Bei einer Gedenkveranstaltung zum 9. November ist der DDR-Bürgerrechtler und Grünen-Politiker Werner Schulz gestorben. Außerdem hat Leipzigs Stadtrat Heiko Bär seinen SPD-Austritt bekannt gegeben und in Leipzig wurden heute Stolpersteine geputzt und an die Reichspogromnacht erinnert. Die LZ fasst zusammen, was am Mittwoch, dem 9. November 2022, in Leipzig, Sachsen und darüber hinaus wichtig war.

Der 9. November – Deutscher „Schicksalstag“?

Der heutige 9. November wird oft als „Schicksalstag der Deutschen“ bezeichnet, auch wenn nicht alle diese Bezeichnung angemessen finden. Zu kitschig, zu passiv oder gar irreführend lautet die Kritik von verschiedenen Seiten. Neben der Debatte um die Benennung des Tages wird seit Jahren über die angemessene Gedenkform diskutiert. Einige Historiker/-innen wünschen sich, dass der 9. November zum deutschen Nationalfeiertag wird.

Gleich fünf historische Ereignisse der jüngeren deutschen Geschichte fallen auf den 9. November: 1918 rief der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann die „deutsche Republik“ in Berlin aus, wenig später proklamierte der Sozialist Karl Liebknecht erfolglos die „freie sozialistische Republik Deutschland“. 1923 scheiterte Adolf Hitler mit seinem Putschversuch in München.

1938 läutete die Reichspogromnacht die Novemberpogrome ein, bei denen die Nazis systematisch Synagogen, jüdische Geschäfte und Wohnungen zerstörten und Jüd/-innen deportierten oder direkt ermordeten. Ein Jahr später, am 9. November 1939, scheiterte Georg Elser knapp bei seinem Versuch, Adolf Hitler im Münchner Bürgerbräukeller zu töten. Und schließlich fiel am 9. November 1989 die Mauer.

DDR-Bürgerrechtler Werner Schulz überraschend gestorben

Über eine angemessene Gedenkform für den 9. November wurde heute auch auf einer Tagung im Berliner Schloss Bellevue unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nachgedacht. Dabei kam es zu einem tragischen Vorfall: Der DDR-Bürgerrechtler und Grünen-Politiker Werner Scholz verstarb während der Veranstaltung.

Er sollte vor Ort eine Rede halten, verließ kurz zuvor aber den Großen Saal im Schloss Bellevue und brach zusammen. Reanimationsversuche – unter anderem vorgenommen durch den Präsidenten des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, der Arzt ist – scheiterten. Steinmeier beendete die Tagung aufgrund des Vorfalls vorzeitig.

Werner Schulz wurde 72 Jahre alt. Der gebürtige Zwickauer engagierte sich zu DDR-Zeiten in der Opposition und gründete 1989 das „Neue Forum“ mit. Von 1990 bis 2005 saß Schulz für die Grünen im Bundestag, später im Europaparlament.

Bundesweite Trauer nach Schulz‘ Tod

Der Tod von Werner Schulz löste heute deutschlandweit Trauer aus. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) sprach davon, dass mit dem heutigen Tag „eine wichtige Stimme der deutschen Demokratie“ verstumme. Bundestags-Vizepräsidentin Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) würdigte Schulz‘ Engagement für Bürgerrechte.

„Er konnte wie kein anderer den Totalitarismus des SED-Regimes und den Unterschied zur Demokratie und Rechtsstaatlichkeit begreifbar machen“, ließ Roth über Twitter verlauten. „Seine Stimme und aufrüttelnde Einmischung werden fehlen. Ich bin traurig über seinen frühen Tod und meine Gedanken sind bei seinen Angehörigen und Freunden.“

Auch in Leipzig wurde heute um Werner Schulz getrauert. „Auch ich bin tief betrübt über den Tod von Werner Schulz“, so Grünen-Stadträtin Monika Lazar heute. Sie sei besonders in den 1990er Jahren „so manches Mal“ nicht seiner Meinung gewesen, doch gerade deshalb werde ihr Werner Schulz „mit seiner Geradlinigkeit, seinen Erfahrungen und seinen historischen Verdiensten“ fehlen.

Gedenken an Opfer des Nationalsozialismus im ganzen Stadtgebiet

In Leipzig wird seit vielen Jahren am Synagogen-Denkmal in der Gottschedstraße an die antisemitische und rassistische Reichspogromnacht erinnert, so auch heute. Die Städträt/-innen unterbrachen ihre Sitzung, um am frühen Abend am ehemaligen Standort der Großen Gemeindesynagoge Kränze aufzustellen und innezuhalten.

In der Nacht vom 8. auf den 10. November 1938 wurde die 1855 geweihte Synagoge angezündet und zerstört. Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) eröffnete die heutige Gedenkveranstaltung mit einer Rede. Auf seiner offiziellen Facebook-Seite mahnte Jung heute, die Gewaltverbrechen der Nazis gegen die jüdische Bevölkerung niemals zu vergessen.

Auch auf dem Richard-Wagner-Platz wurde heute der Opfer der Novemberpogrome gedacht. Der Leipziger Arbeiter/-innen-Chor trug unter anderem jüdische Lieder vor. Außerdem wurden heute verteilt im ganzen Stadtgebiet sogenannte Stolpersteine geputzt, die an Menschen erinnern sollen, die von den Nazis verfolgt und ermordet wurden. Unter anderem putzten Schüler/-innen der Neuen Nikolaischule heute Stolpersteine in der Innenstadt, um an die jüdische Familie Rafe zu erinnern.

Haus der Demokratie lädt „Montagsspaziergänger/-innen“ zum Stolpersteinputzen ein

Besagte Familie wohnte zeitweise in der Hainstraße 31, wo heute das Bekleidungsgeschäft „Primark“ untergebracht ist. Dort erinnern – wie an vielen anderen Stellen in Leipzig und europaweit – seit 2016 mehrere goldfarbene Messingplatten, in Beton eingegossen und in den Boden eingelassen, an die Verfolgung der Familie im Nationalsozialismus. Nur fünf Mitglieder des vierzehnköpfigen Familienverbandes überlebten den Holocaust.

Die Schüler/-innen polierten die Steine heute und legten Rosen nieder. Unter Gitarrenbegleitung eines Schülers wurde der jüdischen Familie gedacht und die Biografie der vierzehn Familienmitglieder verlesen.

Auch vorm Haus der Demokratie in der Bernhard-Göring-Straße putzten Engagierte heute Stolpersteine. Im „Dritten Reich“ wurden in dem Gebäude Kinder von politisch Gefangenen und Nicht-Deutschen „umerzogen“. Mindestens sechs Kinder wurden von dort aus in „Euthanasie“-Anstalten gebracht, beispielsweise ins ostsächsische Großschweidnitz und nach Pirna-Sonnenstein, fünf davon kurz darauf getötet.

Seinen Aufruf zum Stolpersteinputzen und zur Mahnwache richtete das Haus der Demokratie heute auch gezielt an die Leipziger „Montagsspaziergänger/-innen“. „Alle montäglichen Fackelläufer sind herzlich zur Führung und zum Putzen eingeladen“, schrieb der Verein auf Twitter. „Wir erzählen euch gerne, warum euer Weltbild grausam und menschenverachtend ist.“

Stadtrat Heiko Bär tritt aus SPD aus

Der Leipziger Stadtrat Heiko Bär ist überraschend aus der SPD ausgetreten. Darüber informierte der 44-Jährige bereits gestern in einer Mail an Medienvertreter/-innen. Trotz seines Parteiaustritts bleibt Bär Stadtratsmitglied der SPD-Fraktion.

Bär begründet seinen Austritt mit der „bedauerlichen Entwicklung“ der Leipziger und der sächsischen SPD, die seiner Wahrnehmung nach nur noch „einen kleinen Ausschnitt des sozialdemokratischen Spektrums“ abbilden würden. Insbesondere „Menschen der politischen Mitte“ könnten sich in der Leipziger und sächsischen SPD kaum noch wiederfinden. Sowohl die Parteibasis in Grünau als auch die SPD-Stadtratsfraktion nahm Bär explizit von seiner Kritik aus.

Bärs ausführliche Begründung für seinen Rücktritt lässt sich in einem Satz so zusammenfassen: Zu viel Ideologie, zu wenig Sachdebatten und Meinungsvielfalt. Wirklich konkret wird Bär mit seiner Kritik nicht, Namen nennt er auch keine. Parteimitglieder, die nicht „permanent hinter den Themen des aktuellen Zeitgeistes herlaufen“, sind in der hiesigen SPD zunehmend unerwünscht, so Bärs Eindruck.

Das habe einen engen ideologischen Korridor, eine verarmende Meinungsvielfalt und letztendlich die Abkehr vom Anspruch einer Volkspartei zur Folge. „Der Leipziger und sächsischen SPD scheint der Blick auf den Zusammenhalt der Gesellschaft mit ihren ganz unterschiedlichen, jeweils berechtigten Gruppeninteressen verloren gegangen“, schreibt Bär.

Bär kritisiert Wahlkampf der SPD bei OB-Wahlen 2020

Als Beispiel für die von ihm wahrgenommene Entwicklung nennt Bär einerseits das „Totlaufenlassen“ der Leipziger SPD-Arbeitsgemeinschaft für Selbständige und Unternehmer/-innen. Außerdem sieht Bär im letzten Leipziger OB-Wahlkampf Anfang 2020 ein Exempel für die Richtung, in die die SPD gehe. Damals hatte der sächsische Wissenschaftsminister Sebastian Gemkow (CDU) den langjährigen Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) erfolglos herausgefordert.

Bär macht das Verhalten der SPD während des Wahlkampfs mitverantwortlich für „eine deutliche Spaltung der Leipziger Stadtgesellschaft“. Sie habe Gemkow fälschlicherweise „in die rechte Ecke gestellt“ und somit „offenen Lagewahlkampf“ betrieben.

„Weder zuvor noch danach habe ich einen derart niederträchtigen und diffamierenden Wahlkampf aus nächster Nähe miterleben müssen“, lautet Bärs Fazit.

Ein weiteres Problem der SPD sei das Karrieredenken, kritisiert Bär. Innerparteiliche Netzwerke zwischen Mandatsträger/-innen seien in den letzten Jahren immer dominanter geworden, so Bärs Beobachtung. „Diese Kreise dienen zuvorderst dem eigenen Fort- und Einkommen aus politischer Tätigkeit.“

Heiko Bär sitzt seit 2009 im Leipziger Stadtrat. Von 2007 bis 2021 war er Vorsitzender des SPD-Ortsvereins in Leipzig-West. Laut eigener Aussage war Bär 27 Jahre lang Mitglied der SPD, bevor er im Oktober schließlich sein Parteibuch abgab.

Verdacht auf Tötung: Frauenleiche in Leipzig gefunden

Es ist der dritte ungewöhnliche Leichenfund in Leipzig innerhalb einer Woche: Nachdem am Montag zwei männliche Leichen jeweils im Elsterflutbecken und in einem Gebüsch am Pleißemühlgraben entdeckt wurden, meldete die Polizei heute den Fund einer Frauenleiche in einem Hotel in Sellerhausen-Stünz. Es bestehe „aufgrund der Auffindesituation“ der Anfangsverdacht eines Tötungsdelikts.

Die leblose Frau wurde bereits gestern Abend in dem Hotel aufgefunden. Neben Rettungskräften war die Kriminalpolizeiinspektion Leipzig und die Tatortgruppe des Landeskriminalamtes im Einsatz. Aufgrund der Umstände des Auffindens, die bisher von der Polizei nicht näher erläutert werden, hat die Staatsanwaltschaft Leipzig eine Obduktion des Leichnams angeordnet.

Anders als bei den zwei Anfang der Woche gefundenen Leichen geht die Polizei bei diesem Fall also von der Möglichkeit eines Gewaltverbrechens aus. Einer der verstorbenen Männer war laut Polizei ein 51-jähriger Mann mit iranischer Staatsangehörigkeit, der andere ein 50-jähriger Mann. Auf einen Zusammenhang beider Fälle soll nichts hindeuten.

Ermittlungsverfahren gegen Kardinal Woelki

Worüber die LZ heute berichtet hat: über die Ratsversammlung,

in der über zusätzliche 15 Millionen für den „Zoo der Zukunft“ abgestimmt wurden

und über die Diskussion und Statements zum Doppelhaushalt 2023/2024,

auch muss die Verwaltung künftig ausführlicher die Eilbedürftigkeit begründen

über einen gestutzten Fahrplan der Leipziger Verkehrsbetriebe aufgrund einer ungewöhnlich stark nachgefragten Betriebsversammlung, die Bände über den Zustand der LVB spricht

und Christian Wolff schreibt über den 9. November, der für ihn mehr als ein Gedenktag ist

Was heute außerdem wichtig war: Die Staatsanwaltschaft Köln hat ein Ermittlungsverfahren gegen den römisch-katholischen Kardinal Woelki eingeleitet. Ihm wird vorgeworfen, unter eidesstattlicher Versicherung falsch ausgesagt zu haben. Die Ermittlungen stehen im Kontext des Missbrauchsskandals in der Katholischen Kirche.

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