des „Leipziger Tageblattes“ im Juli 2018 lassen immerhin zwischen den Zeilen erkennen, dass die Lage nicht mehr ganz so super ist, wie es sonst immer zu lesen war, es geht langsam aber sicher bergab.

„Heeresgruppe Deutscher Kronprinz. Zwischen Aisne und Marne nahm die Schlacht ihren Fortgang. Von neuem setzt der Feind zum Durchbruch auf der ganzen Kampffront an. Panzerwagen drangen am frühen Morgen in Teile unserer Linien ein. Nach erbittertem Kampf war gegen Mittag der erste Stoß des Feindes auf den Höhen südwestlich von Soissons zum Scheitern gebracht.“ Das hört sich aus damaliger Sicht gut an.

„Die von Fliegern im Anmarsch auf das Schlachtfeld gemeldeten und von ihnen wirksam bekämpften feindlichen Kolonien kündeten Fortführung der Angriffe an. Sie erfolgten gegen Abend nach stärkster Feuersteigerung.“

Aber noch sind wir das Deutsche Reich. „Zwischen Aisne und Ourcq brachen sie in unseren Gegenstößen südlich des Ourq meist schon im Feuer zusammen. Nördlich von Hariennes warfen wir den Feind über seine Ausgangslinien hinaus zurück. Die Truppe meldet schwerste Verluste des Feindes. Eine große Anzahl von Panzerwagen liegt zerschossen von unserer Front.“

Man kann sich direkt vorstellen, wie die Menschen an der Heimatfront diese Berichte, aus der Zeitung oder an den Polizeiwachen ausgehängt, aufsogen und dabei vielleicht auf- und abtippelten in der Hoffnung, der Bericht würde gut ausgehen.

Außerdem werden in diesen Berichten Helden erschaffen. In den Schlusszeilen heißt es: „Gestern wurden wiederum 30 Flugzeuge und sieben Fesselballons abgeschossen. Leutnant Löwenhardt errang seinen 40. und 41., Leutnant Menkhoff seinen 30., Hauptmann Berthold seinen 39., Oberleutnant Lörzer seinen 27., Leutnant Jacobs seinen 24. und Leutnant Könneke seinen 22. Luftsieg.“ Fesselballons wurden damals zur Übersicht über das Schlachtfeld benutzt. Sie waren mit einem Seil am Boden befestigt.

Die Berichte werden durch positive Zeitungsmeldungen zur deutschen Kriegstaktik aus dem Ausland abgerundet. Denn nichts ist so verpönt wie ein wirklich kritischer Blick auf die Front.

Deutschland ist praktisch eine Militärdiktatur

Im Juni 1918 sollten die Deutschen ihren Goldschmuck für den Sieg abgeben. Nun erscheint eine Übersicht über die Steuerleistung der Deutschen während des Krieges und damit auch für die Armee. Der Reichstag bewilligt noch am 20. Juli vier Milliarden neuer Steuern. Den Gesetzesentwurf hat er nicht eingebracht. Er hat nur für die uninteressanten, unwichtigen Fragen der Zeit Einbringungsmöglichkeiten.

Kaiser und Reichskanzler geben die Politik vor. Wilhelm I, der erste deutsche Kaiser im zweiten Kaiserreich, hat Bismarck in innenpolitischen Dingen im Wesentlichen freie Hand gelassen. Erst als Wilhelms Enkel Wilhelm II den Thron von Friedrich III im Jahr 1888 übernahm, änderte sich die Innenpolitik. „WII“ führte ein „persönliches Regiment“ und ließ Bismarck 1890 ziehen.

„Der Alte aus dem Sachsenwald“ mischte sich fortan nur als moralische Stimme dann und wann im Reichstag ein. WII diktierte nun die Politik, der Reichstag hatte ihm zu folgen. Im Ersten Weltkrieg verliert aber auch der Kaiser immer mehr an politischer Macht. De facto ist Deutschland nun eine Militärdiktatur und deren Erfolg steht und fällt mit dem Erfolg im Felde. Kein Wunder also, dass diese Steuern bewilligt werden. Gleichzeitig wird eine Art Steuer-Bilanz der Deutschen veröffentlicht.

„Der im Jahre 1913 beschlossene und in den Kriegsjahren erhobene einmalige Wehrbeitrag hat dem Reiche eine außerordentliche Einnahme von etwa einer Milliarde gebracht. Die Während des Krieges beschlossene Besitzsteuer hat nach den Ermittelungen vom 31. Dezember 1916 294 Millionen ergeben. Außerdem hat zu demselben Zeitpunkt die Kriegssteuer mehr als 5 ½ Milliarden gebracht.“ Und in dieser Rechnung sind die gezeichneten Kriegsanleihen noch gar nicht dabei.

Im Juni hatten die Deutschen pro Kopf schon mehr als 1.000 Mark an Anleihen gezeichnet. Sie werden ihr Geld nicht wiedersehen und spätestens mit der Hyperinflation im Jahr 1923 ihr Vertrauen in den Staat größtenteils verlieren.

Und erste Vorboten auf eine Inflation gibt es schon. Der Bundesrat berät zu der Zeit über die Hinaufsetzung der Einkommensgrenze für die Angestellten-Versicherung. „Mit Rücksicht darauf, daß die Gehälter zahlreicher Angestellten infolge der Entwertung des Geldes erheblich erhöht sind, ohne daß dadurch eine Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse eingetreten ist, haben verschiedene Verbände von Angestellten an den Reichstag und die Reichsregierung Anträge auf Erhöhung der Einkommensgrenze gerichtet.“

Ein wirklich grausamer Feind steht vor den Toren der Stadt

Denn die Spanische Grippe hat Anfang Juli 1918 auch Leipzig erreicht. Bis 1920 wird die Pandemie über 50 Millionen weltweit töten. In Leipzig ist die Lage noch ruhig, wie das Gesundheitsamt berichtet. Ein paar Tipps sollte man trotzdem beachten.

„Manche Fälle verlaufen jedoch schwerer, vor allem wenn sie mit Lungenentzündung verbunden sind und haben einige Male sogar zum Tode geführt. Namentlich jüngere Leute in den 20er Jahren sind gefährdet, meistens aber dann wenn sie die Erkrankung nicht beachten und weiter arbeiten. Es ist dringend notwendig, daß in jedem Falle, auch bei nur leichtem Unwohlsein sofort die Temperatur des Kranken gemessen wird. Und dass man bei geringstem Fieber, auch schon bei 38 Grad den Kranken von der Arbeit zurückhält und einen Arzt hinzuzieht. Besonders gefährlich ist es, wenn solche Kranke weiter arbeiten, weil dadurch der Hinzutritt von schweren Krankheiten gefördert wird.“

Derweil ist laut „Leipziger Tageblatt“ die Kritik an Polizisten gewünscht, aber sie möchte bitte im Leserbrief an die Zeitung korrekt und konkret sein.

„Da wird zum Beispiel behauptet, zwei Schutzleute in voller Uniform hätten auf dem Vorderposten eines Straßenbahnwagens gestanden und rauchende Jungen gewähren lassen, ‚um sich mit ihnen nicht anzulegen‘. Jeder einigermaßen Urteilsfähige wird und muß sich sagen, daß mit solchen unbestimmten Angaben die Behörde nichts anzufangen weiß, weil die Beamten ohne Bezeichnung der Nummer auf ihren Achselstücken selbstverständlich nie zu ermitteln sind. Wer also die Mühe nicht scheut, seine Wahrnehmungen für die Presse…“ und nicht etwa zuerst für die Polizei „…zu Papier zu bringen, der möge sich auch gleich die kleine Mühe nehmen, die Nummer des Polizeibeamten anzugeben, dem er ein unkorrektes Verhalten Schuld geben zu können meint. Und dies auch darum, weil er sich so selbst vor der Vermutung der Erfindung oder Uebertreibung schützt.“

Interessant jedoch: es gab demnach einst eine „Kennzeichnungspflicht“ für die Polizeibeamten. Etwas, wogegen sich heute heftig seitens des sächsischen Innenministeriums gewehrt wird.

An der Heimatfront wird indes nicht nur gearbeitet oder unter den Augen der Polizei jugendlich geraucht. Es wird auch geturnt oder besser gesagt: Es soll geturnt werden. „Auf Anregung des sächsischen Kreisturnrats findet für die Gaugruppe Leipzig in den Monaten September und Oktober und zwar sonntags von früh 7 Uhr ab, ein Lehrgang für Frauenturnen statt. Anmeldungen zur Teilnahme sind unter Angabe des Namens, Alters, Vereins und der Wohnung bis zum 18. August an Gauturnwart Heinrich Goldstein, Leipzig-Volkmarsdorf, Mariannenstraße 91 einzureichen.“

Für Menschen, die von Militärmusik auch gegen Ende des Weltkrieges noch immer nicht genug haben, sei gemeldet: „Die militärische Platzmusik wird am Sonntag, den 21. Juli, von 11 ½ bis 12 ½ Uhr auf dem Rondell Kickerlingsberg gegenüber der Ehrensteinstraße von der Kapelle 1 Ers-Batl. I.-R. 106 ausgeführt.“

Teil 2 erscheint am 2. August 2018.

Bereits erschienene Zeitreisen durch Leipzig auf L-IZ.de

Der Leipziger Osten im Jahr 1886

Der Leipziger Westen im Jahr 1886

Westlich von Leipzig 1891

Leipzig am Vorabend des I. Weltkrieges 1914

Einblicke in die Jüdische Geschichte Leipzigs 1880 bis 1938

Leipzig in den „Goldenen 20ern“

Alle Zeitreisen auf einen Blick

Zeitreise “Vor 100 Jahren”: Der Juni 1918 in Leipzig

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In der LZ 57: NSU-Prozess, Halberg Guss, Flohmarkt, Weltkrieg und der lange Schatten der Treuhand

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