Die CDU will sich ein neues Grundsatzprogramm geben. Das ist an sich nicht besonders weltbewegend und ihr gutes Recht. Interessant wird die Sache dadurch, dass die CDU mit dem „C“ in ihrem Namen Inhalte in Anspruch nimmt, durch die sich vor allem christliche Religionsgemeinschaften wie die Kirchen auszeichnen. Dass sich die CDU dieser Inanspruchnahme bewusst bedient (was auch ihr gutes Recht ist), wurde auf der Pressekonferenz der CDU am vergangenen Montag deutlich.

Diese Pressekonferenz eröffnete der Generalsekretär der CDU, Carsten Linnemann, mit bemerkenswerten Sätzen:

Die Menschen brauchen Halt und Orientierung und dafür braucht es eine Partei wie die CDU, die das geben kann. Wir haben unser Wertefundament erneuert, bekräftigt und es steht und fällt mit dem christlichen Menschenbild. Das ist unsere Richtschnur für die Politik, die wir machen.

Was für eine Aussage: Das Wertefundament der CDU steht und fällt mit dem christlichen Menschenbild! Was aber zeichnet dieses christliche Menschenbild aus? Linnemann leitete auf der Pressekonferenz aus ihm vier Konkretisierungen ab:

Wir gehen 1. vom Individuum aus, nicht vom Kollektiv, immer vom einzelnen Menschen, nie von oben herab. … 2. Wir wissen, dass wir nicht die letzte Wahrheit kennen. Politik muss immer in Demut arbeiten. … 3. Solidarität und Subsidiarität. Wir gehen von Eigenständigkeit des Einzelnen aus. … 4. Zuversicht, Aufbruch und Erneuerung. Wir vertrauen den Menschen. Wir nehmen die Menschen, so wie sie sind. Wir wollen sie nicht verändern.

Darin soll sich das christliche, das biblische Menschenbild erschöpfen? So richtig es ist, dass sich mit dem biblischen Menschenbild ein Wahrheits- und Absolutheitsanspruch des Glaubens nicht verträgt, so banal wirkt es, Solidarität, Subsidiarität, Zuversicht, Aufbruch und Erneuerung quasi als Alleinstellungsmerkmale des christlichen Menschenbildes für sich zu reklamieren.

Warum aber kommen die drei entscheidenden biblischen Grundzüge eines christlichen Menschenbildes im Grundsatzprogramm nicht vor? Die da wären:

  • Jeder Mensch (Betonung liegt auf „jeder“) ist ein Geschöpf Gottes und mit Recht und Würde gesegnet ist. Das schlägt sich in Artikel 1 des Grundgesetzes nieder: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Das biblische Menschenbild ist universal und nur interreligiös zu verstehen. Es verträgt sich mit keiner Form von Nationalismus und Rassismus.
  • Jeder Mensch ist fehlbar und darum der Vergebung und der Barmherzigkeit bedürftig. Das ist eine der Wurzeln von Rechtsstaatlichkeit und Resozialisierung.
  • Das Leben eines jeden Menschen ist endlich. Die Endlichkeit, Vergänglichkeit des Menschen hat seine Ursache auch in seiner Fehlbarkeit. Aus beidem gibt es nur den einen Ausweg: die Hoffnung auf Gottes neue Welt. Der Versuch der Selbsterlösung ist zum Scheitern verurteilt.

Wenn sich eine Partei auf das christliche Menschenbild beruft, dann muss sie zum einen dieses Bild erst einmal richtig darstellen. Zum andern muss sie sich selbstkritisch fragen, ob ihre politische Grundausrichtung diesem Menschenbild entspricht. Da sind Zweifel angebracht.

Im Verlauf der Pressekonferenz kam auch Mario Voigt, CDU-Vorsitzender in Thüringen, zu Wort. Er führte aus: „Leitmotiv für unsere Asylpolitik sind Humanität und Ordnung … Wir sind ein weltoffenes und gastfreundliches Land. Gastfreundschaft heißt aber nicht, die Tür aushängen, sondern Gastfreundschaft bedeutet, selbst darüber zu bestimmen, wer und wie viele in unsere Wohnung kommen.“ Fällt jemandem etwas auf? Genau wie Mario Voigt dachten auch die Gastwirte in Bethlehem vor 2000 Jahren, als die schwangere Maria und ihr Partner Joseph keinen Raum in der Herberge fanden.

Da wurden weder Türen geöffnet noch „ausgehängt“. Da bestimmten die Wirte, „wer und wie viele in unsere Wohnung kommen“. Für Maria und Joseph war jedenfalls kein Platz. Gastfreundschaft im biblischen Sinn bezieht sich aber meist auf die Fremden und Ausgestoßenen. In ihre Häuser kehrt Jesus ein, sie lädt er an seinen Tisch. So gesehen ist Gastfreundschaft der Lackmustest des Glaubens. Im Blick auf die CDU droht ihr Wertefundament eher zu fallen als zu stehen.

Wie wäre es also, wenn die CDU das christliche Menschenbild nicht dazu benutzt, um ihre politischen Vorstellungen mit höheren Weihen („Richtschnur“) zu versehen, sondern als einen, ihr nicht allein verfügbaren, kritischen Maßstab für das eigene Tun und Lassen einzusetzen? Dann würden auch alle, für die das christliche Menschenbild Grundlage ihrer Lebensgestaltung ist, die aber wenig Sympathie für die CDU hegen, davor bewahrt, ihre Überzeugung durch eine politische Partei vereinnahmt zu sehen.

Im Januar 2022 habe ich vor Stipendiaten der Konrad-Adenauer-Siftung an der LMU München einen Vortrag über das christliche Menschenbild gehalten.

Christian Wolff, geboren 1949 in Düsseldorf, war 1992–2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjähriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater für Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er engagiert sich in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/

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