Für FreikäuferLEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 69, seit 19. Juli im HandelEr scheint noch einmal davongekommen zu sein. Dabei schien sein politisches Schicksal besiegelt. Doch Anfang Juli 1953, keine drei Wochen, nachdem sowjetische Panzer die Diktatur gegen den Aufstand am 17. Juni retteten, wittert SED-Generalsekretär Walter Ulbricht Morgenluft. Sowjetdiktator Stalin war gestorben, die neuen Machthaber in Moskau lassen den ersten Mann in ihrem ostdeutschen Teilstaat nicht fallen – trotz aller Vorwürfe, er sei für die desaströse Situation verantwortlich.

Mit Rückendeckung des Kreml bläst Ulbricht zum Angriff auf seine Feinde im Politbüro, der DDR-Führungsriege. In jenen Sommertagen scheint seine Entmachtung in Greifweite. Zu Recht werfen innerparteiliche Gegner dem Generalsekretär einen selbstherrlichen Führungsstil vor, der zu Frust, Duckmäusertum und Versteinerung geführt hatte.

Am deutlichsten wird Elli Schmidt, Vorsitzende des Demokratischen Frauenbundes: „Der ganze Geist, der in unserer Partei eingerissen ist, das Schnellfertige, das Unehrliche, das Wegspringen über die Menschen und ihre Sorgen, das Drohen und Prahlen – das erst hat uns so weit gebracht, und daran, lieber Walter, hast du die meiste Schuld, und das willst du nicht eingestehen, dass es ohne alledem keinen 17. Juni gegeben hätte.“ Wie konnte es so weit kommen?

„Kind einer revolutionären Arbeiterfamilie“

Nichts davon ist vorhersehbar, als Ulbricht am 30. Juni 1893 in der heutigen Gottschedstraße 25 auf die Welt kommt. Das Elternhaus liegt im Naundörfchen, einem seit dem Mittelalter bekannten Siedlungsgebiet westlich des Leipziger Stadtkerns. Die Gegend gilt als Arbeiterviertel mit zwiespältigem Ruf. DDR-Hagiographien nennen Ulbricht „Kind einer revolutionären Arbeiterfamilie.“

Das stimmt so nicht. Zwar sympathisierte sein Vater Ernst August mit den Sozialisten, war Mitglied der linken SPD-Abspaltung USPD und später der kommunistischen KPD, scheint aber keine größere Rolle in der Parteigeschichte gespielt zu haben. Das Einkommen der Eltern als Schneider reicht gerade, um die am Ende fünfköpfige Familie zu ernähren.

Nach Walter werden 1900 und 1901 noch ein Junge und ein Mädchen geboren. Ulbricht-Biograph Mario Frank beschreibt den Hintergrund der Ulbrichts als „eher kleinbürgerlich.“ Unstrittig ist, dass der Vater seinen erstgeborenen Spross auf politische Veranstaltungen mitnimmt, etwa zu Reden von August Bebel. Auch Sonntagsausflüge in die Natur stehen auf dem Familienprogramm.

1899 wird Ulbricht eingeschult. In der Klasse gilt er als verschlossen und kontaktscheu, er hat nur wenig Freunde, wird wegen seiner Herkunft aus einer „roten“ Familie gehänselt. Frühe Fotos zeigen das Kind und den Teenie mit ernstem, steifem Gesichtszug. So werden ihn später auch Parteigänger wahrnehmen: hölzern, grob, unfähig zur Entspannung, fanatisch auf die Arbeit fixiert. Doch hinter der linkischen Fassade aus sächsischem Dialekt und hoher Fistelstimme verbirgt sich ein Machtgespür, das Ulbrichts Gegner noch schmerzhaft erfahren.

Schreiner, Sportler, Strippenzieher

Ulbricht beginnt 1907 eine Tischlerlehre, tritt einem Verein bei, wo er sich für klassische Literatur und Musik begeistert, keinen Vortragsabend, keinen Museums- und Theaterbesuch verpasst. Lernbegierig saugt er Neues auf, macht mit Fleiß das wett, was ihm an Ausstrahlung fehlt. Jeden zweiten Sonntag, wenn keine Berufsschule ist, turnt er an Barren und Bock. Nach Ende der Lehrzeit geht er 1911 traditionsgemäß auf die Walz, die ihn durch Deutschland, Österreich, Italien, die Schweiz, Holland und Belgien führt.

Nach der Heimkehr folgen seine SPD-Mitgliedschaft 1912, der zwangsweise Fronteinsatz im Ersten Weltkrieg, an dessen Ende er desertiert, verhaftet wird, wieder fliehen kann. Das Kriegsende kommt einer weiteren Bestrafung zuvor. Ulbricht wird 1920 KPD-Mitglied. Finanziell schlägt er sich in Leipzig mit Gelegenheitsjobs durch, kurzzeitig sogar als Gemüsehändler. Doch er ist kein Verkäufer-Typ. Parteigenossen bestaunen seine eiserne Arbeitsdisziplin, sein beflissenes Organisationstalent. Menschlich aber ist er kalt und abweisend, lässt kaum jemanden an sich heran.

Selbst für die erste Ehefrau Martha Schmellinsky, mit der er kurz in der Geißlerstraße 2 zusammenlebt, und die 1920 geborene Tochter bleibt ihm kaum Zeit. Später trennen sich die Wege. Die Tochter zieht nach Lübeck, Martha stirbt 1974 in einem Leipziger Pflegeheim. Sie sahen Ulbricht nie wieder. Vor seiner Heirat mit SED-Funktionärin Lotte Kühn wird er noch mindestens eine Beziehung haben.

Mitte der Zwanziger wird er für die kommunistische Internationale tätig, reist nach Moskau, Wien und Prag. 1926-1929 ist er Landtagsabgeordneter in Sachsen, 1928 schafft er es in den Reichstag. 1933 schreiben ihn die Nationalsozialisten steckbrieflich aus, im Herbst 1933 flieht Ulbricht aus der Berliner Illegalität Richtung Paris, später Prag, wo er die Exilarbeit der Kommunisten leitet. 1938 wechselt er nach Moskau, überlebt die Säuberungen Stalins, wirbt an der Front um abtrünnige deutsche Soldaten.

Am 30. April 1945, dem Tag von Hitlers Suizid, kehrt er an der Spitze einer Gruppe deutscher Exilkommunisten ins zerstörte Deutschland zurück, um die Machtübernahme im sowjetisch besetzten Teil zu leiten. Sein wohl zweitberühmtester Satz „Es muß demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben“, zugeschrieben vom damaligen Mitstreiter Wolfgang Leonhard, fällt in diese Zeit. Stalin kann sich auf ihn verlassen.

Mao, Bulganin, Stalin, Ulbricht und Tsedenbal 1949 zum 71. Geburtstag Stalins in Moskau versammelt. Foto: wiki, Gemeinfrei
Mao, Bulganin, Stalin, Ulbricht und Tsedenbal 1949 zum 71. Geburtstag Stalins in Moskau versammelt. Foto: wiki, Gemeinfrei

Terror und Traum

Am 7. Oktober 1949 geht Ulbrichts Ziel in Erfüllung – mit Gründung der DDR wird der Sozialismus auf deutschem Boden errichtet. Vier Tage später wählt der Volksrat, ein pseudo-parlamentarisches Gremium, Wilhelm Pieck zum Staatspräsidenten und Otto Grotewohl zum Ministerpräsidenten der DDR. Nun werde die „Selbstbestimmung des deutschen Volkes zum ersten Mal in ganzem Umfang hergestellt“, verkündet Erich Honecker euphorisch, Vorsitzender der Jugendorganisation FDJ. 200.000 ihrer Mitglieder marschieren mit Fackeln an der Staats- und Parteiführung vorbei.

Davor lag die Besatzungszeit – mehr als vier Jahre des mühsamen Neubeginns, brüchiger Normalisierung des Alltags, „Säuberungen“ und brutaler Repression. Geschätzt 150.000 – 200.000 Menschen werden wegen vorgeblicher oder tatsächlicher NS-Belastung oder Kritik an Missständen in Speziallagern der Besatzungszone interniert, die den sowjetischen Geheimdiensten unterstanden. Viele sterben an Hunger und Krankheiten.

Außenpolitisch entfremden sich die Alliierten der Anti-Hitler-Koalition immer mehr. Sowjetdiktator Stalin taktiert, setzt vermutlich auf ein entmilitarisiertes Gesamtdeutschland als Pufferzone. Erst mit Gründung der Bundesrepublik im Mai 1949 gibt er seinen Vasallen grünes Licht, den ostdeutschen Teilstaat zu errichten.

Die fünfziger Jahre stehen im Zeichen des aggressiven Neuaufbaus. Das formale System mit Parlament und Parteien soll darüber hinwegtäuschen, dass de facto die SED, 1946 aus der Zwangsvereinigung von KPD und SPD hervorgegangen, die Zügel in der Hand hält, im Auftrag der Sowjets über die Besetzung von Posten bestimmt. Gesellschaft, Ökonomie und Politik werden dem östlichen Vorbild angeglichen – im Sinne des Versprechens, eine bessere Gesellschaftsordnung aus Frieden, Antifaschismus und sozialer Sicherheit zu haben.

Im Juli 1950 wird Ulbricht SED-Generalsekretär. Der Personenkult um Stalin treibt groteske Blüten. Wer etwas erreichen will, muss sich bizarren Ritualen unterwerfen. Die DDR-Führung tut alles, um sich als Bollwerk gegen den Westen zu profilieren. Denn noch immer erscheint eine Einigung der Siegermächte in der Deutschlandfrage nicht vom Tisch.

Die „Stalinnote“ vom März 1952, die ein entmilitarisiertes und neutrales Deutschland vorsieht, ist am Ende kaum mehr als ein Moskauer Störfeuer, das die Integration von Adenauers Bundesrepublik in die westliche Staatenallianz nicht aufhält. Doch könnte sie als Indiz gelten, dass Stalin 1952 noch an eine Einigung glaubt. Ohne Zweifel wäre die Geschichte dann anders verlaufen.

Klassenkampf und Krisenstimmung

Die forcierte Umgestaltung der DDR und eine ideologische Offensive gehen Hand in Hand. Im Juli 1952 verkündet Ulbricht den „planmäßigen Aufbau des Sozialismus.“ Die Länder werden in Verwaltungsbezirke überführt, der Aufbau der Schwerindustrie beschlossen und die Landwirtschaft in Teilen kollektiviert. Schikanen und Terror, die die Menschen zur Erfüllung der Planvorgaben treiben sollen, machen nirgendwo Halt. 1953 wird der frühere Außenminister Georg Dertinger verhaftet und wegen „Boykotthetze“ zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt.

Auch wenn er und andere Betroffene in der DDR mit dem Leben davonkommen, anders als in der Sowjetunion, Ungarn oder der Tschechoslowakei, macht das ihr Leiden, ihre Demütigung nicht kleiner. Dertinger wird nach über elf Jahren begnadigt, stirbt 1968 in Leipzig.

Nach dem Tod Stalins im März 1953 brechen in Moskau die Diadochenkämpfe aus. Die neue Führung fordert von der SED die Rücknahme des Drucks auf die Menschen. Daraufhin gesteht das Politbüro der Bevölkerung Fehler ein, hält jedoch an erhöhten Arbeitsnormen fest.

Das bringt das Fass zum Überlaufen. Am 17. Juni 1953 und den Folgetagen kommt es in hunderten DDR-Städten zum Protest. Auch nach Einheit, freien Wahlen und dem Rücktritt der Regierung wird gerufen. Sowjetische Panzer walzen den Aufstand nieder, über fünfzig Menschen verlieren ihr Leben. Die Westmächte greifen nicht ein. Mindestens fünf Personen werden standrechtlich erschossen, weitere zwei nach Schauprozessen exekutiert. Von den bis 1955 1.800 Verurteilten werden die meisten mit wenigen Jahren Gefängnis eher milde bestraft. Das Regime will ein Zeichen setzen.

Bis 1989 wird die SED mit Blick auf den 17. Juni die Mär einer „faschistischen Provokation“ pflegen. Real zeigt sich, dass die Arbeiterschaft über vier Jahre nach Gründung der DDR kaum erreicht wird. Hoffnungen auf Sozialdemokratie, Antistalinismus und einen „Dritten Weg“ brechen hinter der Fassade auf. Die SED bemüht sich danach um verbesserte Sozialleistungen, mehr Konsumgüter. Unterdrückung allein sichert die Herrschaft nicht – so das Kalkül.

Auf dem Weg zur vorsichtigen Normalität

Walter Ulbricht, intern für die Misere verantwortlich gemacht, zieht seinen Kopf aus der Schlinge. Mit politischem Killerinstinkt holt er zum Schlag gegen Rivalen aus, die an seinem Stuhl sägen, denen es aber letztlich an Entschlossenheit und Rückhalt in Moskau fehlt. 1954 fliegen Staatssicherheitsminister Wilhelm Zaisser und Rudolf Herrnstadt, Chefredakteur der Zeitung „Neues Deutschland“, wegen „parteifeindlicher Tätigkeit“ aus der SED. Herrnstadt wird seine restlichen zehn Lebensjahre als Angestellter im Zentralarchiv Merseburg fristen. Er hatte eine Lungentuberkulose knapp überlebt. Nun wird er dorthin verbannt, wo die größten Chemiebetriebe des Landes, Buna und Leuna, die Luft verpesten. Ulbricht weiß davon.

1955 wird die DDR formal souverän und ist über zehn Jahre nach Kriegsende fest ins östliche Machtbündnis integriert. 1956 rechnet der sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow in einer Rede mit den Verbrechen Stalins ab. Schockiert muss sich die SED dem neuen Kurs beugen. Ulbricht verkündet im „Neuen Deutschland“ lapidar, Stalin sei kein Klassiker des Marxismus-Leninismus. Politische Häftlinge werden entlassen, geschasste Ulbricht-Gegner wie Elli Schmidt oder Anton Ackermann rehabilitiert, ohne dass sie ihren alten Einfluss zurückgewinnen.

Mit der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands im Herbst ziehen die Repressionsschrauben erneut an. Intellektuelle wie Wolfgang Harich und Walter Janka, die den Kontrast von Versprechen und Realität in der DDR anprangern, verschwinden für Jahre hinter Zuchthausmauern. Diskussionen über einen „Dritten Weg“ bleiben unter Ulbricht tabu.

Ende der Fünfziger kehrt etwas Ruhe ein. Lebensmittelmarken verschwinden, Polikliniken, Kinderhorte und Ferienheime sind als Angebote des Systems akzeptiert. Ulbricht will die Bundesrepublik beim Konsum überholen. Die Zahl der Menschen, die der DDR den Rücken kehrt, erreicht 1959 mit 144.000 einen Tiefstand. Doch sie schwillt wieder an, als die SED erneuten Druck auf die Bauern zur Kollektivierung ausübt. Die Versorgung gerät ins Stocken.

Im Frühsommer 1961 verstärken sich Gerüchte, wonach die SED Maßnahmen plant, um die anwachsende Fluchtbewegung zu stoppen. Sie sollen recht behalten.

Lesen Sie hier den Teil 2: Zwischen „Walterchens Wirtschaftswunder“, ein wenig Wohlstand und Wahnsinnsvisionen: Die sechziger Jahre in der DDR.

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