Wenn Christen das Wort โ€žLiebeโ€œ in den Mund nehmen, bewegen sie sich auf dรผnnem Eis. Denn kaum ist das Wort einladend oder mahnend ausgesprochen, kehrt es als Bumerang zurรผck: Wie steht es bei dir, der du anderen Liebe predigst, mit dem Gebot der Nรคchsten- und Feindesliebe? Und รผbt ein Christenmensch deutliche Kritik am Verhalten anderer, sieht er sich sofort mit der kritischen Rรผckfrage konfrontiert: Wie lรคsst sich mit der christlichen Liebe vereinbaren, das Verhalten anderer zu brandmarken oder zu verurteilen?

Insofern erweist sich der zentrale Begriff des Glaubens, die Liebe, als eine Gratwanderung. Das gilt auch fรผr die Jahreslosung, eine Art Leitwort fรผr 2024. Es ist ein Satz aus einem der Briefe, die der Apostel Paulus Mitte des 1. Jahrhunderts nach Christi Geburt an christliche Gemeinden in der griechischen Hafenstadt Korinth geschrieben hat:

Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe. (1. Korinther 16,14)

In diesem Satz ist fรผr mich das Wort โ€žAllesโ€œ das zunรคchst Wichtigste. Denn es schlieรŸt kein Geschehen aus, auch nicht die Kritik, den Streit. Alles, was wir erleben, gestalten, bewirken, soll sich am MaรŸstab der Liebe messen lassen. Das bedeutet aber auch: Liebe erschรถpft sich nicht darin, den Nรคchsten wertzuschรคtzen, zu mรถgen. Liebe schlieรŸt ein, sich mit anderen kritisch auseinanderzusetzen, dem Streit um Richtig und Falsch nicht aus dem Wege zu gehen.

Allerdings gilt es, das Lebensrecht und die Wรผrde dessen, dessen Denken und Handeln ich fรผr abwegig halte, zu achten, ihn nicht auf immer und ewig zu verdammen, auszugrenzen, mit Nichtbeachtung zu strafen. Die Dinge in Liebe geschehen zu lassen, ist also alles andere, als aus Bequemlichkeit und Konfliktscheue der Beliebigkeit Vorschub zu leisten.

Liebe bedarf einer Festigkeit in der eigenen Haltung und gleichzeitig der Erinnerung daran, dass wir Menschen uns immer nur dem annรคhern kรถnnen, was von uns erwartet wird, nรคmlich alles in Liebe geschehen zu lassen. In diesem Sinn bedarf die Liebe des freiheitlichen, offenen, demokratischen Miteinanders, der Einebnung der Hierarchien und der Einsicht in die eigene Fehlbarkeit.

In diesem Jahr stehen uns harte Auseinandersetzungen in der Gesellschaft bevor. Damit steht auch die Liebe auf dem Prรผfstand. Zum einen geht es um die Berรผcksichtigung der unterschiedlichen Interessen, deren jeweilige Durchsetzung sich dem MaรŸstab der Gerechtigkeit unterwerfen muss. Zum andern mรผssen wir in der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung denen sehr klar und entschieden entgegentreten, die unsere Gesellschaft โ€žbereinigenโ€œ wollen โ€“ von allem und allen Fremden, von Menschen, die angeblich keinen gleichberechtigten Platz in der Gesellschaft haben, die sehr unterschiedlichen Lebensentwรผrfen folgen.

Wir haben sehr deutlich denen zu widerstehen, die unterschiedliche Menschengruppen gegeneinander aufbringen, die Identitรคt nur dadurch stiften kรถnnen, dass andere herabgewรผrdigt und die eigene Gruppe, โ€žRasseโ€œ, Nation รผberhรถht werden.

Derzeit ist die AfD das Sammelbecken derer, die unsere Gesellschaft durch Ausgrenzung uniformieren wollen, dem Autokratismus frรถnen und dafรผr die demokratischen Grundrechte missbrauchen bzw. aushebeln wollen. Das allein ist aber nicht das Gefรคhrliche. Beunruhigend, ja alarmierend ist, dass sich der AfD vermehrt Menschen zuwenden, die sich nicht beachtet vorkommen, die das Gefรผhl haben, dass ihnen Liebe, Anerkennung, Wertschรคtzung verweigert werden.

Gleichzeitig haben sie den Eindruck, dass das Vermisste nur noch denen zukommt, die aus ihrer Sicht keinen Anspruch darauf haben. Die damit verbundenen ร„ngste machen sie nicht nur blind fรผr die Wertschรคtzung der eigenen Lebenssituation.

Sie blenden auch aus, dass konstitutiver Bestandteil der Ideologie der AfD die Zementierung ungerechter sozialer Verhรคltnisse, der Nationalismus mit imperialem Anspruch als Keimzelle von kriegerischer Gewaltbereitschaft nach innen und auรŸen, eine vรถlkische Harmonisierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens durch Herabwรผrdigung bestimmter Menschengruppen, kulturelle Einfalt und rassistischer Diskriminierung sind.

Dass eine solche Politik nichts von dem bewirkt, wonach sich Menschen sehnen, kรถnnen wir nicht nur beobachten in Polen (da hat der PIS-Schrecken Gott sei Dank ein Ende gefunden), Ungarn, Russland, Tรผrkei, USA (da ist eine Trump-Diktatur zu befรผrchten). Als Deutsche wissen wir aus der eigenen Geschichte, wohin eine Politik fรผhrt, die Liebe durch Hass konterkariert und sich nationalistisch und rassistisch รผber andere Menschen und Vรถlker erhebt: in einen mรถrderischen Faschismus.

Das wollen bis zu einem Drittel der Wรคhler/-innen in Kauf nehmen, um sich fรผr Liebesentzug zu rรคchen? Wollen wirklich รผber 30 Prozent der Wรคhler/-innen in Ostdeutschland die Errungenschaften der Friedlichen Revolution, eine weltoffene, tolerante, demokratische Gesellschaft, auf dem Altar des Rechtsnationalismus opfern?

Nein! In diesem Wahljahr mรผssen wir jede Zurรผckhaltung aufgeben, um auch die Wahlen in Liebe geschehen zu lassen. Es ist alles andere als gleichgรผltig oder beliebig, wem die Wรคhler/-innen ihre Stimme geben und wem sie diese verweigern. Darum mรผssen wir auf allen Ebenen, in der Nachbarschaft und im Hรถrsaal, auf der Kanzel und dem Katheder, in Konferenzen und auf Betriebsversammlungen, anlรคsslich von Vereinssitzungen und bei den Kleingรคrtnern eine Botschaft kommunizieren: Keine Stimme fรผr die AfD! Keine Stimme fรผr Neonazis!

Denn diese Partei zu wรคhlen, ist unvereinbar mit den Grundwerten der biblischen Botschaft und unserer Verfassung! Mit einer Wahl der AfD wird der Liebe der Boden entzogen und der gegenseitigen Verfeindung der Boden bereitet.

Gleichzeitig haben wir ins Bewusstsein zu rufen, dass sich in der demokratischen Gesellschaft Gott sei Dank und Tag fรผr Tag manifestiert, nicht alles, aber vieles in Liebe geschehen lassen zu kรถnnen. Davon ist unsere gesellschaftliche Wirklichkeit noch geprรคgt: der Schutz des beschรคdigten Lebens, der offene Diskurs รผber die richtigen Lรถsungen, die europรคische Friedenspolitik, die kulturelle Vielfalt, der immer noch vorhandene gesellschaftliche Zusammenhalt, das Engagement vieler Bรผrger/-innen fรผr den nahen und fernen Nรคchsten.

Unbestritten: Vieles davon steht auf der Kippe. Aber es ist nicht so, dass Liebe nur ein Wort ist. Liebe ist eine gesellschaftliche Realitรคt. Diese sollten wir nicht den Weidels, Hรถckes, Chrupallas zum FraรŸ vorlegen. Sie leben von der Glorifizierung derer, die den Hass predigen. Ihnen in Liebe zu begegnen heiรŸt, sie per Wahlzettel aus der politischen Verantwortung herauszuhalten bzw. abzuberufen.

Christian Wolff, geboren 1949 in Dรผsseldorf, war 1992โ€“2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjรคhriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater fรผr Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er engagiert sich in vielen Bereichen des รถffentlichen Lebens. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/

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Wo will der Autor seine gesalbten Texte noch publizieren wenn das Medium in 2025 seine Finanzierungsgrundlage verloren hat.

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